In: Einführung in die Ästhetik. In: Paragrana Bd. 4, H. 32, Berlin 1995, S. 240254. Hartmut Böhme Einführung in die ÄsthetikA. Exempla docent: 1984 London in der Umgebung der Portobello-Road: in den ebenso grotesken wie würdigen Gesten von Flamingos und Pfauen posieren phantastische Punks. Touristen fotografieren. Mit derselben coolen Theatralität, mit der sie sich in Sichtfeldern und Objektiven exhibitionieren, kassieren sie die Nikon-bewaffneten Touristen für die Fotos ab. Es liegt Drohung in der Luft. Alle zahlen. Die Punks räkeln sich, zigarettendrehend, wieder auf Mauervorsprüngen und Bänken, nun mit der Langsamkeit gefangener Raubkatzen im Zoo. Man zahlt für Eintritt und Fototrophäen. Vor einigen Jahren brach die Punk-Ästhetik des Widerstands in den hoffnungslosen suburbs verfallener Industriestädte Großbritanniens auf. Punk war und trug die Zeichen einer aggressiven Provokation der Kultur. Diese jedoch hatte unterdessen die Gegenkultur zu einer ihrer Provinzen gemacht - im universalen Sog medialer und ökonomischer Verwertung, an der die hochgezüchteten Kleindarsteller des Punk gewissermaßen kleinbetrieblich partizipierten. Dies hier war ihr Arbeitsort, nicht ihr Quartier. Als gegen Abend die Touristen weniger werden, treten sie von der Bühne ab und verschwinden in Discos, wo im hartwelligen Sound von U.K.Subs jeder Zuschauer und Darsteller zugleich ist. - Es ist dies eine genuin ästhetische Situation. 1989 in der gewaltigen Ruine der Kirche San Gagano Toskana. Ortschaften kilometerweit entfernt. Es ist Abend. Völlige Stille. Mitten im steinernen Gerüst der Kirche gehen wir über einen Teppich aus Gras. Durch die leeren gotischen Bögen erscheinen die Ausschnitte der waldigen Landschaft. Den Strebepfeilern folgend wird der Blick nicht von Spitzgewölben aufgefangen, sondern schießt unmittelbar in den leeren Himmel. Später erscheinen dort ebenso nah wie ferngerückt Sterne. Wir sind hier, weil dies der Drehort einer Szene von Andrej Tarkowskij's Film "Nostalgia" war. In der Kirchenruine erschien visionär das Erinnerungsbild der verlorenen Heimat des russischen Protagonisten: sein Haus in sanfter Mulde, einzelne Bäume, ansteigender Wald, ein kleiner Teich, an dessen Ufer Andrej lagert, die Hand im Fell jenes Hundes, der auf allen Zeitebenen des Films wiederkehrt als kreatürliches Zeichen einer zärtlichen Nähe, die niemals mehr erreichbar ist. Es ist ein Bild im Bild, das Bilder zitiert, wie wir, die wir jetzt in der Ruine stehen, wissen: das Gemälde etwa der Klosterruine Eldena bei Greifswald von Caspar David Friedrich, auf welchem man, geduckt zwischen die strebende, nun ruinierte gotische Säulenarchitektur, eine armselige Bauernhütte erblickt. Alles nun, in San Gagano, wird zu memorialen Bildern, zu Überblendungen der Seh-Gegenwart durch Erinnerungen eigener und fremder Geschichte, uneinholbar wie der einst integre Zustand der Ruine, über der sich, wie wir nun begreifen, der leere Himmel "transzendentaler Obdachlosigkeit" wölbt, von dem Lukàcs 1914 sprach und den der exilierte Tarkowskij hier, in San Gagano, nicht fand, sondern inszenierte. - Es ist dies eine genuin ästhetische Situation. 1994 besuche ich, in der Rolle als Kunst-Tourist, das lightning field von Walter de Maria in der Wüste von Arizona. 100 Meilen entfernt von der nächsten Stadt. In einem Rechteck von 1 KM mal 1 Meile sind in absoluter Regelmäßigkeit vierhundert, 8cm dicke, zwischen 5 und 8 Metern hohe, polierte Edelstahl-Speere so angeordnet, daß, würde man eine riesige Glasplatte auf ihre pfleilscharf zulaufenden Spitzen plazieren, diese absolut waagerecht liegen und von allen 400 Pilonen getragen werden würde. Man muß an diesem Ort 24 Stunden bleiben, ohne Verbindung zur Welt. In einer Entfernung von 20 bis 50 Meilen bilden flache, leicht wellige Hügel- und Gebirgszüge überwiegend vulkanischer Provenienz den 360-Grad-Horizont. Außer den Stahl-Stäben und Jet-Streifen in Ost-West-Richtung gibt es kein sichtbares Zeichen von Zivilisation. Einen Tag und eine Nacht hat man nichts als das Spiel des Lichtes und des ungeheuer dunklen, niemals schwarzen Nachthimmels auf den Stäben. Wer Glück hat, erlebt eines der absoluten Gewitter dieser Gegend. Niemals zuvor habe ich Gelegenheit gefunden, mich derart in die Phänomene des Lichtes zu vertiefen. Irgendwann beginne ich mich mit dem harten Wüstengesträuch auf der Erde zu beschäftigen. Es sind überall Spuren vom Leben kleiner Tiere. Im gesamten Gelände fallen, unregelmäßig verteilt, kreisrund sandige Flächen von etwa 1,50 m Durchmesser auf. Sie sind völlig plan, frei von jedem Steinchen, jedem Pflanzenrest, eingekreist von flachem borstigem Gesträuch. In der Mitte erheben sich kleine, regelmäßige Kegel. Es sind Termitenhügel. Sie alle sind vom Mittelpunkt des Kreises um einige Zentimeter in Richtung des Sonnenunterganges versetzt. Genau gegenüber im Osten liegt der Eingang zum Bau. Morgens um sechs Uhr hört man in der Ferne ringsum das Geheul der Koyoten. Es ist altes Indianer-Land. - Auch dies ist eine genuin ästhetische Situation. Natürlich habe ich mit Bedacht nicht Beispiele an den Anfang gestellt, die für gewöhnlich mit 'ästhetischer Situation' verbunden werden: man liest einen Roman, man betrachtet im Museum ein Bild, man hört ein philharmonisches Konzert. Es geht nicht eigentlich, jedenfalls nicht nur um den Genuß von Kunstwerken oder gar um deren Beurteilung. Es sind touristische Szenerien - und die Reisenden, von alters her sind sie die Voyeure par excellance, die Neugierigen, getrieben von unbekannten Motiven nach Unbekanntem, das nicht nur die Welt in neuem Licht erscheinen läßt, sondern auch sie selbst. In den Fahrten anders wohin geht es ebenso um Welt- wie Selbsterschließung, niemals nur um Erweiterung von Kenntnissen, sondern vorrangig um Erfahrungen, die mit Haut und Haar gemacht sein wollen. Es geht um sinnliche Erkenntnis mithin - womit wir bei der historisch ersten Definition der Ästhetik angelangt sind, die man gewöhnlich mit Alexander Gottlieb Baumgartens "Aesthetica" von 1750 beginnen läßt. "Ästethik", so sagt er, "ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis" (§ 1). Baumgarten wollte damit eine der Kunst analoge, doch der Vernunft dienende Disziplin begründen, welche die unteren, von Natur aus dunklen und verworrenen Erkenntnisvermögen in "sichere Führung" (§ 12) nimmt, durch Übung kultiviert, zu einer Lehre konsolidiert und schließlich zur Wahrheit führt. Auch wenn die ästhetischen Verhältnisse weitaus komplizierter liegen, wollen wir diesen Anfang bei Baumgarten nicht diskreditieren. Er ist im Gegenteil darin hoch zu schätzen, daß hier zwar nicht das Was und das Wozu, nicht Objekt und Ziel der Ästhetik, wohl aber deren Modus charakteristisch bestimmt ist: der Modus des Ästhetischen ist das Sinnliche. Diesem aber eignet ein stetes Begehren, ein unstillbarer Hunger, eine unseßhafte Unruhe, die jene "sichere Führung" tatsächlich weder kennt noch will, sondern ihrer nur aus der Sicht stabiler Ordnungen und klarer Verhältnisse bedarf. Daß diese im Ästhetischen nicht bestehen und daß gerade darin seine Chance liegt, die derjenigen des Reisenden ähnlich ist: nämlich Neues, Anderes und Unverhofftes erfahrbar zu machen - das will ich noch zeigen. Vorerst soll ein analytischer Blick auf die drei beschriebenen ästhetischen Situationen demonstrieren, daß diese auch in der Bestimmung als 'sinnlicher Erkenntnismodus' nicht aufgehen. Die London-Szene zeigt, daß das Ästhetische in einem sozialen Raum stattfindet. Die theatralen Punks vermarkten ästhetische Attitüden, die aus dem Alltagsleben marginalisierter Jugendlicher hervorgegangen sind und zu derem gegenkulturellen Handlungs-Repertoire gehören. Im Mittelpunkt steht der Körper, nicht ein irgendwie natürlicher, sondern ein provozierter und provozierender Körper, der extrem durchstilisiert ist. Sich diesen Körper zu machen und sich zu diesem Körper zu machen, ihn mit schrillen Distinktionsmerkmalen zu versehen, ihn in durchaus künstliche Rituale der Selbstinszenierung zu setzen, die durchweg den moralischen wie ästhetischen Standards der Mehrheitskultur widersprechen - das schafft sinnliche Formen eines überpersönlichen Gruppen-Ich, das zum Medium der Integration in einen Clan wird und darin negativ bezogen ist auf die unmögliche und darum vehement abgelehnte soziale Anpassung. - In der genannten Szene führen Punks hypertrophierte Images ihrer selbst vor, die kaum etwas vom differenzierten Set ihrer Kultur zu erkennen geben, wohl aber bestimmte Schauseiten ästhetisieren und dadurch eine Tauschinteraktion ermöglichen: Foto gegen Geld. Zwischen den Punks und den Touristen verläuft ein intrakulturelles Schisma, das die ersteren strategisch nutzen - und sich dabei des dominanten Mechanismus ihrer Gegenseite bedienen: ohne Geld läuft nichts. Die Touristen ihrerseits wollen etwas erleben, sind auf Besonderes aus, wofür das seinerseits ästhetische Medium, die Kamera, zeugt. Touristen sind Bild-Räuber, die hier ein Objekt ihrer Begierde gefunden haben: immer meinen sie, ein Anrecht auf zoll- und kostenfreie Erlebnisse und vorzeigbare Memorial-Trophäen zu haben; und immer machen sie die Erfahrung, daß sie für alles bezahlen müssen. Auf die Punks sehen sie wie auf unbekannte Stämme, die fremd und befremdend im Inneren ihrer Kultur, aus ihren eigenen Kindern, erwachsen sind. Wie die Punks den Mechanismus nutzen, der so alt ist wie die Kultur selbst, nämlich den Körper zur Einschreibefläche distinktiver Ästhetiken zu machen, so agieren die Touristen im ebenfalls uralten Schema des Exotismus. So entsteht über Zäune hinweg eine hochritualisierte ästhetische Komunikation im Medium des Geldes und einer latenten Atmosphäre von Angst. Beide Seiten nämlich haben die Bilder brennender Vorstädte und gewaltsamer Straßenkämpfe im Kopf und ohne eine taktisch inszenierte Assoziation daran würden die Touristen nicht zahlen. Nicht nur Fotos, auch einen attraktiven Schauder tauschen sie dafür ein. Ästhetik ist nun die Position, die eine solche Situation beobachten läßt. Keineswegs ohne Interesse, wie Kant meinte, wohl aber aus mittlerer Distanz, die Kant auch im Sinn hatte, geht es um den sinnlichen Mitvollzug der gegenwärtigen Situation nach ihren beiden Seiten hin, der Punks sowohl wie der Touristen. Der ästhetische Blick bleibt dabei keineswegs nur auf die erscheinenden Zeichen und die theatrale Szene beschränkt. Sondern das Ästhetische besteht gerade darin, das Erscheinende nicht nur in einer Art imaginärer Mimesis mitzuvollziehen, sondern auch zu entziffern. Das Ästhetische und das Hermeneutische gehören zusammen, ja konvergieren. In einer Vielzahl, ja, vielleicht in allen Situationen emergiert der soziale Sinn im ästhetischen Schein wie dieser umgekehrt jenen erst codiert. Man kann den sozialen Sinn vom Ästhetischen nur ablösen um den Preis, ihn zu bloßer Information zu mortifizieren. Das wäre Soziologie. Der Ästhetiker dagegen ist Vivisekteur. Das macht seine Fragwürdigkeit aus und seinen Vorteil. Immer ist er beim Besonderen, hält bei ihm inne und ist doch niemals ganz dabei. Er ist notwendig präsent und doch der Gegenwart eigentümlich entzogen. Er ist dichter an den Phänomenen als die Wissenschaftler, weswegen all sein Erkennen die Züge seiner Subjektivität trägt (was er nicht verleugnet, sondern reflektiert). Und doch ist er gegenüber den involviert Handelnden nur ein nachfolgender Schatten. Darum folgt sein Erkennen immer nur ihrer Spur (so daß seine hermeneutische Entzifferung unselbständig und nachhängend ist). So aber erschließt sich ihm, dem Vampir und Trophäenjäger zweiter Ordnung, der im ästhetischen Medium eingeschlossene soziale Sinn. An seinem Zustandekommen sind nicht nur die unteren sinnlichen Vermögen beteilgt. Sondern neben diesen koagieren eine lang entwickelte Kultur des Wahrnehmens, das Wissen um außerästhetische Kontextbedingungen, die im Ästhetischen stets, wenn auch vermittelt präsent sind, und die Reflexion, die im Sinne Kants zum Besonderen das Allgemeine findet, also nicht bestimmende, sondern reflektierende Urteilskraft ist. Die Situation in San Gagano ist anderer Art. Sie ist von Beginn an artifiziell provoziert und dient dem Ineinanderschichten von sinnlicher Erfahrung und Denkbildern, von Erinnerung und Gegenwart, von Natur und Kunst. Und sie dient dem Überblenden verschiedener Medien im einzigartig multimedialen Organ, der Imagination, hier also von gesehenem Bild, Film und Gemälden. Dadurch entsteht eine Atmosphäre, die dem Ästhetischen ebenso günstig ist wie die Lust, nämlich die Melancholie, die auch das Thema des Films "Nostalgia" ist. Was sich in der Situation zeigt, ist ein Erfahren dessen, was doch als Form der Erfahrung dieser allererst voranzugehen scheint: nämlich Zeit. Hier insbesondere Zeit im Modus des Verlorenen und Unwiederholbaren, das dennoch in den Zeichen des Verfalls und im Modus des Erinnerns gegenwärtig ist. Keine ästhetische Stimmung ist der Reflexion so nah wie die Melancholie. Das unterscheidet sie von der Depression, die zur Kunst nicht weniger unfähig ist als satte Zufriedenheit. Ferner lehrt das melancholische Denkbild der Ruine von San Gagano, daß es eine ästhetische Nullpunkt-Situation nicht gibt. Eine solche scheint Kant anzustreben, wenn er das ästhetische Urteil an Interesselosigkeit, Allgemeingültigkeit, Zweckmäßigkeit und Übersubjektivität bindet. Vielmehr sehen wir, daß im wahrnehmenden Subjekt eine komplexe intermediale, intertextuelle und historische wie biographische Vermittlung stattfindet, welche es in der Ästetik nicht zu reinigen, sondern zu entziffern gilt. Das geschieht hier in einer inszenatorischen Ritualität, die durchaus ein Grundmerkmal des Ästhetischen darstellt. Das ästhetische Ritual hat (außer im Konzert, im Theater etc.) kein festes Schema. Es stellt die jeweils vom Wahrnehmenden eigenaktiv erzeugte Form dar, den Wahrnehmungsprozeß zu initiieren und den Ton, den Tonus der Situation zu treffen. Der Ton dieser Situation wird durch die Melancholie gebildet. Als ästhetischer Modus ist sie der Ritus sich versenkender und dabei im Geflecht der Zeiten sich verzweigender Reflexion. So wird die Ruine zur Szene von Zeiterfahrung und schließlich zum Denkbild einer geschichtsphilosophischen Lage, nämlich der in glaubensloser Andacht betrauerten Obdachlosigkeit der Moderne. Auch hier konvergiert Ästhetik und Hermeneutik, nicht in der präsenten Erschlossenheit eines sozialen Sinns, sondern geschichtsphilosophischer Trauer. Das lightning field in Arizona schließlich ist ein Raum, zu dem zu gelangen bereits erfordert, sich der urbanen Lebenswelt zu entäußern und bestimmte Annäherungsriten zu durchlaufen, die auf die exerzitienhafte Stille und Abgeschiedenheit vorbereiten. Man gerät an einen seltsam sinn- und zwecklosen Ort, der den Betrachter in eine befremdliche Konzentration auf sich selbst und die Phänomene entrückt. Dabei enthält die Spannung von Künstlichkeit, die sich im Kalkül der Stahl-Pilonen artikuliert, und menschenleerer Natur einen ungelösten Gegensatz, der das Artifizielle und Naturhafte, das Intentionale und das Unwillkürliche, das Machen und Empfangen, Techné und Physis ebenso scharf miteinander konfrontiert wie in eine intensive Kopräsenz versetzt. Diese höchst einfache Landschaft belebt sich im langsamen Abschreiten, Schauen, Nachsinnen, im Spüren der kleinsten Differenzen des Lichtes und des Geländes, im sukzessiven Begreifen der ästhetischen Konstruktion des Feldes. So wird die Landschaft zum Schauplatz des uralten Gegensatzes von Natur und Kunst, mit dem das griechische Philosophieren anhob, gerade um diesen Gegensatz aufzuheben. Tatsächlich ergeben sich zwischen der Regelmäßigkeit der Pilonen und der Regelmäßigkeit der Termitenbauten ästhetische Korrespondenzen, ebenso zwischen der Ost-West-Richtung der Jet-Streifen und der gleichen achsialen Ausrichtung der Termitenhügel. Deren naturhafte Anordnung in regelmäßigem Kreis entspricht der kalkulierten Plazierung des lightning fields im 360-Grad-Horizont. Die Kegelform der Termitenbauten korrespondiert den vulkanischen Kegeln. Im Lauf der Anwesenheit tritt die blitzende Künstlichkeit des stählernen Kunstgebildes immer mehr zurück und gibt Assoziationen an die versunkene Welt der indianischen Kulturen Raum: plötzlich verwandelt sich die regelmäßige Form der Pilonen in kultische, fetischhafte Konfigurationen der indianischen Religion. Die dem Licht antwortenden Stäbe werden zu Reflektoren kosmischer Energien, zu einem Altar einer unbekannten luministischen Religion. Die kontemplative Stille der Wüste assoziiert alte Traditionen weltabgekehrter Anachoreten. Dann plötzlich erinnert man, daß dieses absolut geometrische Feld in Korrespondenz steht zu der gewaltigen, auf 38 Meilen erstreckten Konstruktion der nationalen Großanlage für Radioastronomie hinter dem letzten Hügelzug im Westen. Doch diese Wüste hier unterhält auch stumme Beziehungen zu jener Wüste, die man über die west-östliche Achse erreicht: die Wüste der ersten Atombombenversuche der USA. Die längst erloschenen Krater werden zu Erinnerungszeichen einer Naturgeschichte, als in gewaltigen Explosionen das Gesicht der Erde zerrissen wurde - in Korrespondenz tretend zu den Atom-Explosionen in der noch heute unbetretbaren Wüste des Südwestens. Nicht nur in Relation zur zerstörten indianischen Kultur sondern auch der zerstörten Natur tritt das lightning field, das seinen Namen hat nach den Zeichen jener blitzhaft präsenten kosmischen Energie, in der die Indianer das Göttliche nah wußten und das nun zum ästhetischen Ereignis hier und zum technischen gemachten Atom-Blitz dort wurde. Immer mehr Geschichtliches wird präsent. Im Verhältnis zu den Zeichen des Kosmos und seiner technischen Herausforderung werden die winzigen Spuren des in der Wüste unverwüstlichen Lebens zum Emblem: das Regelhafte der Termitenbauten tritt als sollertia naturae kontrastiv zur technischen Kunst der modernen Zivilisation. Als Thema des Ästhetik zeigt sich nun die ungelöste Spannung zwischen Natur und Geschichte, Erdzeit und Menschenzeit, die jene zu vernichten droht. Ich beschließe die Analyse der drei Beispiele. In sechs weiterführenden Thesen fasse ich das Ergebnis zusammen: 1. Ästhetik als bloße Theorie des Kunstwerks wäre eine heute nicht mehr vertretbare Reduktion des ästhetischen Phänomens. Dieses umfaßt potentiell jedes Moment des Alltags, der Gesellschaft, der Kunst und der Natur. Ästhetik wäre damit Theorie und Analyse des Ästhetischen von Alltag, Gesellschaft, Kunst und Natur. 2. Ästhetik als Modus sinnlicher Erkenntnis wäre ebenfalls unterbestimmt. Die Sinne als solche sind stumpf. Man sieht nicht, was man sieht; man hört nicht, was man hört. Die Analyse komplexer ästhetischer Situationen verdeutlicht, daß das ästhetische Phänomen in einem ebenso flüssigen wie integrativen Prozeß von Wahrnmehmungsakten und Reflexion, von Wissen und Erinnern, von Imagination und Assoziation, von gespürten Atmosphären und analytischen Einsichten, von projektiven Entäußerungen und introjektiven Verinnerlichungen sich allererst konstituiert. Ästhetische Erkenntnis will in diesem Fluß und Gemenge keine Hierarchie und keine Zensur. Das heißt auch: Ästhetik steht nicht in der Führung durch sittliche oder theoretische Vernunft. 3. Ästhetik als Prozeß ist gleichwohl nicht unstrukturiert und nicht willkürlich. Der ästhetische Prozeß setzt extrem lange Übung und hingebungsvolle Arbeit auf der Grundlage der Geschichte ästhetischer Kulturen und Kultivierungen voraus. Dieses persönliche Exerzitium und diese kulturelle Arbeit sind im ästhetischen Akt präsent: sie bilden ein besonderes Vermögen, das ich als 'Aufmerksamkeit' bezeichnen möchte. Aufmerksamkeit ist die Simultaneität oder das ständige Fluktuieren von Geistesgegenwart und Sinnenbewußtsein. Diese 'Aufmerksamkeit' ist die erste und höchste ästhetische Qualität, die ich darum als transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Ästhetischen bezeichnen möchte. Sie gilt für den Produzenten wie Rezipienten gleichermaßen. 4. Der ästhetische Prozeß beginnt extrem offen und kristallisiert über ununterbrochene Versuche, Variationen, Filterungen, Selektionen - dem hermeneutischen Zirkel nicht unähnlich - allmählich ästhetische Gestalten aus, sei's solche der Kunst oder der Erkenntnis. Die Lust, die der ästhetische Prozeß bereitet, besteht, wie Kant richtig beobachtet, nicht in der sinnlichen Affektation durch ein Objekt, sondern in der besonderen Animation, in die das Subjekt durch den verlebendigen Aufruf aller seiner Vermögen versetzt wird. Darum ist das Ästhetische der Modus, im Zustand äußerster Komplexität sich dennoch äußerst lebendig zu spüren. Ästhetik vitalisiert unsere Vermögen. 5. Von daher ergibt sich ein entscheidender Unterschied zwischen 'ästhetischer Situation' und 'Ästhetik'. In einer ästhetischen Situation mag man gebannt, gefangen, fasziniert, bewußtlos, hingerissen, begeistert (und mithin auch animiert) sein; Ästhetik ist dagegen Bewußtheit und Reflexion dieses Banns ohne Verlust und Preisgabe desselben. 6. Kunstwerke an sich und für sich sind nicht weniger tot als Steine - so wie Steine im ästhetischen Prozeß nicht weniger lebendig sind als Kunstwerke oder Tiere. Das liegt daran, daß der ästhetische Raum nicht Subjekt und Objekt scheidet und folglich auch einen Objektraum nicht nach organisch - anorganisch, künstlich - natürlich, tot - lebendig usw. aufteilt. Der ästhetische Prozeß realisiert Atmosphären, die von Leblosem genauso wie von Lebendem, von Technischem wie von Natürlichem, von Menschlichem wie Nicht-Menschlichem gebildet werden. Und das Ästhetische realisiert Bedeutungen, die nicht an Rede und intentional hervorgebrachte Zeichen gebunden sind, sondern jedem und allem zukommen können. Im Ästhetischen hat alles "Sprach und Zung'" (Jocob Böhme). Das heißt: im Ästhetischen gibt es nicht die Unterscheidung einer Welt der Zeichen von einer zeichenlosen Welt. Sondern das Ästhetische besteht gerade darin, daß alles Zeichen ist; auch das Ausdruckslose findet Ausdruck, das Stumme hat Stimme, das Nicht-Signifikative ist signifikant, das Bedeutungslose manifestiert sich, selbst das Nichts ist wesenhaft. Dieses restlos von Zeichen Erfülltsein, diese überbordende Semiosis macht die zweite Schicht der Vitalität des Ästhetischen aus und ist der Grund für die hermeneutische Endlosigkeit des ästhetischen Prozesses.
B. Zur gegenwärtigen Lage der Ästhetik Ich beginne mit Trivialitäten: Bevor es Ästhetik als philosophische Disziplin gab, gab es Kunst. - Bevor es Kunst gab, gab es das Schöne und das Erhabene. - Bevor es das Schöne und Erhabene gab, gab es Religion und Gesellschaft. - Bevor es Religion und Gesellschaft gab, gab es Natur. Die simple Satzreihe sagt etwas über die Extension und die historische Position der Ästhetik. Kunst ist älter als Ästhetik; das Schöne und das Erhabene sind älter und umfassender als die Kunst. Religion und Gesellschaft sind älter und umfassender als das Schöne und Erhabene. Natur ist älter und umfassender als Religion und Gesellschaft. Auf der zeitlichen Achse ist Ästhetik ein spätes Erzeugnis. Doch wie das Jüngste noch das Älteste in sich aufnehmen kann, so ist die Ästhetik genau der Modus, alle diejenigen Dimensionen zu integrieren, die ihr historisch wie systematisch vorausgehen. Das kennzeichnet die Ästhetik in ihrer reflexiven, rekurrenten und vermittelnden Struktur. Daraus ließe sich die Definition ableiten: Ästhetik ist die Reflexion des Schönen und Erhabenen in den verschiedenen Epochen von Gesellschaft und Religion im Rahmen von Naturgeschichte. Diese Bestimmung ist zwar nicht ganz trivial, doch teils unbefriedigend, teils uneingelöst. Als bloße Reflexion wäre Ästhetik unterbestimmt, insofern sie als Aisthesis ein Wahrnehmen, 'hinhörendes' Vernehmen, spürendes Mitvollziehen, Fortgerissensein in der Zeit ist (M. Riedel). Philosophische Ästhetik ist zumeist die Stillstellung dieses 'Fortrisses'. Mit dem Schönen und Erhabenen, wie sie zwischen Edmund Burke bis Hegel als die zwei erschöpfenden Modi des Ästhetischen ausgarbeitet wurden, folgt man einer historischen, in der Hauptsache klassizistischen Bestimmung des Ästhetischen, die seinem typologischen Spektrum nicht entspricht. Das Schöne ist das Harmonische, das Erhabene ist die Grenzbestimmung des Ästhetischen, wo es in nackte Angst und baren Schrecken umzuschlagen droht. Schon William Gilpin führte das Pittoreske als dritten ästhetischen Modus ein. Doch das Witzige, das Lächerliche, das Groteske, das Karnevalistische, das Absurde, das Obszöne, das Ironische fügen sich dem dualen Schema ebenfalls nicht. Nimmt man das Schöne und Erhabene als Atmosphären, so zeigen sich weitere Defizite dieser dualen Bestimmung, da sich dann die Angst und der Schrecken als charakteristisch ästhetische Atmosphären erweisen, ebenso wie das Melancholische, das Traurige, das Heitere, das Dumpfe, das Ekstatische etc. Abgesehen davon könnten mit dem Schönen und Erhabenen all die Momente negativer Ästhetik, die Karl Rosenkranz mit der "Ästhetik des Häßlichen" (1853) immerhin im Blick hatte, also etwa das Ekelhafte, Abstoßende, Widerwärtige oder das Widersprüchliche, Schrille, Schockhafte, Wüste, Anstößige, nicht erfaßt werden. - Was nun die Ästhetik in den Epochen der Religion und Gesellschaft angeht, hat die normative Auszeichnung autonomer Kunst im Prozeß der Säkularisierung dazu geführt, daß man nicht nur den genuinen Zusammenhang religiöser und ästhetischer Formen verkannt hat. Sondern aufgrund einer sowohl euro- wie logozentristischen Geschichtsphilosophie war es unmöglich, die Ästhetik im Kontext ethnischer und kultureller Heterogenitäten strukturell zu pluralisieren. Es gibt keine Ästhetik, sondern nur Ästhetiken. Sie sind nicht in eine evolutionäre Reihe zu bringen oder auf ein - womöglich europäisches - Zentrum hin zu ordnen. - Schließlich sind wir weit davon entfernt, Kultur- und damit auch Kunstgeschichte im Kontext von Naturgeschichte zu situieren. Das hat mindestens drei fatale Folge gehabt: die Material- und Stoff-Frage wurde bis heute fast nur unter der Suprematie der Form zugelassen wurde; zweitens blieb die Dimension des Leibes in der Ästhetik extrem unterbelichtet; und schließlich konnte trotz der Bemühungen von Adorno bis Martin Seel die ästhetische Theorie sich bis heute nicht befreien von der Hegelschen Umkehrung in der Gewichtung von Kunst- und Naturschönem, wie sie für Kant noch selbstverständlich war: Kant plazierte Naturästhetik vor die Kunst; seit Hegel ist dieses Verhältnis umgekehrt. Eine andere, ebenfalls schamlos simple Satzreihe soll Anlaß sein, die Defizite und Aufgaben gegenwärtiger Ästhetik aufzuzeigten. - Im 18. Jahrhundert begann Ästhetik als Theorie sinnlicher Erkenntnis. Kant transformierte sie in eine Theorie der Urteilskraft über Schönes und Erhabenes in Natur und Kunst. Bei Schiller und in der Romantik wurde Ästhetik geschichtsphilosophisch extrem überlastet, wenn sie als das utopische Reich der Freiheit am Ende der Geschichte figurierte. Unter Hegels Einfluß wurde die Ästhetik verengt auf die Theorie des Kunstwerks und seiner historisch epochalen Typologie im Verhältnis zu dem darin sich vermittelnden absoluten, radikal anästhetischen Geist. Seit der Akademisierung der kunstbezogenen Wissenschaften im 20. Jahrhundert war Ästhetik bestenfalls die theoretischen Ebene, auf der die verschiedenen Künste hinsichtlich ihrer spezifischen Medialität aufeinander beziehbar wurden. Adorno ist in diesem Prozeß die Ausnahme. Heute ist Ästhetik das begriffliche Dach, unter welchem man, wie Wolfgang Welsch, so höchst verschiedene Phänomene versammelt wie die Ästhetisierung des Alltags, das Design der Dinge und Städte, die Virtualisierung der Wirklichkeit in den Medien, die Ästhetisierung der Diskurse und Episteme - ohne strenge Durcharbeitung der Entwicklung der Künste. Während andere, wie George Steiner, Karl Heinz Bohrer, Botho Strauß, gegen die Ausweitung der Ästhetik argumentieren und diese erneut verwahren wollen im Rahmen einer komplexen Ästhetik der Avantgarden, die normativ emphatisch besetzt wird im Sinn der Auratisierung, wenn nicht Sakralisierung der (hohen) Kunst. Tatsächlich ist das Ästhetische heute in einer Weise entschränkt, daß Ästhetik als Theorie der Künste nur noch als eine Provinz erscheinen kann. Darin hat Welsch völlig recht und dieser Prozeß ist nur noch um den unvertretbaren Preis elitärer oder ethnischer Zentrierung umzukehren. Wenn freilich Welsch darin etwas historisch Neues annimmt, was ihn die Ästhetik zur Schlüsselkategorie der Gegenwart erklären läßt, so erstaunt das. Oder man muß es verstehen als längerfristigen Effekt der Engführung von Ästhetik auf Kunsttheorie (wogegen Welsch eigentlich spricht), wenn nicht gar als kurzschlüssige Verblendung, die aus der Verblüffung entstehen mag, daß sich der universale Schein des Schönen, das ästhetische Finish der Städte, der narzißtische Glamour des Ich-Outfits, die Überlagerung der Realität durch die elektronischen Medien wie ein epochal neues Paradigma abzuheben scheinen vom tristen Grau der Städte und der ästhetischen Banauserie der Nachkriegs-Jahre. Daraus entsteht jedoch eine unhistorische Sicht, welche die Strategie totaler Ästhetisierung als Dauerphänomen und damit als vielleicht dominantes Grundmuster kultureller Entwicklung übersehen läßt. Im 20. Jahrhundert mögen die den Gesellschaftskörper durchdringenden Ästhetisierungen durch den Faschismus, die entschränkten Ästhetiken des Futurismus und Surrealismus, die massenmedial entfaltete Irrealisierung der Wirklichkeit in der Propaganda - vor allem zu Kriegszeiten - als Beispiele genügen, um auf die unmittelbare Vorgeschichte gegenwärtiger Ästhetisierung aufmerksam zu werden. Für das 19. Jahrhundert lassen sich an der ästhetischen Gestalt der Waren-Paläste, an den Passagen in den Metropolen, wie sie Benjamin nachgezeichnet hat, an den Architekturen der Weltausstellungen, ebenso aber am Wagner'schen Gesamtkunstwerk oder am Ästhetizismus und Symbolismus des Fin de Siècle deutliche Trends ablesen zu einer totalisierenden Ästhetisierung der Gesellschaft. Nehmen wir als Exempel für das 18. Jahrhundert nur das Programm von Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, wovon der Wörlitzer Park heute ein bescheidenes Zeugnis ablegt, so erkennen wir hier, daß ein gesamter Territorialstaat einer Ästhetisierung unterworfen werden sollte, die Ökonomie, Arbeit, Gesellschaft, Geschichte, alle Künste und Natur umfaßte. Im Barock des 17. Jahrhunderts läßt sich eine totale Theatralisierung des gesellschaftlichen Lebens beobachten, die von den Etiketten des Verhaltens bis zur Kriegsführung, von der Architektur bis zur rhetorischen Habitualisierung der Affekte reichte. - Und kann man das religiöse Leben des Mittelalters nicht auch als tiefgreifende Ästhetisierung verstehen? Was wäre die Frömmigkeit und die Katholizität des Mittelalters ohne die gewaltigen Kirchen, die Gesänge, die Dramaturgie der Messen, ohne den Schmuck des Kultgeräts, die Schönheit der Gewänder, die Herrlichkeit der Altäre, der Glasfenster und Gemälde, ohne die höchst rhetorische Stilisierung der Legenden, Predigten, exemplarischen Viten, ohne die Kalligraphie der Handschriftenkultur? Wurde Religion nicht vor allem im ästhetischen Code sinnfällig? Und erreichte sie nicht jeden Menschen, ergriff sie ihn nicht im doppelten Sinn von 'erschüttern' und 'beherrschen'? Nehmen wir andere Beispiele: Sind die Körper-Ästhetiken von
Ecstasy-Discos eine historisch neues Phänomen, wenn man in vielen
Kulturen, doch auch im Abendland immer wieder Epochen einer ausgprägten
Tanzwut beobachtet, die an energetischer Wucht, exzessiver Verausgabung,
kollektiven Orgiasmus und zeitlicher Dauer in nichts den heutigen Szenen
nachstehen? Finden wir von der Tätowierung und Bemalung des Körpers
bis hin zu ungeheuerlichsten Steigerungen ornamentaler Bekleidung und kultischen
wie dekorativen Schmucks nicht in allen Kulturen Beispiele extremer Körper-Ästhetisierung?
Können wir im Ernst glauben, daß die Ästhetisierung eines
Adligen am Hof Ludwig XIV. zeitlich und ökonomisch weniger aufwendig,
leiblich, seelisch und geistig weniger durchdringend war als die eines
Dandys im 19. Jahrhundert oder eines Pop-Stars heute? Alles war Ästhetik
- so lückenlos, daß für das 17. Jahrhundert durchaus von
einer inszenierten Virtualisierung der Realität gesprochen werden
kann. Und wenn man dagegen einwendet, daß diese doch nur für
Eliten und nicht für pommersche Müllersburschen oder bretonische
Fischer galt, so kann man entsprechend heute sagen, daß die von Welsch
beschriebenen Strukturen der Ästhetisierung auch nur für eine
kleine Minderheit der Weltbevölkerung trifft und nichts mit der Lebenswirklichkeit
eines indischen Lastenträgers oder ghanesischen Kleinbauern zu tun
hat. Bis heute gilt, daß - wie immer auch enggeführt oder entschränkt
- Ästhetik identisch ist mit der Analyse hegemonialer Kultur. Insbesondere
der philosophischen Ästhetik steht darum eine ethnologische Wende
noch bevor - zu schweigen davon, daß sie sich anders denn als historische
Ästhetik nicht legitimieren läßt.
Zum Abschluß will ich in sechs Punkten die Aufgaben umreißen, die eine Ästhetik heute zu bewältigen hat: 1. Die ethnologische Erweiterung der Ästhetik: Auf der Grundlage der Kategorie des "theatralen Handelns" sind die Formen der religiösen, sozialen und ästhetischen Ritualität, des Kultus und der Performance im interkulturellen Vergleich zu entwickeln. Wenn man Ästhetik als charakteristische Form des Erlebens und der Erfahrung von 'gegliedertem Raum' und 'rhythmisierter Zeit' versteht, so kann uns die ethnologische Perspektive darüber belehren, in welcher Weise z.B. die Entscheidung für die Raumperspektive oder für die Vektorialisierung der Zeit eine die europäische Kultur prägende, aber auch relative Ästhetik begründete, die weder für andere Kulturen zutrifft noch heute in den Industriegesellschaften verbindlich ist. Der Vergleich zwischen oralen und schriftzentrierten Kulturen würde nicht nur die kulturspezifischen Formen der Narrativik, die Topographien des Gedächtnisses, sondern auch die sensuellen (also ästhetischen) Grundlagen der Erkentnis- und Traditionsbildung, des Verhältnisses zur Natur und zum Körper differenzierend entwickeln. Selbstverständlich erwünscht wäre eine ethnokomparatistische Musik- oder Skulpturenästhetik, welche erheblich zur Historisierung unserer Vorstellungen von Harmonik, von Natürlichkeit und Leiblichkeit beitragen könnte. Die Austauschbeziehungen, die zwischen den Künsten der Völker bestehen - ich erinnere daran, daß der Aufbruch der Moderne um 1910 ohne die Einflüsse Afrikas und der asiatischen Kulturen kaum denkbar ist -, könnten ein Bewußtsein für den strukturellen Synkretismus der Ästhetik wecken. Ästhetischer Synkretismus setzt alle Versuche der europäischen Philosophie zu einer ebenso normativen wie systematischen Ästhetik auf einen neuen Prüfstand. Aussichten bestünden auf eine kulturdifferenzierende, historische und interkulturelle Ästhetik, welche von der Hegemonie europäisch-philosophischer Ästhetik befreien könnte. 2. Die technologische Erweiterung der Ästhetik: sie trägt der historischen Tatsache Rechnung, daß der begriffliche Gegensatz von Kunst und Technik eine Episode war, in der Kunstproduktion dem Genie und dieses der Natur zugeschlagen wurde. Bis ins 17. Jahrhundert hatte ars immer eine technische Dimension und techné, machina, fabrica bildeten keinen Gegensatz zur Kunst. Technik ist den ästhetischen Verfahren immanent. Die historischen Konstellationen, die Kunst und Technik zueinander einnahmen, führten zur Steigerung beider Seiten, nicht nur bei Dürer oder Leonardo, sondern ebenso in der Architektur, sei's von Kirchen, Palästen oder Gärten. Daß es ohne Technik keine Künste gäbe, zeigt uns die Mediengeschichte. Darum zählt die Medienästhetik zu den grundlegenden Aufgaben für eine heutige Theoriebildung in der Ästhetik. Die Erfindung der Schrift, des Buchdrucks, der Bildmedien von der Malerei bis zum Computertomographie, die elektronischen Massen-Medien heute sind erstrangige Ereignisse der Technik- und der Ästhetikgeschichte. Ästhetik darf deswegen nicht nur phänomenologische Untersuchung der Erscheinungen des Schönen in ihrer Epoché sein. Sie sollte Theorie der ästhetischen Phänomene unter den Bedingungen ihrer technischen Erzeugung werden, die ihnen, wie unterdessen gut belegt ist, nicht äußerlich bleibt. Die innovativen Künste des 20. Jahrhunderts waren und die des 21. werden es in einem noch gesteigerten Maße sein -: nämlich Hochtechnologie-Produkte. Das schließt nicht aus, sondern ein, daß die Künste eines der wesentliche Potentiale von Technik-Kritik bleiben und den Spielraum für alternative Phantasien über die ebenso unausweichliche wie immer noch offene, also entscheidbare Technik-Entwicklung darstellen. Die enge Verzahnung von Kunst und Hochtechnologie wird keinesfalls zur Liquidierung des gleichsam Manufaktuellem des Ästhetischen führen. Zum Phänomen des Ästhetischen gehört vielmehr, daß es durch ein spannungsreiche Kopräsenz äußerst vielfältiger Techniken gekennzeichnet ist - wie wir dies auch hinsichtlich des Ethnischen feststellten. 3. Notwendig ist der Wiedergewinn und der Ausbau der Naturästhetik. Die ökologischen Krisen zeigen heute auch die Grenze einer reparativen Ökosystemforschung an, in welcher genau der Typ von Technik das ökologische Problem lösen soll, dessen Ursache er ist. Weniger die materialen, aber auch die, vor allem aber die mentalen Probleme des strukturell gestörten Mensch-Natur-Verhältnisses können im Rahmen einer Naturästhetik evaluiert werden. Manfred Riedel hat unlängst erneut auf die alte Tradition aufmerksam gemacht, wonach Ästhetik im Ethos terminiert: Ethos ist die Weise, wie jemand zur Sonne steht - das meint: seinen Platz in der Natur einnimmt oder sich in ihr positioniert. Naturästhetik ist der Sinn für das Leben in der Natur und das in ihr Gehörige. Das klingt konservativ. Tatsächlich aber geht es darum, einen Sinn dafür zu wecken, daß noch die HighTech-Kultur aufruht auf der jahrhundertemillionenlange Arbeit der Naturgeschichte, die wir nicht gemacht haben. Insofern gilt es sich auch in ihr zu orientieren. Also anzuerkennen, daß die konstruktiven Entwürfe unter Bedingungen des Nicht-Konstruktiven stehen - Heidegger würde von der Geworfenheit des Entwurfs sprechen -; dies ist zu respektieren. In der Naturästhetik seinen Ethos zu finden, heißt auch, die Zerbrechlichkeit und den Tod als die unaufhebbare Momente unseres Lebens auf dieser Erde hinnehmen zu lernen. Daher ist das große, jeder Naturästhetik jedoch konträre kulturelle Ziel der westlichen Zivilisation als eine destruktive Option zu verabschieden: nämlich die ungeheure Energie verzehrenden Anstrengungen zur Übersteigung der räumlichen wie zeitlichen Endlichkeit. Weder die Weltzeit noch die Zeitlosigkeit, weder der Weltraum noch die raumlose Virtualität können in der Sicht der Naturästhetik ein angemessenes Ethos bilden. Sondern dieses ist nur auszumachen in der Anerkennung der Endlichkeit der Erde mit ihren knappen Ressourcen an Raum und Zeit, ihrer rigorosen Verkettung des jetzigen Handelns mit seinen Folgen, der Labilität und Begrenzung des menschlichen Lebens auf ihr. Andererseits ist die Natur immer mehr in die Regie globaler Techniken gerückt. Darum gehört nicht nur die Frage, welche Natur wir zu bewahren haben, sondern welches die Gestalt der "zweiten Natur" sein soll, zu den Erkundungsfeldern der Naturästhetik. 4. Daß eine leibphilosophische Wende des Ästhetik nötig erscheint, überrascht bei einer Disziplin, welche als Theorie der sinnlichen Erkenntnis begonnen hat, - ohne doch jemals sich an einer gründlichen Erforschung der Geschichte der menschlichen Sinne und der ihnen korrespondierenden Wahrnehmungskulturen beteiligt zu haben. Nicht nur eine kulturvergleichende Geschichte der Sinne, sondern auch des eigenleiblichen Spürens, wie sie ein eklatanter Außenseiter der Philosophie, Hermann Schmitz, vorbildlich entwickelt hat, ist für eine Ästhetik unabdingbar. Der Leib- und Gefühlsraum ist tragender Grund der Möglichkeit ästhetischer Phänomene. Auch kommt keine Ästhetik aus ohne die sinnenspezifischen Wahrnehmungsleistungen und das Gewahrwerden charakteristischer Atmosphären von Dingen, Werken, Menschen, Lebewesen, Landschaften etc. Für eine philosophische Ästhetik ist ferner das historische Studium ästhetischer Körpertechniken unerläßlich - wozu ich Schminke und Maske, Kleidung und Schmuck, Tanz und Bewegung, erotisches Spiel und Etikette ebenso zähle wie Ekstasetechniken oder Formen der agonalen und zivilen Leibbemeisterung. Die Patho- und Physiognomik ebenso wie die theatralen Künste sind innerhalb der philosophischen Körper-Ästhetik ungehobene Schätze der Geschichte. Der menschliche Leib erweist sich vielleicht dadurch als Königsweg der Ästhetik, weil er wie kein Lebewesen und kein artifizieller Gegenstand eine unlösliche Symbiose von naturhaften Vollzügen und kulturellen Einschreibungen, von Gegegebensein und Stilisierung, von medialer Durchströmtheit und distanznehmender Reflexivität darstellt - und dies immer "am eigenen Leibe", der ich hier, jetzt, dieser, da bin. Der Leib kann so historisch konkret entziffert werden als immer Natur und immer Kunst; in ihm realisieren wir unsere Natur, indem wir unsere Kultur realisieren. Zugleich aber sind die vielfältigen Formen der Durchdringung des Leibes durch Techniken zu berücksichtigen, die von der Prothetik bis zur Genmanipulation reichen und ehemals leibgebundene Vermögen zunehmend exteriorisieren und an Apparate abtreten: vom Gedächtnis bis zur Veräußerlichung des neuronalen Netzes. Das greift vermutlich tief in die Leib-Ästhetik ein und erfordert ein radikales Durchdenken der Frage, ob wir gegenwärtig an der epochalen Schwelle stehen, den natur- und kulturgeschichtlich entwickelten Bios des Leibes qualitativ zu überschreiten. 5. Ich sage nichts über den Zusammenhang von Ästhetik und Kunsttheorie sowie von Kunst und Gesellschaft. Es ist selbstverständlich, daß dies tragende Säulen einer jeden ästhetischen Theorie sind. Es sind aber genau die Säulen, an deren Bau und Zieselierung seit Jahrhunderten gearbeitet wird, während andere tragenden Teile des Gebäudes der Ästhetik entweder nicht in Angriff genommen wurden oder ruinierten.
* * * |