In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Bd. XLII (1998), S. 476-485. Hartmut Böhme Zur Gegenstandsfrage der Germanistik und KulturwissenschaftZiemliche Unübersichtlichkeit Kürzlich habe ich folgende Definition gewagt: "Kulturwissenschaft
erforscht die von Menschen hervorgebrachten, sozialen wie technischen Einrichtungen,
die zwischen Menschen gebildeten Handlungs- und Konfliktformen sowie deren
Werte- und Normenhorizonte, insbesondere insoweit diese zu ihrer Konstitution,
Tradierung und Entwicklung besonderer Ebenen der symbolischen und medialen
Vermittlung bedürfen." Man wird zu solchen komprehensiven Definitionen
und ihrer Begründung gezwungen, weil der Name Kulturwissenschaft zwar
in den letzten zehn Jahren eine steile Karriere durchlief, das Fach Kulturwissenschaft,
seine disziplinäre Struktur und curriculare Organisation sowie sein
Gegenstandsfeld jedoch, um es milde auszudrücken, unbestimmt sind
und zunehmend auf das Mißtrauen der KollegInnen in den Nachbarfächern
stoßen. Überflüssig zu sagen, daß obige Definition
die Frage des Gegenstandes der Kulturwissenschaft nicht löst, sondern
sogar ein Symptom des Problems darstellt. Nämlich: zu weit, unterdeterminiert,
zu unspezifisch. Gibt es überhaupt einen für die Kulturwissenschaft
charakteristischen Gegenstand? Ich wäre in diesem Augenblick lieber
Kunsthistoriker, Philosoph oder Germanist. Auch hier gibt es Gegenstandsprobleme,
doch sind sie im Vergleich mit denen der Kulturwissenschaft überschaubar,
sie haben 'Kerne', sie haben Traditionen, und sie sind keine 'Konstruktionsprobleme',
handeln also nicht von der Neu-Gründung eines Faches, sondern von
den Entwicklungsperspektiven etablierter Disziplinen.
Da ich gerade an der New York University bin, gibt mir dies eine Möglichkeit,
das Problem des Gegenstandes gewissermaßen nach Posteingang zu beschreiben.
Es stellt sich in der Kulturwissenschaft besonders krass, nicht nur für
jemanden, der zwei Jahrzehnte in der Neueren deutschen Literatur gearbeitet
hat. Hier glaubte ich zu wissen, was der Gegenstand der Literaturwissenschaft
ist, hatte jedenfalls nicht den Eindruck, daß mir dieser abhanden
kommen könnte. Ich erzähle also, was für Probleme mir auf
den Schreibtisch kommen. Die Frage des 'Gegenstandes' der Kulturwissenschaft
springt einen dabei an.
Eine Dissertation ist zu begutachten über die Kulturgeschichte
der Haut (literarische, kunsthistorische, medizinische, anthropologische,
perzeptionstheoretische Quellen). Das Gutachten für eine Habilitationsschrift
steht an: Sie ist die Studie eines Wissenschaftlers, der Germanistik und
Ethnologie studiert und nun eine empirisch-ethnologische Untersuchung über
die scientific community des CERN in Genf geschrieben hat. Eine weitere
Habilitation über die "Bewältigung von Geschwindigkeit" macht
einem ehemaligen Germanisten weniger Mühe, weil sie über Musil
und Benjamin handelt. Ein Student aus dem Seminar über "Stadt-Räume"
schickt sein Referat: Er hat sich als Gegenstand 'Die Baustelle' ausgesucht
und plagt sich mit dem Problem, daß er aus verschiedenen Wissenschaften
seinen Gegenstand, den es tausendfach 'gibt', kulturwissenschaftlich erst
'erfinden' muß. Eine Studentin aus demselben Seminar sendet ein Exposé
für eine Magisterarbeit über das Phänomen 'Keller'. Ich
kommentiere ihren Entwurf und empfehle ihr die Lektüre einer kürzlich
bei mir geschriebenen Magister-Arbeit über "Verschlossene Räume".
Ein Informatiker und Mathematiker, der bei mir promovieren möchte,
mailt sein Exposé über "Kulturelle Auswirkungen des Internet".
Nebenher lese und benote ich ein Referat über die Goldhagen-Debatte.
Ein weiteres Dissertations-Expoé trudelt ein: "Metaphern des Übergangs.
Versuch einer Kulturtheorie der Grenze". Die Doktorandin hatte zuvor, als
Slawistin, eine Magisterarbeit über Soldaten an der sowjetischen Grenze
in den 30er Jahren geschrieben. Ein Kollege aus Chicago bittet um Betreuung
und Gutachten seines Projekts "The Rhetoric of Cultural Discourse: Jews
and Germans in the Epoch of Emancipation". Eine hiesige Studentin engagiert
mich als adviser für ihre Magisterarbeit über den Indologen Heinrich
Zimmer (Schwiegersohn von H.v. Hofmannsthal). Ein Kollege aus Greifswald
lädt mich zu einem Vortrag ein über die "Dialektik der Aufklärung".
Ein Dozent der University of Sri Jayewardenapura, Sri Lanka, fragt an,
ob er bei mir über Popular Culture and Mass Communication eine Dissertation
schreiben könne. Die Schweizerische Lucerna Stiftung lädt mich
ein zu einer Tagung "Die wissenschaftlich-technische Entmaterialisierung
der Welt. Archäologie der Materialien". Beinahe täglich gehen
e-mails hin und her wegen der Vorbereitung von Konferenz und Ausstellung
"Interface V: Die Politik der Maschine". Neben dem Text, den Sie gerade
lesen, habe ich hier noch einige andere zu schreiben: über "Fetisch
und Idol, Sammlung und Erinnerung" bei Goethe (endlich vertrautes Gelände);
ein Lexikon-Artikel zum Stichwort "Kulturwissenschaft" ist fertig zu machen
(auch das ist nicht fremd); ein Konferenzbeitrag über Beschleunigung
in den Wissenschafts- und Medienentwicklungen wartet auf Abgabe; ein Artikel
über das Verhältnis von Literatur und Ökologie steht mir
eher bevor; ein fälliger Essay über das von der EU geförderte
Kunstprojekt einer italienischen 'Luft-Skulpteurin', die, kooperierend
mit ars electronica Linz, zwischen mehreren europäischen Städten
mit Brieftauben arbeitet, hat dazu geführt, daß ich Literatur
über 'Brieftauben als Medien' nach New York gebracht habe. Für
eine internationale Ausstellung "Die Zukunft der Büroarbeit" ist ein
Katalogbeitrag über die Virtualisierung von Arbeit zu liefern. Ich
höre auf. Das Problem ist klar.
Man muß sich über Bedarf und Motivation nicht beklagen. Die
Berliner Erfahrung ist: Viel zu viele Leute, die sich in ihren Herkunftswissenschaften
aus (guten und weniger guten) Gründen nicht mehr aufgehoben sehen,
drängen in das Fach Kulturwissenschaft. Die Diffusität des Faches
erscheint manchen geradezu als das Neue Jerusalem. Die New Yorker Erfahrung
mit der Germanistik zeigt, was man überall in den USA, entweder noch
als Streitfrage diskutiert oder bereits entschieden, beobachten kann: wird
die Germanistik noch eine Philologie mit eigenem Kanon sein, sich in German
Cultural Studies transformieren oder zu einem Zweig der Comparative Literature
werden? Auch hier geht es um empirische Nachfrage und theoretische Zielkonflikte.
Mit den Kollegen in den USA kann man über den Verbleib des Gegenstandes
der Germanistik bestens diskutieren. Sie stehen unter erheblichem Entscheidungsdruck
ö ohne den Schutz im Rücken, den für die deutsche Germanistik
immerhin die Tatsache bietet, daß sie (zuerst) Muttersprachenphilologie
ist (und bleiben muß). Die Ungewißheit in den USA über
die Zukunft des Gegenstandes der Germanistik läßt mich die überfordernde
Gegenstandserweiterung in der Kulturwissenschaft weniger dramatisch empfinden
als in Berlin.
Ich will jedoch zuerst, aus doppelter Ferne, die These vorstellen, daß
der Gegenstandsverlust der Germanistik eingebildet ist. Wer seinen Gegenstand
verliert, ist selber schuld. Die Literaturwissenschaft, sagt W. Barner
zurecht, ist eine Kunstwissenschaft. Dies ist ihr Kern. Diesen zu vernachlässigen,
käme einer Selbstliquidation der Literaturwissenschaft gleich. Germanisten,
die sich nicht zuerst als Kunstwissenschaftler verstehen, gehören
nicht ins Fach oder höchstens zu seinen Rändern. Es gibt für
die Legitimation der Germanistik nur zwei Fragen: (warum) muß es
diejenige Kunst geben, die wir Literatur nennen? Die Frage gilt historisch
und aktuell. Und: warum muß es neben dem primären Gebrauch von
Literatur (das Lesen) eine Expertenschicht geben, die sich professionell
mit der Erklärung der Literatur beschäftigt? Es gibt zwei Richtungen,
in denen der praktische Nachweis für die fragliche Legitimität
geführt werden kann. 1. Die bloß historische Faktizitat der
Literatur wird mit theoretisch überzeugenden Gründen legitimiert.
Will sagen: Die Literatur weist besondere Eigenarten und Leistungen auf,
die von anderen wertbesetzten kulturellen Aktivitäten ö wie z.B. Musik
komponieren, Mathematik machen, Stoffe veredeln, bewegte Bilder herstellen
ö nicht oder nur schlechter ersetzt werden können. 2. Das Spezifische
der Literatur, das historisch jeweils anders ausdifferenziert ist, bildet
den Kern der Legitimiation auch der Literaturwissenschaft. Diese aber gewinnt
ihre eigentliche Rechtfertigung nicht deswegen, weil Literatur nicht substituierbar
ist, sondern weil man ö jedenfalls seit der Neuzeit ö den kulturellen Wert
der Literatur nur dann hinreichend entfaltet, wenn man sie professionell
erklärt. Man muß also die Erklärungsbedürftigkeit
der Literatur erklären, um sich als Wissenschaftler der Literatur
zu begründen.
Es kann sein, daß der Wert der Literatur historisch irgendwann
gegen Null tendiert oder daß die Literatur nicht mehr einem Typus
angehört (wie z.B. in oralen Kulturen), der notwendig der professionellen
Auslegung bedarf. Beides ist gegenwärtig nicht der Fall, selbst wenn
man konzidiert, daß der Status der Literatur sich durch die Entwicklung
der audiovisuellen und digitalen Medien dramatisch verändert. Es scheint
mir vorläufig unbestreitbar daß a) Literatur historisch wie
gegenwärtig einen begründbaren Wert darstellt, b) Literatur erklärungsbedurftig
ist, und c) daß es deswegen mit gutem Grund Literaturwissenschaftler
gibt. Literatur ist ein Wert erster Stufe, und weil (b) gilt, ist Literaturwissenschaft
ein davon abgeleiteter Wert zweiter Stufe. Kann man mit Luhmann sagen,
daß Literatur eine Beobachtung erster Stufe der Gesellschaft ist,
so ist Literaturwissenschaft eine notwendige Beobachtung der Beobachtung,
weil Literatur zwar keine kulturelle Selbstverständlichkeit hat, doch
aber eine für die Gesellschaft wertvolle Zunahme an Beobachtungshorizonten
darstellt.
Das Gegenstandsproblem der Germanistik scheint mir also lösbar.
Das heißt nicht, daß Literaturwissenschaft sich nur auf den
Kunstcharakter der Literatur konzentrieren könnte und also endlich
bleiben dürfe, was sie immer schon war. Mag sein, daß man der
Anstrengungen müde ist, die den Literaturwissenschaftlern 'von außen',
sprich: nicht von der Literatur, zugemutet wurden. Dies überzeugt
nicht. Wenn man behauptet, der Kunstcharakter sei das Non-Aliud der Literatur,
muß man, dies gebietet die Logik, hinreichend viel von dem verstehen,
was das Aliud der Literatur ist. Damit behaupte ich, daß diejenigen
Literaturwisenschaftler am ehesten den Kunstcharakter der Literatur verstehen
(nicht als Kunstkenner, sondern Kunsterklärer), wenn sie viel wissen
von den umgrenzenden, ja auch fernliegenden Feldern anderer kultureller
Praktiken. Die Sensibilitat literarischer Wahrnehmung steigt mit dem Grad
kultureller und sozialer Wahrnehmung. Wahrnehmungsfähigkeit ist die
Voraussetzung wissenschaftlichen Auslegens oder Erklärens. So gesehen
kann man die Gegenstandsstruktur oder das Formaggregat der Literatur allerdings
als vorrangiges Erkenntnisziel bezeichnen.
Literatur ist ferner ein unter spezifischen Bedingungen hergestellter und als solcher gebrauchter kultureller Gegenstand. Formen sind in dieser doppelten Perspektive 1. hochelaborierte kulturelle Praktiken im Feld anderer kultureller Praktiken und 2. (sich wandelnde) Funktionen. Hier geht es nicht mehr ausschließlich um Kunstcharaktere, sondern um deren funktionale Rückbindung an kulturelle Konstellationen. Das bietet den Produktions-, Intertextualitäts- und Rezeptionstheorien keine besondere Schwierigkeit. Selbstverständlich gehört hierzu die Analyse der Literatur als Medium, das an die historische Entfaltung der (technischen) Medien und der Intermedialität gebunden ist, ohne semantisch und ästhetisch in ihnen aufzugehen. Deswegen war die Literaturwissenschaft gut beraten, daß sie kultur- und medienwissenschaftliche Dimensionen aufgenommen hat: dies ist von der Literatur selbst her geboten. Nur Literaturwissenschaftler, die den Status der Kennerschaft nicht verlassen und keine Wissenschaftler sein wollen (wie viele Literaturkritiker und Leser), können diese Erweiterung der Literaturwissenschaft mißbilligen (wie U. Greiner oder K.H. Bohrer). Als Beobachter des kunstvollen Beobachtungssystem Literatur können wir jedoch nicht anders, als ö eben das System Literatur miterforschen wollen, um erst dadurch das spezifisch Literarische zu verstehen.
Kulturwissenschaft auf der Suche nach ihrem Objekt Vielleicht sollte man die Kulturwissenschaft eine Weile in Ruhe lassen, bis an Hand hinreichend vieler Arbeiten, die sich kulturwissenschaftlich nennen oder so eingeschätzt werden, in einer Meta-Studie untersucht werden kann, wie diese Arbeiten eigentlich funktionieren, wie sie ihre Fragen gewinnen, welche Methoden sie mobilisieren, welche Kompetenzen sie voraussetzen, welche Ziele sie verfolgen, wie ihre Gegenstände profiliert werden. Man könnte dann mit empirischem Grund sagen: so also ist und arbeitet Kulturwissenschaft. Dafür ist die Zeit zu früh. Statt dessen befindet man sich, wie in Gründungsphasen üblich, in einer Phase divergierender Grundsatzerklärungen und, siehe oben, schwer vereinbarer Arbeitsfelder. Die gegenüber den USA weniger aufgeschlossenen deutschen Universitäten und die staatlichen Sparmaßnahmen geben für eine wünschenswerte konzentrierte Erprobungsphase keinen Raum. Darum steht das junge Fach, das in Berlin so und in Passau ganz anders und in Tübingen nicht vergleichbar mit Bremen oder Münster gelehrt wird, unter objektivem Streß. Es scheint nur so, als herrsche in der Kulturwissenschaft die Freiheit, sich alles Mögliche und am liebsten das Attraktivste aus anderen Fächern zusammenzuklauben, um daraus eine interessant moderierte Diskurskunst zu entwickeln. Jeder halbwegs mit der Universität Vertraute weiß, daß die Abrechnung kommt. Wie sie kam für die werkimmanente Methode, die Sozialgeschichte, den Strukturalismus, den Dekonstruktivismus, die Diskursanalyse etc. An den 'Moden' der letzten Jahre ist aufschlußreich, daß keine wirklich untergegangen ist, wenn sie es nur zu einer gewissen theoretischen Reife und zu überzeugenden Analysen gebracht hat. Insgesamt haben die 'Wellen' zur Komplexitätssteigerung der Wissenschaft als zu ihrem Guten beigetragen. Daraus muß die Kulturwissenschaft, die auch als 'Mode' ö doch auch aus guten Gründen ö entstand, die Lehre ziehen, daß sie nur einige Jahre Zeit hat, sich zu einem bewährten 'Modell' zu mausern. Dann hat sie eine Chance, aus der unsinnigen Rolle, irgendwie eine Avantgarde zu bilden, zurückzutreten und ein normales, vermutlich kleines Fach zu werden, das in besonderer Weise talentiert sein muß, interdisziplinär zu agieren, Gegenstände zu entdecken, Fragestellungen zu moderieren, auf andere Wissenschaften zu reagieren, aktuelle Trends der soziokulturellen Entwicklung auszumachen, Revisionen historischer Lesarten vorzunehmen, geschichtlich Vergessenes zu erinnern. Das sagt nicht viel, aber doch, daß auch dann, wenn die Kulturwissenschaft sich als Fach etablieren sollte, sie eine Art Relaisfunktion behalten wird. Diese Funktion wird durch die Spezialisierung der Wissenschaften strukturell erzeugt. Die Germanistik hat in ihrem Innovationsdelirium dies auch versucht. Nicht ohne Erfolg. Sie hat aber übersehen, daß sie dabei die Verantwortung für ihren Gegenstand oft verletzt hat. Dies ist in der Kulturwissenschaft anders. Denn in gewisser Hinsicht ist ihr Gegenstand gerade das Relais. Wenn sie selbst zu einem wird, täte sie dies in Referenz auf das, was ihren Gegenstand ausmacht: das Schalten und das Verschaltete. Es wäre kein Verrat an ihren Gegenständen.
Es wird, so hoffe ich, bereits an diesen Andeutungen sichtbar, daß es ein kulturhistorisches und -theoretisches Wissen von 'Baustellen' geben kann, das man in anderen Wissenschaften vergeblich sucht. Es ist auch kein Zweifel, daß dieses Wissen Sinn macht und sogar pragmatisch nützlich sein kann. Deutlich ist auch, daß der Gegenstand der Kulturwissenschaft nicht einfach existiert (wie z.B. die Textmenge deutscher Literatur), sondern vielfach erst konstruiert werden muß. Interessant sind dabei gerade Fälle 'materieller Kultur', die zumeist schon in Einzugsbereiche ganzer Gruppen von Wissenschaften fallen. Hier besonders ist Kulturwissenschaft ein Supplement zu und/oder eine Integration von vorhandenem Wissen. Oft kann sie beides sein: ihre Perspektive wäre supplementierend, insofern sie übersehene symbolische, sozietäre, ästhetische, semiotische, phänomenologische, kommunikative und kulturhistorische Dimensionen überhaupt erst in den Diskurs einführt; und sie wäre integrativ, insofern sie unverbundene Wissenssegmente versammelt und zusammen mit ihren eigenen Perspektivierungen z.B. zu einer Art 'Gesamtphänomen Baustelle' (mit historischem Index) komponiert. Dabei zeigt sich, daß 'Baustellen' nicht als technisch optimierte Umsetzung von Architekturplanen verstanden werden können, sondern an jeder Stelle ihrer Geschichte komplexe 'Verschaltungen' unterschiedlicher sozialer, technischer, organisatorischer, kultureller, symbolischer Praktiken darstellen.
Das Beispiel ist, zugegeben, etwas outriert. Über näherliegende
Gegenstandsfelder ist genug geschrieben worden. Was ich betonen möchte,
ist, daß die Gegenstände der Kulturwissenschaft immer 1. konstruiert,
2. spezifisch perspektiviert (in Einzelforschung) und 3. integral verschaltet
werden müssen. Damit ist gesagt: (a) die Kulturwissenschaft findet
keine 'unbesetzten' Gegenstande vor, kein 'ureigenes Terrain'; sondern
sie operiert überwiegend in Gegenstandsfeldern, die sie sich mit anderen
Wissenschaften teilt (weswegen sie öfters deren Methoden übernimmt
ö von der Texthermeneutik bis zur Feldforschung, von der Mentalitätsgeschichte
bis zur Technikgeschichte etc.). In diesem Sinne verfährt die Kulturwissenschaft
synkretistisch oder 'methodeneklektizistisch'. Innerhalb dieses geteilten
Gegenstandsfeldes muß die Kulturwissenschaft (b) eine eigene Physiognomie
der Perspektivierung und Thematisierung finden. Das heißt: sie muß
einen spezifischen und mithin nicht mit anderen Wissenschaften geteilten
Gegenstandsapsekt ins Spiel bringen und erforschen (das macht sie zum Fach).
Und (c) wird die Kulturwissenschaft einen reflexiven Metastatus einnehmen
(aber nicht privilegiert besetzen), indem sie bezogen auf die Relais-Struktur
der Gegenstände eine qualitative Rekombination der vorhandenen Wissensfelder
und eine experimentelle Integration des Gegenstandsphänomens vornimmt.
Vermutlich ist das für ein werdendes, kleines Fach entschieden
zu viel. Die Kulturwissenschaft wird deswegen, bei Strafe ihres Untergangs,
nicht versäumen dürfen, mit den ihr benachbarten Disziplinen
die genannten Aufgaben zu teilen, sie also von vornherein interdisziplinär
zu entwickeln. Ein erhebliches Problem stellt dabei das Qualifikationsprofil
dar, das man für Kulturwissenschaftler entwickeln mußte. Denn
da klar ist, daß die Kulturwissenschaft sich nicht nur auf Texte,
nur auf Bilder, nur auf symbolische Formen, nur auf materielle Aggregate
der Kultur, nur auf Geschichte, nur auf die Gegenwart beziehen darf; daß
sie zudem nicht nur auf eine, sondern auf viele Kulturen gerichtet ist;
daß ihr Wissen nicht nur selbsterzeugt, sondern auch von anderen
Wissenschaften bezogen und weiterverarbeitet ist ö: da dies so ist, stellt
sich die Frage, wie eine solche Anforderung ohne 'allseitigen Dilettantismus'
abgehen kann. In der Tat ist dies eine Gefahr, aber auch eine Chance. Letztere
wird die Kulturwissenschaft nutzen, indem sie erfinderisch und sorgsam
zugleich, detektivisch fahndend und spekulativ mutig, mikrologisch und
theoretisch, analytisch und essayistisch, ihren Gegenstanden dienend und
vorsichtig anspruchsvoll, streng und obessionell mitten in dieser Gefahr
arbeitet und aushält.
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