In: Große Gefühle. Bausteine menschlichen Verhaltens, hg.v. ZDF-Nachtstudio; Frankfurt am Main 2000, S. 214240.
Hartmut Böhme
Leibliche und kulturelle Codierungen
der Angst
'Ich ängstige mich, also bin ich', ist gewiß ein zutreffenderer Satz als das berühmte, aber wenig überzeugende Diktum des Descartes: "Ich denke, also bin ich." Georg Lichtenberg hatte, lange vor Sigmund Freud, den Gedanken ausprobiert, ob es nicht besser heißen solle: "es denkt" und damit infragegestellt, daß das Denken notwendig ein Ich voraussetzt. "Wer ist dieser Ich?", fragte er skeptisch. Und wenn 'es denkt' indem es z.B. assoziativ oder gar auto-matisch abläuft , dann ist aus dem Denken erst recht nicht das Sein eines Ich abzuleiten. Johann Gottfried Herder hatte darum den anticartesischen Doppelausruf geprägt: "Ich fühle mich! Ich bin!". Absichtsvoll vermeidet Herder das logische Folgerungsverhältnis ("also bin ich", "ergo sum"). Vielmehr setzt er zwei jubilatorische Ausrufe hintereinander. Aufschlußreich ist auch, daß Herder nicht sagt: 'ich fühle (Angst oder Freude)', sondern das Fühlen absolut setzt. Und ihm 'folgt' das 'Sein des Ich' weder temporal noch konsekutiv. Sondern man sollte sagen: das 'Ich bin' entspringt dem Fühlen unmittelbar und selbstevident, als Absolutum oder eben als Ausruf, als Jubel. Im Fühlen, so legt Herder nahe, sind wir uns ursprünglich als seiend inne. Am ehesten könnte man sagen: 'Indem ich fühle, bin ich'; oder schlicht: ich bin fühlend, und darin seiend. Ich bin primär ein fühlendes Lebewesen. Die Parataxe der beiden Ausrufe ist der unlöslichen Synchronizität von Fühlen und Sein geschuldet. Denken ist dafür nicht erforderlich. Das ist eine sehr schlichte Wahrheit. Doch mit ihr hat Herder gegen Descartes recht. Man muß schon Philosoph sein, um das "Cogito" als primum factum zu behaupten, das ein plausibles Verhältnis von Denken und Sein begründen könnte. Nach knapp vier Jahrhunderten cartesianischen Rationalismus wird heute kein noch so rationaler (Entwicklungs-)Psychologe, Evolutions- oder Verhaltensbiologe, kein Psychoanalytiker und kein Anthropologe, erst recht kein Künstler das zu Beginn des 17. Jahrhunderts bahnbrechende Diktum Descartes unterschreiben. Es ist einfach falsch. Womit nichts gegen das Denken gesagt ist.
Der Satz 'Ich ängstige mich, also bin ich' ist eine künstliche, Descartes nachahmende und deswegen schon gleich wieder falsche Aussage. Niemand folgert aus dem Sich-Ängstigen seine Existenz. Phänomenologisch zutreffender sagt man: mich ängstigend, spüre ich mich (existieren). Die reflexive Form (Ich ängstige mich) meint eben dies: in dem ich Angst empfinde, spüre ich eindeutig 'mich' (und niemanden sonst). Angst empfindend, bin ich ganz gegenwärtig und ganz da (und nicht woanders), also hier und jetzt, und zwar als genau 'dieser', der 'ich' bin. Die Angst betrifft niemanden als mich, sondern wäre sie kein Betreffen. In ihr, wenn ich sie spüre, 'befinde ich mich': Phänomenologen sprechen deswegen davon, daß die Angst (Gefühle überhaupt) Befindlichkeit und Betroffenheit darstellen. Was 'Gegenwart' ist, geht uns daran auf. Man begreift 'Gegenwart' nicht durch die Analyse vor Präsens- Sätzen, sondern die Sprachen bilden präsentische Sätze, weil im betroffenen Fühlen, besonders von Angst und Schrecken, Gegenwart erschlossen wird.
Als erstes Ergebnis ist mithin festzustellen: in der Angst empfinde ich nicht nur diese, sondern in und mit ihr immer 'mich selbst' als genau 'dieser', 'jetzt und hier', also gegenwärtig seiender: in der Angst wird Gegenwart aufs dringlichste, andrängendste und mithin beengendste gespürt und das enthält das Gefühl von Sein: Ich bin.
Nun gilt das freilich für Empfindungen und Gefühle überhaupt, wenn auch nicht in gleichem Maß und gleicher Intensität. Es ist darum zu fragen, ob die Angst eine privilegierte Weise ist, in der 'ich mich als seiend' empfinde. Das behaupten viele, z.B. Martin Heidegger oder Hermann Schmitz. Doch diese Frage behandle ich nicht, sondern wende mich der schon für die Anthropologen im 18. Jahrhundert selbstverständlichen Tatsache zu, daß die Empfindungen, in denen wir uns existierend fühlen, kein Menschenprivileg sind. Vielmehr teilen wir sie mit organischen Lebenwesen überhaupt, mindestens mit Tieren.
Angst (und es kommt hierbei nicht auf ihre Differenz zur Furcht an) ist so alt wie wir selbst, sie ist schon da, wenn wir geboren werden. Nein, sie ist älter als wir. Auch ohne viele Erfahrungen mit Tieren, weiß selbst der heutige Stadtbürger, daß Angstreaktionen nicht nur bei höheren Tieren zu beobachten sind, sondern tief ins Tierreich hineinreichen. Im Paradies herrscht keine Angst: das aber heißt, daß auch die Tiere aus dem Garten Eden vertrieben sind, oder genauer: daß sie niemals dort wohnten, so wenig wie der Mensch. Die Natur ist auch für die Tiere keine allgütig umhüllende Mutter, sondern der Schauplatz eines stets prekären Lebens. Angst ist eine elementare Gegebenheit des animalischen Lebens. Sie zeigt dem Lebewesen die Anwesenheit einer Gefahr, einer bestimmten oder diffusen Drohung. Im Gefühl bedrohter Existenz fährt die Angst in den tierischen ebenso wie in den menschlichen Organismus heftig hinein. Als Anzeiger von Gefahr hat Angst aber eine lebensdienliche Funktion. Ohne Angst tappten Tier wie Menschen in Gefahren hinein und kämen, über kurz oder lang, darin um. So aber breitet sich die Angst blitzschnell im ganzen Körper aus, zieht ihn zusammen, konzentriert ihn, versetzt ihn in Spannung, in höchste Aufmerksamkeit, die augenblicklich zu handeln bereit ist, wenn sie nur wüßte, wie und wohin. Hermann Schmitz nennt Angst deshalb "das gehinderte Weg!" Bannung in den Augenblick und Fluchtimpuls halten sich in der Angst die Waage. Man kann dies an Tieren, aber auch an sich selbst beobachten. Gelegentlich ist schon das Erstarren rettend: in geduckter Bewegungslosigkeit verringert sich die Wahrnehmbarkeit durch den Feind. Kein Laut und Rascheln, keine Bewegung verrät das Tier an den Feind. Die Gefahr ist noch einmal 'vorbeigegangen'. Das Tier löst sich aus seiner Starre, Entspannung zieht in den Körper und in größter Vorsicht zieht es sich aus der Sphäre der Drohung zurück. Oft aber folgt auf das Zusammenzucken, das das Tier in gebannte Angst schlägt, sofort die Schnellkraft der Flucht: die höchste Erregung und Energie des Organismus wird auf den einen Impuls gesetzt: weg! Das ist noch nicht die Rettung, rettet aber wenigstens aus der Enge der Angst, die an Ort und Augenblick fesselt. Darin ähnelt die Angst einem aufs äußerste gespannten Bogen, von dem der Pfeil der Flucht nun abgeschossen ist. Am besten, wenn im Augenblick der Gebanntheit eine kognitive Leistung hinzukommt: das Erkennen der Ursache der Angst, die Lokalisierung des Feindes, das Wahrnehmen der 'Ausflucht', der Richtung der Flucht. Denn immer droht die Kopflosigkeit: Verlust der Übersicht, panischer Schrecken, zielloses Losstürmen womöglich in die Fänge des Feindes. Ist die Angst im ersten Hineinfahren in die Glieder ein bloßer Anzeiger von Gefahr überhaupt, so ist sie in dem erstarrten Geducktsein auch die Chance zu identifizierenden Wahrnehmung und gezielten Flucht. Gerade das 'gehinderte Weg!', die Erstarrung, ist für das 'Weg-von-hier!' funktional dann jedenfalls, wenn die Angst nicht so übergroß ist, daß in der Bindung an das Hier (die Enge der Angst) jede Beziehung auf die Weite (als dem potentiellen Raum der Flucht) untergegangen ist. So aber ist es im Schrecken, den Tiere ebenso wie wir gut kennen. Schrecken ist überwältigend, ist gesteigerte Angst, die jede Ausflucht nicht objektiv, sondern subjektiv niederschlägt: der Schrecken ist die absolute Überwältigung durch bedrohliche Gegenwart. Darin ist jede Weite ausgelöscht. Der Organismus ist wie angenagelt, die Glieder gehorchen nicht mehr, die äußerste Spannung, in die der Körper versetzt ist, verwandelt zu Stein. Das ist der Bann des Schreckens. Der Anblick der Medusa ist das mythische Bild dafür, daß der Schrecken in Bann schlägt und versteinert, nicht anders als die Legenden davon erzählen, daß der Anblick der Schlangen die Opfer erstarren läßt und der drohenden Verschlingung wehrlos aussetzt.
Ob Mythen, ob Selbstbeobachtung oder Tierstudium: durchweg stellt sich die Angst als ein Phänomen dar, das unmittelbar den Körper ergreift und selbst körperlich ist. Auch ohne naturwissenschaftliche Forschung wird dies durch hunderterlei Sprachspuren belegt, so wenn wir davon sprechen, daß die Angst unser Herz schneller schlagen oder gar aussetzen läßt, daß die Knie weich werden und der Schritt versagt, der Puls zu jagen beginnt, die Haare sich sträuben, Kälte uns befällt und über den Rücken jagt und doch zugleich der Schweiß ausbricht, der Atem stockt oder im Gegenteil heftig anschwillt, ringend mit dem abschnürenden Gefühl im Hals, das Kopf und Körper zu trennen droht, die Augen aufgerissen werden und die Pupillen sich schreckhaft weiten, die Glieder schlottern oder sich krampfig verspannen. Man sieht daran, daß die Angst sich in durchaus entgegengesetzten Körperreaktionen darstellt, und doch erkennen wir sie mit größter Eindeutigkeit. Biochemie und Physiologie tun das ihrige dazu, die phänomenalen Signifikanten der Angst mit Einsichten in die angststimulierten Veränderungen der endokrinologischen, vegetativen und nervösen Systeme zu unterfüttern. Hirnforscher verbinden diese Daten der Angst mit zusätzlichen Informationen über angstspezifische Hirnprozesse oder belehren darüber, daß die die Angst im ältesten Teil des Gehirns, im limbischen System, ihre Ursprungslokalität habe ein Indiz mehr, daß die Angst eine Elementar-Emotion des menschlichen Organismus ist.
Angst, wenn sie empfunden und damit erst wirklich wird, muß verkörpert werden. Im Englischen stehen dafür mit 'embodiment' und 'incorporation' zwei analytisch klare Begriffe zur Verfügung, die im Deutschen mit 'Verkörperung' eine zwar brauchbare Entsprechung haben (alle Angst ist verkörperte Angst). Doch andere Bedeutungsanteile der englischen Termini wie 'Verwirklichung', 'Darstellung', 'Aufnahme', 'Bildung' sind heute zu körperfern (noch im 18. Jahrhundert waren sie es nicht), während 'Einverleibung' auf die Angst nicht paßt, 'Einleibung' oder 'Einkörperung' zu ungebräuchlich sind bzw. zu sehr an religiöse und rituelle Vorgänge erinnern. Unabweisbar indes ist, daß Angst sich am und durch den Körper darstellt. Dies trifft genauer zu als die traditionelle, doch eigentlich erst seit der Neuzeit durchgesetzte Redeweise, daß sich Angst körperlich 'ausdrückt'. Dies nämlich gilt nur im Rahmen einer Ausdruckspsychologie, welche eine irgendwo im Menschen unsichtbar vorhandene Seele voraussetzt, die sich in Gefühlen regt und diese dann sozusagen an der 'Oberfläche' des Körpers 'ausdrückt'. Angst sei 'Seelenangst'. Ihr Ausdruck trete in Zeichen und Bewegungen des Körpers 'nach außen', könne also gelesen, gedeutet und verstanden werden. Der Körper fungiert dabei als Interface für die 'dahinter' im Unsichtbaren der Seele verborgene Angst. Angst erfordert danach eine Hermeneutik, eine Verstehenslehre, welche die Übersetzung des Seelischen ins Körperliche hin auf den verborgenen Tiefensinn des Ausdrucks entziffert. Daraus erwuchs in früheren Zeiten die Physiognomik und Pathognomik eine Zeichenlehre oder Semiotik der Seele, insoweit sie sich an ständigen oder flüchtigen Ausdrücken des Körpers artikuliert.
Noch heute hängen wir mehrheitlich an solchen Auffassungen, obwohl sie nicht oder nur sekundär zutreffen. Denn Angst muß nicht 'verstanden' werden, sondern, indem sie uns erfüllt, 'spüren' wir sie. Jedes 'Verstehen' der Angst erfolgt post festum; und wenn wir über Angst sprechen, so ist sie zumeist vorbei. Die primäre Gegebenheitsweise von Angst ist nicht ihr Zeichenhaftes, das wir hermeneutisch zu entschlüsseln hätten, sondern ihre leiblich spürbare, unmittelbare Präsenz. Dies gilt, auch wenn wir wissen, daß die menschlichen Ängste seit Jahrzehntausenden kulturell überformt, stilisiert, diszipliniert, modifiziert, anästhesiert oder gar künstlich erregt werden. Kulturelle Techniken und Habitus haben sich um den Körper gelegt oder sind sogar in ihn eingedrungen, so daß sich "Pathosformeln" (Aby Warburg) und kulturspezifische Bewältigungsmuster der Angst gebildet haben. Damit haben sich kulturelle Semantiken und Techniken 'verkörpert', so daß, soweit wir die Geschichte überblicken, jede Angst, die sich zu spüren gibt, immer zugleich die Engramme kultureller Umwelten aufweist: und nur deswegen bedarf es einer sekundären (kulturellen) Verstehenslehre der Angst und kommt es nicht mehr allein auf die Spürfähigkeit an. Die Angst ist mithin sowohl überhistorisch, eine universale Konstante des lebendigen Organismus, wie sie auch, hinsichtlich des Menschen, seit unvordenklichen Zeiten eine Geschichte bekommen hat. Die Ängste, die wir empfinden, sind kulturelle Ängste und erzählen von der kollektiven und individuellen Geschichte ihrer Prägungen. Wir könnten Epochen an dem charakteristischen 'Stil' ihrer Ängste, Kulturen an dem besonderen Atmosphäre und Personen an der jeweiligen Prägung ihrer Ängste erkennen: nur haben sich Historiker und Kulturwissenschaftler viel zu wenig um solche Fragen gekümmert.
Ein weiteres kommt hinzu. Ängste sind sympathetisch und sie sind performativ. Das teilen sie durchaus mit anderen Gefühlen, wie der Begeisterung oder der Trauer. Zum einen heißt dies, daß Ängste sich zwar immer in Einzelnen verkörpern müssen, aber gleichwohl transpersonal sein können. Wir kennen alle, daß Angst ansteckend ist. Sie springt über, strahlt aus, erfüllt den Raum mit einer besonderen Tönung und Atmosphäre, welche die Betroffenen zu einer Gemeinschaft formiert. Kollektive Angst meint hier nicht, daß wir in jedem Mitglied einer Gemeinschaft Angst erkennen; dies wäre eine allgemeine Angst. Sondern es geht um jene wohlbekannten Situationen, in denen die Angst in eine Menge von Menschen hineinfährt wie in einen Schwarm, so daß ein temporärer und lokaler Kollektivkörper entsteht, eine Angstmasse. Man kann dies die 'dichte Angst' nennen. Im Extrem verlieren sich die Grenzen, welche gewöhnlich das Individuum in einer Menge von dieser unterscheiden. Die Einzelnen werden in die dichte Angst' eingeschmolzen, sei es z.B. eine panische Angst angesichts von Katastrophen oder von Seuchen wie der Pest zwischen dem 14. und frühen 18. Jahrhundert. Auch aus Kriegs- oder Massaker-Situationen sind solche transpersonalen Kollektivängste gut bezeugt. Wo diese überwältigend werden, brechen in der Regel die sozialen Ordnungen und individuellen Identitätshalterungen zusammen, wenigstens temporär. Dauern solche Ängste an, so entstehen Sozialpathologien auf gesellschaftlicher und angstneurotische Strukturschäden auf individueller Ebene.
Wenn eine solche Realitätsmacht von sympathetisch-kollektiver Angst akzeptiert wird, dann wird man zwei Voraussetzungen einräumen müssen: Angst ist (1.) im Extremfall eine ungeheuer dicht und auswegslos den Raum erfüllende Macht (und nicht etwa ist sie kleinteilig in den 'Seelen' der Menschen verteilt). Ferner beleben solche Phänomene der instantiellen räumlichen Ausbreitung von Angst (2.) archaische Mustern mimetischen Verhaltens wieder, wodurch rationalere und historisch spätere Formen kommunikativen Handelns wenigstens vorübergehend untergehen und einer sympathetischen Identifikation des Einzelnen mit dem überpersönlichen Kollektivkörper und seiner machtvollen affektiven Präsenz weichen.
Oben hieß es, Ängste seien performativ. Das heißt nicht nur, daß jede Angst sich verkörpert und eine Form der Darstellung findet. Sondern körperliche Schemata der Angst erzeugen diese selbst. Dies gilt für alle Gefühle: wir weinen nicht nur, weil wir traurig sind, sondern sind auch traurig, weil wir weinen. Die Darstellung bringt hervor, was sie darstellt. In diesem Sinn sind Ängste selbstreferentiell, ja selbstgenerativ, weil die Verkörperung der Angst durch ständige Rückkoppelungen eben die Angst selbst verstärkt. Dies ist ein Modus, der nicht nur in Situationen sympathetischer Kollektivität von Ängsten eine stimulierende Rolle spielt, sondern auch für jene Ängste gilt, welche die Künste erregen, wie z.B. schon die griechische Tragödie, deren einer Affektmodus, neben dem Mitleiden, nach Aristoteles die Furcht (fobos) ist. Es sind dies keine Ängste, bei denen, wie beschrieben, der lebendige Organismus auf gespürte Gefahren der realen Umgebung, sondern die Imagination auf fingierte Angstsituationen reagiert. Hier vollends genügt die Darstellung der Angst zu ihrer Erregung, die freilich im Schutz der künstlerischen Form verbleibt, ohne deswegen doch zu bloßer Vorstellung zu verdünnen: denn auch hier gilt, daß künstlerisch performierte Ängste sich im Leser oder Zuschauer verkörpern müssen, um überhaupt fühlbar zu werden. Aus der Geschichte wissen wir, daß literarisch oder theatral, heute vor allem filmisch erzeugte Angst zu den großen Attraktoren der Künste gehört. Die Angst wird nicht geflohen, sondern gesucht, um sie zu empfinden. Diese geschützte Empfindung der Angst gewährt, was nirgends sonst möglich ist: die Lust an der Angst selbst, die Angstlust (M. Balint), den thrill, das angenehme Schaudern und Gruseln. Endlos ist die Zahl der künstlerische Zeugnisse, die ihren Ruhm und ihre Wirkung eben diesem Mechanismus der Performativität der Angst verdanken.
Längst haben wir damit die Parallele zwischen der Angst als Elementarreaktion des Lebendigen und der menschlichen Angst verlassen. Eine wesentliche Differenz zum Tier ist es, daß die körperliche Matrix der Angst, so fein bis auf die Ebene der Mikrobiologie herunter sie entwickelt sein mag, zur Erklärung der mannigfachen Formen der Angst der Menschen und der Techniken der Angstbewältigung nicht hinreicht. Die höheren Tiere haben in Konfrontation mit der Angst nur drei Möglichkeiten: Flucht, Unterwerfung, Kampf. Sie kennen aber auch Vorkehrungen, nicht nur solche, die sich passiv durchsetzen wie z.B. tarnende Einfärbungen ihrer Erscheinung, hochentwickelte Sinne oder Mimikry, sondern auch solche, die über Verhalten aktiv erzeugt werden, z.B. Tarnung des Schlafplatzes, Abschreckungsmanöver, Zusammenschlüsse zu Rudeln, gemeinschaftliche Warnsysteme. Aktive wie passive Angstminimierer sind Funktionen der Bioevolution und erhöhen in jedem Fall die Fitness der Lebewesen. In den Kulturen gibt es zahlose funktionale Äquivalenzen zu diesen evolutionären Mechanismen, ja, man kann zu der Annahme kommen, daß Kultur insgesamt der Angstbewältigung dient. Der Mensch wäre eben deswegen aus den engeren Grenzen der Naturgeschichte ausgeschert, weil Kultur zu entwickeln und damit sich als Kulturwesen zu bilden einen beispiellos effizienten Vorteil in der lebensnotwendigen Auseinandersetzung mit angsterregenden Umwelten darstellt. Dem soll nachgegangen werden.
Die Erfindung von Geräten, wodurch der Mensch zum toolmaking animal wurde, aber auch die im weitesten Sinn architekturale Einrichtung des Lebens, die Schaffung einer artifiziellen Umwelt (vom Hüttendorf bis zu den big cities), vor allem aber auch die Bildung sozialer Gemeinschaften, symbolischer Ordnungen und tradierbaren Wissens sind Einrichtungen, die nicht nur der Verbesserung von Ernährung und Generativität dienen, sondern vor allem der Sicherheit. Alle Sicherungen sind Angstprävention. Die ungeheure Investition kultureller Energien in Sicherheitsmaßnahmen, seit jeher und überall, verweist auf die ebenso ungeheure Verbreitung und Intensität von Ängsten. Zur Urgeschichte der Angst gehören dabei nicht nur die Ängste vor Naturgewalten und natürlichen Feinden, vor Hungersnot und Krankheit, vor bösen Göttern und Geistern, vor dem Tod in allen seinen Masken, sondern immer auch die Gefahren, die innerartlich die Menschen von ihresgleichen zu fürchten hatten. Man muß nicht den verbreiteten Mythen Glauben schenken, daß die Gründung von Kultur in einem Mord von Menschen an Menschen wurzelt. Doch deuten die Überlieferungen der Hochkulturen wie viele Riten von Stammeskulturen darauf hin, daß man nicht nur das Nicht- und Übermenschliche, sondern den Menschen selbst zu fürchten hat. Dies ist im Grundprinzip der Human-Evolution, der innerartlichen Konkurrenz um knappe Ressourcen und Generativität, fundiert. Jede Kultur hat mit zwei Kreisen der Angst zu kämpfen: den Ängsten des Menschen vor dem Menschen und vor dem Nicht-Menschlichen. Zwischen beidem gibt es vielfache Überschneidungen. So droht der Tod vom Mitmenschen, dem Feind; aber er droht ebenso überhaupt und immer, nämlich prinzipiell, wenn es denn richtig ist, daß Kulturentstehung und Todesbewußtsein eng verbunden sind. So sind die Kulturen vom Bewußtsein des Todes als objektiver Macht, die sich tief den symbolischen und religiösen Ordnung einprägt, ebenso gekennzeichnet wie von den Erfahrungen der tödlichen, intra- und interkulturellen Feindschaften.
Gegen Tod und Not, den großen Eltern der Angst, wird alles aufgeboten, was die Menschen an intelligenten Vermögen und technischen Fertigkeiten zur Verfügung hatten. Alle Positivität, die Lebensfreude und ihre tausendfachen Festriten, erfordert Entlastung und Abwesenheit von Angst. Diese zu bewältigen und zu vertreiben, ist erste Aufgabe aller Kultur. Kulturelle Überschüsse, die der Steigerung von Vergnügen und Lust dienen, können erst entstehen, wenn Tod und Not, wenn Angst nicht mehr allein die Aktivitäten der Gemeinschaft bestimmt. Es kann hier nur angedeutet werden, daß Techniken der Angstbewältigung durch alle Ebenen und alle Geschichte von Kultur sich hindurchziehen. Als die frühen Hominiden gezwungen waren, in offenen Savannengeländen zu leben, war es angstminimierend, sich schutzgewährende Plätze auszusuchen, und noch besser, wenn man, viel später, sich Wohn- und Schlafumgebungen selbst kreieren konnte: Ursprung des Bauens. Es war, im Blick auf die gefährlichen Konkurrenten um Jagdbeute, angstminimierend, in kooperativen Gruppen zu jagen: man verbesserte dadurch nicht nur die Chancen des Nahrungserwerbs (Not), sondern optimierte die Konkurrenz mit Feinden, die dem einzelnen Jäger gegenüber gefährlich waren (Tod). Es war gut, wenn die offenbar transkulturell verbreitete Angst vor dem Menstruationsblut 'eingehegt' werden konnte, indem man Riten nicht nur im Umkreis der Monatsblutung schuf. Es ist angstvermindernd, wenn man durch Ahnenriten und Begräbniskulte sich der unheimlichen Macht der Toten erwehren, sie sowohl fernhalten wie auch begütigen, sich ihrer versichern oder sie beruhigen konnte. Es ist ein Modus der Angstbewältigung, wenn man die überlegenen, allzu oft feindlichen Mächte der Dämonen, Geister und Götter zu beschwichtigen in der Lage war, indem man ihnen rituell Opfer darbrachte. Das Opfer ist eine Erfindung ersten Ranges und stellt nicht nur hinsichtlich der übergroßen Angst, sondern auch der Schuld, in die die Menschen sich verstrickt sahen, eine überhaupt nicht zu überschätzende Kraft zum Erhalt von sozialen Ordnungen dar, die sonst in endlosesn Racheketten oder Angstexzessen unterzugehen drohen. Aber auch späte dichotomische Muster, mit denen die Griechen alles beängstigend Fremde als das Nicht-Griechische, nämlich Barbarische symbolisch exteriorisierten, sind ein Beispiel dafür, daß die antagonistische Trennung von eigener und fremder Kultur mit einer Herausverlagerung des Ängstigenden und Feindlichen zusammenhängt. Ein Hinweis auf Militarisierung und Festungsbau seit den frühen Hochkulturen mag genügen, um den Mechanismus zu belegen, wonach die Angst unfühlbar wird, wenn ihre Quellen nach Möglichkeit 'draußen' gehalten werden (Befestigungsbau) oder wenn den bedrohlichen Anderen die eigene Schreckenspotenz auferlegt wird (Militär). Ob in imperial raumerweiternder oder in defensiv raumsichernder Strategie angelegt: es ist kein Zweifel, daß die Geschichte der Kriege ein gewaltiger Motor der ineinander verflochtenen Maßnahmen von Angstminderung und Angstverbreitung darstellen. Im Schatten beider Strategien blühten die Techniken, die sozialen Institutionen (Staat, Recht), aber auch die Künste und die Religionen.
Letztere können nicht in jedem ihrer Momente und nicht überall auf der Welt, aber doch in größter Verbreitung als symbolische Vorkehrungen gegen die Angst gedeutet werden, von der Gesellschaften heimgesucht werden. Dafür sprechen nicht nur die metaphysischen Einteilungen von Himmel und Hölle, welche im Christentum das irdische Leben über- und unterwölben. Ist das eine die Sphäre beseligender Angsterlösung, die dem Tod den Stachel ziehen soll und worauf ein demütiger, also angstmotivierter Lebensweg vorbereitet, so ist das andere der gewaltigste Angsterzeugungskomplex, der je erdacht wurde. Beides gehört zusammen: denn die Angst kann nur von eben dem Gott vertrieben werden kann, der sie androht und erregt. Doch auch andere Einrichtungen wie die Fürbitter, die Opferung, die apotropäische Verehrung von Fetischen und Idolen, die magischen Praktiken zur Bezähmung böser Mächte, die symbolischen und rituellen Allianzen, welche die angsterregenden Potenzen auf die eigene Seite ziehen sollen, Vorstellungen von Wiedergeburt, von Unsterblichkeit, von Erlösung : all dies zeigt die Ubiquität von Angst und Angstabwehr in den Religionen. Wenn die Religionswissenschaft an dem, was den Kern der Religionen ausmachen soll, nämlich das Heilige, eine unauflösliche Ambivalenz von Fascinosum und Tremendum erkennt, dann ist dies von der Überzeugung getragen, daß in der Religionen dasjenige, was Angst macht, und dasjenige, was von ihr befreit, als paradoxe Weise dasselbe ist. Die Macht, in deren Schutz die Angstvollen sich flüchten, ist dieselbe, welche Furcht und Zittern hervorruft.
Es ist nicht abwegig, darin einen der wirksamsten Mechanismen von Herrschaft zu erkennen, wenn es gelingt, daß ein Kollektiv eben dasjenige verehrt, was es bedroht, und sich mit demjenigen zu identifiziert, der es zerstört. Unabhängig von jeder Religion ist es ein probates sozialpsychologisches Mittel von Herrschaft, die Angstentlastung, welche die Identifikation mit dem Aggressor bietet, zur Normalität gerinnen zu lassen. Diese Doppelfalle läßt in jener Unmündigkeit verharren, die Immanuel Kant nicht ohne Grund selbstverschuldet nannte und aus der sich zu befreien das Programm der Aufklärung war. Ein Blick auf die heutigen Gesellschaften, ob erster oder dritter Welt, zeigt, daß dies nicht gelungen ist, vielleicht nicht gelingen konnte.
Daneben haben Zivilisationen verschiedenste Kulturtechniken der Selbstbemeisterung entwickelt, die keineswegs nur auf die Zähmung ungebärdiger Triebe wie Essen, Trinken und Sex zielten, sondern vielleicht sogar zuerst auf Zügelung der Angst. Die ubiquitäre Figur des Helden, an dem sich die Mythen des Heroismus anschlossen, ist ein 'Kulturbringer' in dem Sinn, als sie über wirkungsvolle Disziplinen der Affektkontrolle und Angstüberwindung verfügte. In der Geschichte des Heroismus allerdings sieht man, daß der Held nicht sogleich perfekt in die Welt tritt. Für die griechischen Helden ist es noch selbstverständlich, daß sie sich hemmungslos fürchten, vor Schmerzen brüllen und in Trauer jammern und weinen. Ja, diese Intensität des affektiven Auslebens ist sogar eine Voraussetzung ihrer Bewährung in übergroßer Gefahr. Man kann das Heldische aber auch in Zusammenhang mit dem bringen, was Norbert Elias die Essenz unserer neuzeitlichen Zivilisation nannte, nämlich der Zwang zum Selbstzwang. Dieser befähigt zu einer autogenen Anästhesie und deswegen zum angstlosen, 'heldischen' oder 'myrtyrischen' Handeln. Doch auch in fernöstlichen und indianischen Kulturen finden wir Techniken einer radikalen Leibbemeisterung, bei welcher höchste Disziplin (als vollendete Kultur) einen Habitus sublimer Angstfreiheit kreiert. Solche Angstbewältigungstechniken, die in vielen Kulturen entwickelt wurden und denen heute die angsttherapeutische und medikamentöse 'Befreiung' von Angst zur Seite tritt, setzten immer voraus, daß es gelingen kann, sich selbst von den Quellen der Angst hinreichend distanzieren zu können, um von dieser nicht verschlungen zu werden. Ob real oder symbolisch, räumlich oder zeitlich: Distanzierung und Selbstdistanzierung sind in allen Angstbewältigungstechniken die entscheidende Leistung. Wir begegnen hier erneut der schlichten Wahrheit, daß, wenn Angst ein "gehindertes Weg!" ist, Angstbefreiung in nichts anderem besteht als dem "Weg!", so roh wie sublim, so körperlich wie symbolisch. Bedenkt man, daß Distanzierung und Isolation des Objekts die Grundgesten der Naturwissenschaften darstellen, so drängt sich der Gedanke auf, daß auch die Wissenschaften einem untergründigen Auftrag folgen: nämlich Angst zu bewältigen und Sicherheit zu erzeugen ein Auftrag, worin sie den Religionen, deren Gegenspieler sie sind, insgeheim folgen. Wissenschaft als Erlösung von Angst.
Was man die große Schule der Angst nennen kann, nämlich die Naturkatastrophen, zeigt allerdings, daß hier Distanzierung nicht möglich ist. Darum sollen die Naturgewalten am Ende stehen, weil an ihnen die in alle Kulturen implementierten Ängste am reinsten-rohesten hervortreten und zugleich die Versuche, mit diesem Äußersten der Angst, dennoch umzugehen, sich charakterisieren lassen.
Aus der Mythen- und Religionsgeschichte sind viele Katastrophen bekannt, die zeigen, daß die Elemente als furchterregende Zerstörungsmächte angesehen wurden. Noch der aufgeklärte Ovid flicht in seine "Metamorphosen" zwei ausführliche Berichte über Fast-Untergänge der Erde: den Mythos von Deukalion, der parallel zur biblischen Sintflut auch deswegen verläuft, weil griechisch-römische wie jüdische Kultur auf gleiche vorderorientalische Sintflut-Mythen zurückgriffen. Der zweite Katastrophen-Mythos wird von Ovid in der Geschichte des Phaëton erzählt, der mit dem Sonnenwagen beinahe einen Weltbrand auslöst. Kataklysmos und Ekpyrosis (Wasser- und Feueruntergänge) sind feste Vorstellungsfiguren in der antiken Kultur. Sie haben auch in der Philosophie ihren Ort, wenn Heraklit das Werden und Untergehen des Weltalls im Feuer lehrt, die Stoa von regelmäßigen Weltbränden ausgeht oder Platon vom Untergang des sagenhaften Atlantis berichtet, das den Kern für vieler europäischer Wasser-Katastrophen abgibt. Erdbeben zählen zu den ersten Phänomen, für welche die Vorsokratiker nach wissenschaftlichen Erklärungen suchten jenseits der Zuständigkeit, die im Mythos der Meergott Poseidon auch für die Erdbeben innehatte. Dieser Gott, wovon die "Odyssee" noch lebhafte Züge bewahrt, ist zugleich derjenige, von dem die tödlichen Ungewitter des Meeres ausgehen: der Schrecken aller Seefahrer von der "Odyssee" bis zu "Moby Dick". Wie das Wasser nicht nur labt, sondern in den Abgrund reißt, so spendet die Luft im Atem nicht nur Lebenkraft, sondern ist Schauplatz des wirbelnden Chaos, das Tiere, Menschen, Städte mit Entsetzen überzieht. Am furchtbarsten offenbart sich die Macht des Wetters im Blitz und Donner, die den obersten Göttern als Insignien ihrer Macht vorbehalten sind.
Mit der historischen Anthropologie haben die Elemente als Medien von Katastrophen insofern zu tun, als sie die Szenarien der 'großen Ängste' hergeben. Dies ist ein kaum bearbeitetes Feld, sieht man von Ausnahmen ab wie z.B. Jean Delumeaus Studie "Angst im Abendland" (1989), worin der Angst vor dem Meer ein Kapitel eingeräumt wird. Doch ist dies wenig gegen die ungeheuren Verzweigungen der Angst. Soweit unsere Zeugnisse reichen, haben sich die Ängste vor der Natur gerade im Medium der Elemente entwickelt. Im Gegenzug wird die Technik ihre Macht genau in den Medien der Elemente entfalten: von der Zähmung des Feuers bis zu den Energietechniken, von den mythischen Flugphantasien bis zur Weltraumreise, von der Erfindung des Schiffes bis zur Territorialisierung des Meeres, von der mythischen Gaia, fruchtbare Mutter und verschlingender Abgrund, bis zur Erde, die in allen Tiefen und Höhen in den Besitz des Menschen genommen ist. In Feuer, Wasser, Erde und Luft wird die Macht der Natur am intensivsten erfahren und darum sind sie die großen Schulen der Angst. In Feuer, Wasser, Erde und Luft wird aber auch die Machtentfaltung der Menschen durch Technik am nachhaltigsten etabliert. Darum ist Technik auch eine Unternehmung zur Vertreibung der Angst vor Natur. Sie ist Erbin der Religionen, welche die Ängste, die die Technik real zu suspendieren verspricht, symbolisch stillzustellen suchten.
Diese Geschichte der Angst als Teil einer historischen Anthropologie ist noch zu schreiben. Sie wäre anti-rousseauistisch und unromantisch, wenn man Rousseau und die Romantik als die Punkte nimmt, von denen die modernen Ideologien einer friedlichen, den Menschen wie eine gute Mutter umschließenden Natur ausgehen. Es sind dies kulturelle Spätformen, die sich einer Stadt-Kultur verdanken bereits unabhängig von Unbill und Gewalt der Natur. Die längste Strecke der Geschichte ist der Mensch von der Angst beherrscht, welche eine unberechenbare Natur auslöst. Niemals geügte es, daß die Menschen sich in Stämmen, Städten oder größeren Imperien zusammenschlossen. Die Religionen und Mythen legen ein beredtes Zeugnis davon ab, daß das menschliche Leben und die Einrichtungen der Lebensfristung als fragil und von Untergängen bedroht angesehen wurden.
Gewiß sind es immer auch die Menschen selbst, die sich wechselseitig zur Quelle der Angst wurden; Ängste spiegeln soziale Gewaltverhältnisse. Nicht zufällig aber hat Thomas Hobbes diese zwischenmenschliche Angst mit dem Naturzustand identifiziert (Leviathan, 1641). Der Mord ist der Kern dieser Angst. Man darf nicht vergessen, daß in den alten Religionen die Götter oft die Masken des Bösen tragen: sie wollen die Menschen töten. Diese uralte Angst vor den Göttern ragt noch in die Sintflut-Geschichte des Wettergottes Jahwe. Welch eine maßlose Brutalität herrscht bei den dynastischen Kämpfen der Götter in der "Theogonie" Hesiods. Die Mächte, welche die Welt beherrschen, müssen verfriedlicht werden. Religion ist die symbolische Form dieser Verfriedlichung. Sie drückt in den Bindungen, die sie zu den Göttern zumeist über Opfer-Rituale schafft, die Umkehrung der basalen Angst aus. Die Griechen in der Epoche vor der Polis-Kultur hatten aufgrund dieser primären Angst den Menschen als ephemeros bezeichnet: den Flüchtigen. Die bösen, gewaltigen und gewaltsamen, rachsüchtigen und auf den Menschen auch noch scheelen, jähzornigen Götter: sie repräsentieren die angsterfüllte Lebenslage der Menschen in einer übermächtigen Natur, in und von der sie leben müssen, die ihre Verehrung heischt und die dennoch aufs grausamste den Menschen beseitigt, im Sturm der Elemente.
Wie weit ist von hier bis zu der platonischen Idee, daß die Natur den göttlichen Nous darstellt, eine schöne und lebensdienliche Ordnung. Es ist ein Gedanke, der sich weniger der Erfahrung der Elemente verdankt als dem daseinsentlasteten Nachdenken in einer Akademie im Schutz der Polis. Auch die gerechte Ordnung der ägyptischen Ma'at ist eine auf Verfriedlichung zielende Konstruktion, die die Bindekräfte von Staat und Gesellschaft schon voraussetzt. Die harmonikalen, auf Ausgleich der Gewalten, auf Form und Gerechtigkeit zielenden Weltbilder sind weniger aus ihrer Semantik als aus ihrer Funktion zu erklären, die sie für die grundlegende Kulturaufgabe haben: die Stillstellung der elementaren Ängste. Nicht nur der Tod, als Tribut an die gleichgültige Natur, ist dabei zentral, sondern die großen Sphären der Gewalten, welche in der Tetrade der Elemente zusammengefaßt sind.
Vulkanausbrüche, Erdbeben, Feuerstürme, Überschwemmungen und Dürrekatastrophen, Unwetter, Meeresorkane und Schiffsuntergänge, auch Einschläge von Großmeteoriten, anhaltende Kälteeinbrüche Katastrophen also, die oft zu Erschütterungen der sozialen Ordnung wurden, werden nicht nur in verschiedenen Kulturen, sondern auch innerhalb der Geschichte des Abendlandes unterschiedlich erlebt und gedeutet. Es ist eine Illusion anzunehmen, ein Vulkanausbruch oder eine Überflutung seien in der Antike dasselbe wie im Mittelalter oder heute. Man weiß darüber wenig. Es bedürfte einer historischen Abgrenzung von Katastrophen, die als solche der Elemente gelten, von anderen kollektiven Verheerungen, wie z. B. den Epidemien oder den großen Kriegen. Man hat zu sehr die homogenisierenden Deutungen beachtet, durch welche die Pest, ein Unwetter oder ein Erdbeben gleichermaßen als Strafe Gottes oder als Schicksalsschlag gedeutet wurden. Oder man hat Katastrophen, gleich welchen Typs, mit dem Aussetzen sozialer Bindekräfte und schlagartigen Anomien zu korrellieren versucht. Ereignisse wie z.B. das Erdbeben von Lissabon (1755) oder Erzählungen wie Heinrich v. Kleists "Erdbeben zu Chili" (1807) gaben derartigen Sichtweisen das Schema vor: modellhaft ist an ihnen zu studieren, wie Prozesse postkatastrophischer Anomie nicht nur herrschende Ideologien kollabieren lassen, sondern zu einer stressbedingten, 'wilden' Konjunktur von willkürlichen Deutungen des offensichtlich Sinnlosen führen, bis sich die alten Integrationskräfte oder neue Gleichgewichte sozialer Ordnung über der Wunde, die der Gesellschaft geschlagen wurde, wieder schließen. Selbst über die Geschichte solcher postkatastrophischen Deutungswirbel weiß man wenig, nicht einmal über die häufige Verbindung zwischen Katastrophen und Sündenbock-Syndromen (auch dies hatte Kleist erkannt).
Nicht auf die 'Physik' von Elementar-Katastrophen kommt es an, sondern auf die kulturellen Imagologien, die sich um sie lagern. Die Ängste, die durch die destruktiven Dynamiken von Wasser, Feuer, Luft oder Erde mobilisiert werden, sind als Todesängste oder als gefesselte Fluchtimpulse nur abstrakt benannt. Sie unterscheiden sich nicht nur im aktuellen Erleben, sondern auch in dem, was man die jeweiligen Erwartungsängste nennen könnte.
Ferner unterscheiden sich die Erfahrungen von Katastrophen nach dem materiellem Medium, in dem sie auftreten. Das Beben der Erde läßt Angst aus einem sonst unauffälligem 'Grund' entstehen, nämlich der Verwirrung des kinästhetischen Sinns. Auf dem Wasser wird Gleichgewicht nicht erwartet, hinsichtlich der Erde aber ist es eine 'fundamentale' Voraussetzung von Selbstgefühl und Handlung. Die Panik, die aus dem plötzlichen Abriß der kinästhetischen Koordinationen hervortaumelt, fühlt sich anders an als die Angst, welche aus dem übermaßstäblichen Stress des Kälte- oder Wärmeempfindens bei Erfrierungs- oder Verbrennungskatatstrophen aufspringt. Die Elementar-Katastrophen zeigen eindrucksvoll, wie recht die griechischen Philosophen hatten, wenn sie die Elemente als die sinnliche Natur entwarfen: es gibt eine unlösliche Verknüpfung zwischen den Elementen und den eigenleiblichen Empfindungen. Diese Unlöslichkeit ist es, die bei Katastrophen die Panik auslöst. Sie sind die fürchterlichen Lektionen, durch die das symbiotische Ineinander von Leib und Natur ins kulturelle Gedächtnis graviert wird. Bei Hitze- oder Kältekatastrophen ist die leibliche Empfindungssebene vor allem die Haut: sie bricht als die liminale Sphäre zusammen, in welcher sich Abgrenzungsprozesse von Innen und Außen, leibliche Integration und Wärmeregulation abspielen. Dies ist etwas anderes als Angstsituationen, die sich auf das Medium Luft richten. Die erstickende Enge, die in der Brust entsteht und sich vergeblich im Fuchteln Raum, nämlich Luft zu machen versucht, ist eine andere Angst als diejenige vor Hitze oder Kälte oder als die beim Beben der Erde, wenn unwillkürliches Klammern an irgend etwas den Ausfall der leiblichen Verklammerung von Erde und Leib kompensieren soll (wie Kleist treffend beschreibt). 'Luftenge' wiederum unterscheidet sich je nachdem, ob im plötzlichen Abriß das Atmen abgedrosselt wird oder, wie nach Bergwerks-Unglücken berichtet, in einem langen Prozeß 'die Luft ausgeht', was zunächst zu einem Rhythmus von Rettungsversuchen und Apathie führt, bis ein Zustand leiblichen Verdämmerns eintritt, in welchem sogar für panische Angst zu wenig Luft da ist. E.A.Poe hat mehrfach die grauenhafte Angst beschrieben, die durch Wasserkatastrophen entstehen.
Bei Elementar-Katastrophen bei Vulkanausbrüchen, Erdbeben, plötzlichen Überflutungen, Taifunen kommt hinzu, daß sie mit einer energetischen Wucht eintreten, die alle gesellschaftlichen Abgrenzungssysteme durchschlagen und darum den ganzen Leib mitreißen. Dieser gleichzeitige Zusammenbruch von kulturellen und leiblichen Grenzen belehrt darüber, daß alle zivilisatorischen Einrichtungen auch einen leiblichen Sinn haben: sie stellen Staffelungen von Abgrenzungen dar, die das primäre Abgrenzungssystem, den integrierten Leib, schützend umhüllen. Gewiß ist Kleidung ein erweiterter Leib, aber auch das Haus, die Stadt, die Grenze zum Meer (der Deich) etc.. Elementische Katastrophen zeigen, daß ein leibliches Band nicht nur zwischen Körper und Elementen, sondern auch zu den zivilisatorischen Umgebungen bestehen: sie sind gewissermaßen 'eingeleibt'. In seiner Erzählung zeigt Kleist eindrucksvoll, daß der gleichzeitige Kollaps körperlicher und zivilisatorischer Abgrenzungssysteme den Menschen zum 'reinen' Lebewesen machen ohne das Bewußtsein, das ihn als soziale Identität auszeichnet. Die Tragik dieser Erzählung besteht darin, daß die Protagonisten meinen, daß 'Lebewesen' und mithin 'Natur' zu sein gleichbedeutend mit Frieden wäre: weswegen sie durch die Katastrophe, die einen Naturzustand herbeiführt, sich gerettet wähnen. Sie unterliegen dem Wahn rousseauistischer Natur der Unschuld und werden, tödlich, darüber belehrt, daß ihm der Pogrom entspringt, dessen Opfer sie werden. Der Naturzustand weckt nicht nur paradiesische, sondern vielleicht zuerst mörderische Züge.
Ist die Leib-Phänomenologie von Katastrophen nach den vier Elementen noch auszudifferenzieren, so gilt dies erst recht für deren kulturelle Imagologien. Es muß hier genügen, die Spannweite eines solches Untersuchungsfeldes anzudeuten. Die Sintflut-Legende der Bibel und der Deukalion-Mythos der griechischen Überlieferung weisen eine Erstaunlichkeit auf: gerade Kulturen, die nicht von Überschwemmungskatastrophen heimgesucht waren, finden zu deren klassischer Formgebung. Daraus ist zu entnehmen: Imagologien elementischer Katastrophen sind nicht an Realereignisse gebunden. Gerade der Ausbuch des Vesuv im Jahre 79 n.Chr. beweist als Ausnahme diese Regel: wir haben hier den seltenen Fall, daß die Konservierung des historischen Augenblicks (Herkulaneum und Pompeji) gleichsam den Glutkern immer neuer Überlieferungen darstellt. Das ist weder nötig noch üblich. Charakteristisch ist vielmehr die Erzählung des Simonides von Keos, bei dem das Erdbeben, welches den Palast über einer Festversammlung zusammenstürzen läßt, so daß die Leichen zwecks Totenfeier nicht mehr zu identifizieren sind, zum Anlaß einer Theorie der topologischer Mnemotechnik wird. Das Ereignis ist gleichgültig gegenüber dem, was daraus gemacht wird: ist es hier eine Theorie der Erinnerung, so ist es normalerweise die Erinnerung selbst, die das Ereignis ablöst, überlagert, weiterspinnt, ausmalt, mit anderen Ereignissen verknüpft usw. Simonides liefert also die Meta-Erzählung zur Frage, wie Erzählungen von Katastrophen entstehen.
Dies ist der Zusammenhang, der für Elementen-Katastrophen und kulturelle Imagologien darzustellen wäre: die Geburt der Erinnerung und der Erzählung aus der Katastrophe. Ihr Schrecken und die Lust des Überlebens sind die Antriebe, die verständlich machen, warum das Erzählen von Naturkatastrophen eine Fusion entgegengesetzter Gefühle kultiviert, die in der Poetik des 18. Jahrhunderts als das "angenehme Grauen" , als das Erhabene oder, in psychoanalytischer Sicht, als Angstlust dargestellt wurden. Durch das Erzählen werden die namenlosen Ängste, in denen der Körper zum Schauplatz von Elementargewalten wird, benennbar und sind mit religiösen und philosophischen, später auch sozialen und psychologischen Interpretationen zu verbinden. Wo dies gelingt, wie in den Ovidschen Fassung der Deukalion- oder Phaëton-Mythe, der biblischen Sintflutgeschichte, dem Brief von Plinius d.J. über den Vesusv-Ausbruch, in den Bergwerks-Erzählungen der Romantik, den großen Meer-Epopöen von E.A.Poe, Hermann Melville oder Joseph Conrad um Beispiele zu geben , dort ist eine kulturell repräsentative Darstellung von Katastrophen und ihren Gefühlen erreicht, die für weite Rezipientenschichten ein Tableau für das imaginäre Erleben eigener Elementar-Emotionen bereitstellt.
Für eine kulturanthropologische Differenzierung von elementischen Katastrophen sind ferner geomorphologische Faktoren zu berücksichtigen. Sind die angesprochenen 'klassischen' Erzählungen abgelöst von Realereignissen, so kommt es hier gerade auf die Verbindung mit Realitäten an, welche das Erleben von elementischen Katastrophen in unterschiedliche Erwartungshorizonte plazieren. Das Zweistromland und das alte Ägypten können hier als Beispiele dienen: sind beide Kulturen "potamisch", also Flußkulturen in dem Sinn, wie Ernst Kapp (1845), Leo Frobenius (1923) oder Carl Schmitt (1942) geomorphologische Faktoren in die Analyse kultureller Formationen einbeziehen , so bestehen entgegengesetzte Erwartungsdispositionen hinsichtlich von Überschwemmungen: während der Nil für periodische Bewässerungen der Anbaugebiete sorgt und so positiv in eine von Fruchtbarkeits- und Erneuerungssymbolen bestimmte Religion einbezogen werden konnte, so haben die ebenfalls periodischen Fluten des Euphrat-Tigris-Gebietes aufgrund mehrfacher Groß-Katastrophen zur Bildung der Sintflut-Sage und ihrer symbolischen Besetzung im Rahmen gewaltgesättigter Götterkämpfe Anlaß gegeben. Daß die "Odyssee" intensiv mit Ungewittern und Schiffbruch auf offener See befaßt ist, hängt mit der Lösug der griechischen Kultur vom Festland und vom küstennahen Schiffsverkehr zusammen. Die "Odyssee" ist ein Zeugnis dafür, daß man mit der Angst vor dem offenen Meer fertigwerden muß, um eine Kolonialmacht zu werden. Marco Polo, der den Landweg nach China erschloß, hatte mit Ängsten vor fremden Kulturen zu kämpfen und mußte dazu kulturelle Kompetenzen entwickeln. Kolumbus, der den ozeanischen Raum eroberte, mußte dagegen mit dem unermeßlichen Raum und den ihn erfüllenden abstrakten Ängsten (z.B. der Leere) fertig werden; dazu war keine "ethnographische" Kompetenz erfordert. Meerrainer wie z.B. Holland und Norddeutschland sind in ihren Leitbildern stark von der kämpferischen Auseinandersetzung mit dem Meer in Form von Deichbau und Landgewinnung geprägt. Die Ängste, die hier bewältigt werden mußten, weisen andere Verarbeitungsmuster auf als die Einübung in die Nachbarschaft zu einem aktiven Vulkan, die in der Vesuv-Umgebung kulturprägend wurde.
Schließlich zeigt die mediale Faszinationskraft von Naturkatastrophen, daß es auch in industriellen Gesellschaften ein Potential kultureller Muster gibt, die aus der Erfahrung mit den destruktiven Seiten der vier Elemente entstammen. Naturkatastrophen sind gut geeignet, das gesamte Register von magischen wie wissenschaftlichen, religiösen wie literarischen, abergläubischen wie moralischen, kognitiven wie psychischen Dispositionen auf einmal zu mobiliseren. Was sonst auf unterschiedliche Institutionen verteilt, was in soziale Schichten und kulturelle Deutungsbenen ausdifferenziert ist, was in Menschen als Tiefen- und Oberflächenängste und getrennte Rollensegmente auseinanderfällt dies erfährt bei großen Elementar-Katastrophen eine instantielle und kollektive Mobilisierung und Verschmelzung. Durch diese entsteht die eigenartige kathartische Wirkung, welche die großen Untergänge selbst noch in den massenmedialen Aufbereitungen unserer Tage aufweisen: diese nutzen die historischen Tiefenschichten, welche sich in der Kulturgeschichte der Elemente und ihrer symbolischen Codierung abgelagert haben.
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