In: MEDIALE HAMBURG 1993. (Ausstellungskatalog) Hamburg 1993, S. 84–97. 

Hartmut Böhme

Die Hermetische Ikonologie der vier Elemente

LICHTGÖTTER

In seinen "Metamorphosen" erzählt Ovid die Geschichte des Phaeton, des sterblichen Sohns von Helios, dem Sonnengott: als Phaeton von seiner göttlichen Abkunft erfährt, ringt er seinem Vater ab, ihm für einen Tag den Sonnenwagen zu überlassen. Ein Sterblicher - als Licht der Welt! Um nichts weniger geht es. In Phaeton lodert ein übermenschlicher Wunsch: das Feuer, das nach Feuer sich sehnt - die Himmelsbegier (cupido caeli), die Goethe treffend bezeichnet als den ewig innern Flammenwurf des Herzens, der zum Allerhöchsten treibt. Aufsteigend zum Licht wird Phaeton ein Verblendeter - schwarz vor die Augen tritt durch so viel Licht ihm das Dunkel. Das Überlicht schlägt in Blendung und Schwärze um. Eben diese, dem Menschen unerträgliche Dialektik von Schwärze und Licht, von Nichts und All wird acht Jahrhunderte später Johannes Scotus Eriugena nennen: Gott. Eintausendsechshundert Jahre später beginnt Robert Fludd damit seinen kosmogonischen Zyklus (Abb.1 und 2).

Abb.1: Die unendliche Schwärze. In: Robert Fludd: Utriusque Cosmi Maioris scilicet et Minoris Metaphysica, Physica Atque Technica Historia... Thomas Primus S. 26. Oppenheim (Johann Theodore de Bry) 1617.

Abb.2: Erstes Licht . In: Robert Fludd (s. Ab.1), S.29.

 

Rückblickend erkennen wir in Phaeton die mythische Figur unserer eigenen Antriebe. Die abendländische Geschichte der imago-dei-Mentalität und der megalomanischen Techno-Phantasmen - der Mensch als zweiter Gott - ist nicht ein Effekt des prometheischen Funkens (Prometheus war der für ein menschliches Maß sich opfernde Gott), sondern des phaetonischen Willens zur Erhabenheit. Besteht, wie wir heute zu ahnen beginnen, kulturelle Reife darin, kleiner sein zu wollen, als groß wir sein können, so ist das Begehren des Phaeton, größer sein zu wollen, als zu ertragen und verantworten er vermag. Die cupido caeli Phaetons ist eine Umkippfigur: der Antrieb, in göttergleicher Souveränität im Weltraum zu fliegen, die Natur zu steuern und Regie über das Licht der Welt zu führen -, dieser Antrieb schlägt um in Tod und die Zerstörung der Natur. Es ist eine der Selbsttäuschungen unserer Zivilisation, daß sie sich als prometheisch versteht; in Wahrheit überschreitet sie, phaetonisch, das prometheische Erbe im Verlangen, des Unsterblichen habhaft zu werden und beschleunigt darin ihren Tod. Das ist ihr Großartiges und Fürchterliches - und diese Doppelheit ist an Phaeton immer verstanden worden, von Ovid bis zu Goethe (seinem Phaeton und seinem Faust).

Ovid, der als Poet ein Gespür für Medien hat, erkennt, daß dem Element Feuer in seiner Form als Licht eine eminent mediale Qualität eignet: als Phaeton die regia Solis betritt, eröffnet sich ihm eine erhabene Lichtarchitektur, eine künstliche Weltlandschaft: der Kosmos noch einmal. Das All ist ein  Lichtspiel Sols. Der Sonnengott ist der Scheinende, der Erscheinende und der zur Erscheinung Bringende: daher sein alter Beiname Phaeton, in dessen Recht einzutreten der sterbliche Sohn zu ihm eilt. Und die kunstreiche Weltlandschaft soll verdeutlichen: Licht erst, nichts sonst, bringt den Kosmos zur Erscheinung und macht ihn zum Aistheton, zum Wahrnehmbaren. Als Lichtgott ist Sol auch der Herr aller optischen Medien. Licht ist alles. Alles ist Licht. Und dies begehrt der Mensch, Phaeton.

Bei Ovid repräsentiert Helios das Ganze der Natur: die Himmelsbewegungen, die Zeit, den Lichtglanz und die Wärme. Sein Sonnenwagen ist die Energiemaschine und zugleich das Scheinende des Alls. Das ist die mythische Form dafür, daß die Philosophen dem Feuer im Kreis der Elemente immer eine Ausnahmestellung zuerteilten. So läßt Parmenides die Welt aus der primordialen Polarität von Hell und Dunkel hervorgehen und eröffnet sein Lehrgedicht mit einer ungeheuren Initiation: dem ursprünglichen Überschreiten jenes liminalen Schwellenraums, der das Haus der Nacht von der ätherischen Sphäre des Lichtes trennt. Philosophie ist Licht-Botschaft, wie säkularisiert auch immer. Das ätherische Flammenmeer, heißt es, das milde, gar leichte, ist mit sich selber überall identisch, doch mit dem anderen nicht identisch. Das Stille des Lichts ist die erste Hypostase des Geistes und das Medium der Darstellung von allem anderen, ohne dieses andere zu sein. Kunst wird fortan das Erscheinen des Erscheinens sein und Erkenntnis die Reflexion dieses 'phaetonischen' Lichts.

Heute schließen wir, kaum je bewußt, in mehrfacher Form daran wieder an. Die Kunst eines James Turrell zielt auf nichts geringeres als eben darauf: das erscheinen zu lassen, was alles Erscheinen hervorbringt  -  das Licht. Die elektronischen Medien wiederholen das Lichtspiel des Sonnengottes. Die absolute Stille des Mediums versucht heranzureichen an jenes Sich-selbst-Identische des beinahe rein Immateriellen, das alles andere zur Hypostase seiner selbst werden läßt. Die Mythen erinnern daran, daß  dieses technologische Programm, mit dem wir aus der Stofflichkeit der Elemente in die Immaterialität des Äthers übertreten, dem Begehren dient, Götter zu werden. Das Unheimliche der Ovidschen Erzählung besteht darin, daß gerade dieses  menschlich sei. In keinem Mythos gibt es einen so absolut Begehrenden und einen das Absolute so Begehrenden wie ihn: Phaeton.

Das unbändige Verlangen, sich zu erheben, zu fliegen, das Licht zu regieren, des Mediums der Götter inne zu werden, die Natur zu beherrschen -: es findet in Phaeton seinen archetypischen Ausdruck, so wie Prometheus die einzigartige Gestalt des leidensfähigen und erfindungsreichen Menschen ist, der um einen freilich fürchterlichen Preis das göttliche Feuer zu vermenschlichen verstand. Den Göttern sich verwandt zu wissen, doch von ihnen getrennt zu sein, ist ein schweres Erbe, das die Religionen uns hinterlassen haben. Die Antike hat darum das, was den Menschen von den übrigen Lebewesen unterscheidet, Seele und Geist, mit den Qualitäten des Feuers belegt: denn Tiere sind feuerlos. So ist die Seele Feuerseele, der Geist ist Licht. Dies nicht sein zu wollen, hieße nicht Mensch sein. Nur dies sein zu wollen, hieße Gott. Daß der Mensch Phaeton dazwischen die Mitte nicht hat halten können, gehört für Ovid zur tragischen Anthropologie. Darum rechnet er mit Phaeton nicht moralisch ab. Zu brüderlich ist er ihm, als daß Ovid nicht die Trauer um Phaeton nähergelegen hätte.

 

HILDEGARD VON BINGEN: ELEMENTISCHER KOSMOS UND KOSMISCHER LEIB

Viele der nachfolgenden Bilder sind Archäologien in dem Sinn, daß sie die Ordnungen des Ursprungs, in welchem zugleich das zeitlose Ganze einbeschlossen ruht, raumkonfigurativ vor das Auge treten lassen - und gerade darin den 'geistigen Sinn', der unsichtbar ist, doch in allem Sichtbaren sich 'hermetisch' mitteilt, begreiflich machen. Das kann man die Erfahrung der Bilder nennen.

Mit Fug darf eine Vision der Hildegard von Bingen (1098-1179) den Anfang der hermetischen Imagologie bilden. Ihre Kosmologie "De operatione dei" geht auf eine Serie von Bildschauen im Jahre 1163 zurück. Im berühmten Codex von Lucca finden wir zehn außerordentliche Miniaturen, welche in großer Treue den Text wiederum in Bilder rückübersetzen. Davon zeigen wir hier die zweite Vision (Abb.3). Auf jedem der Visionsbilder sieht man am unteren Rand Hildegard in ihrer Zelle, in welche mitunter durch eine Pforte das visionäre Bild als 'Strom' fließt. Hildegard steht "in der Bilder Flut". Vor ihr auf einem Pult liegt das Buch, worin sie ihre Bilder beschreibt. Gott selbst, in Hildegards Verständnis - gestützt auf das Johannes-Evangelium -, ist Wort, das zu Fleisch wird, nämlich zu Natur und Christus. Dieser hypostatische Prozess ist einer der medialen Übersetzung - von Wort in Bild. Welches letztere Hildegard wiederum in Wort verwandelt, bis es, durch den Miniaturisten, wiederum ins Bild rückverwandelt wird. Dieser mehrfache Vorgang der 'Übersetzung' von Wort und Bild spiegelt auf der Ebene der Medien den Vorgang der ersten Transsubstantion, durch welche Gott die Welt schöpft, d.h. sich in ihr 'verbildlicht'. Daß die Welt Leib Gottes ist, heißt: sie ist "Sinnen-Bild".

Hildegard von Bingen: Die zweite Vision. In: Liber Divinorum Operum simplicis Hominis. Cod.Lat. 1942 Bibliotheca Governativa di Lucca fol.6r (um1230).

Die doppelköpfige Figur, in deren Umarmung die elementische Natur und der Mensch eingezeichnet sind, ist die erste Hypostase Gottes: "das feurige Leben göttlicher Wesenheit" oder die "feurige Kraft". Der Feuerkranz, ununterschieden vom Gewand der welttragenden Figur, ist die primordiale Sphäre des Kosmos. In ihr schwebt der äußerste Sternenkranz, der die Grenze des Weltenrades markiert. Das Bildschema entspricht Maiestas-Darstellungen.  Das Feuer ist bei Hildegard also erste Darstellung Gottes. Feuer ist das Element des Lebens selbst. Das Feuer aber hat die Gestalt eines Menschen, weil es, christologisch, die im Menschensohn verkörperte Liebe Gottes ist. Alles, was ist, zeigt zuerst Feuerseele, das meint: von Liebe durchwirktes All. Diese durchaus den Eros zur Grundkraft erhebende Auffassung verbindet die Visionswelt Hildegards mit vorplatonischen Kosmogonien, besonders mit Heraklit und der Stoa, ja, selbst mit orphischen Spekulationen.  

Im Text beschreibt Hildegard die Sphärenringe der Rota. Sie entwickelt dabei eine originelle Kosmologie, die - obwohl von der Elementenlehre beeinflußt - sich dennoch vom ptolemäischen Weltbild unterscheidet. Dem äußersten Kreis des Urfeuers (ignis lucidus) folgt das schwarze Feuer (ignis niger). Das ist ein absolutes Bild, dem bis zum Sol niger der Alchemie nichts Gleichartiges an bestürzend kühner Metaphorik folgt. Das entzweite Feuer entspricht der Entgegensetzung schaffender Liebe und strafendem Gerichtsfeuer. Unterhalb der Feuerkreise erscheinen die Sphäre des reinen Äthers (aether purus), der wässrigen Luft (aer aquosus), der starken Klarluft (aer fortis), der die wolkenschwangere dünne Luftschicht (aer tenuis) folgt. Sie ist die Sphäre des terrestrischen Lebens. Sie hält alles Obere ab und absorbiert es zugleich im Regiment des Wetters. Im Zentrum schwebt die Erde. Die Allverbundenheit der Erde entwickelt die vierte Vision, wobei Hildegard den Kreislauf der Elemente und das organische Leben des Menschen so dicht ineinanderblendet, daß wie niemals zuvor Mikro- und Makrokosmos in engster Verwebung erscheinen. Anthropologie, Lebenslehre und Medizin sind eins mit der Kosmologie

Das Achsenkreuz, das durch das Geschlecht des Mikrokosmos und den Mittelpunkt der Erde läuft, bildet die Vierung der Himmelsrichtungen und das Regiment der vier Kardinalwinde. Diese werden hier durch Wolf, Löwe, Leopard und Bär dargestellt, umgeben von den Nebenwinden, durch Hirsch und Krebs, Lamm und Schlange repräsentiert.

Seit Isidor von Sevilla und Hrabanus Maurus, die wesentlich zur Integration der Elementenlehre in die Schöpfungstheologie beitrugen, sind die Elemente eingeführt als dynamischer Stoffwechsel und stabiler Kreislauf der Natur, von Gott aus der Urmaterie ausdifferenziert. Bei Hildegard zeigt das Netz der Strahlungen, welches den Weltkörper und Menschenleib durchzieht, eine Porösität der Schichtungen und Körper an. Zugleich etablieren die Schichten auch Medien der Transformationen, des Zusammenspiels und der Trennung. Hildegard denkt sich die sphärische Anordnung so, daß die Kräfte von Feuer, Wasser und Luft sich der Erde und dem Menschen vermitteln. Freilich zeigen Krankheiten wie  Katastrophen, daß der Hildegardsche Kosmos von Spannungen, Gefahren, Brüchen bedroht ist und bleibt.

Die Windkräfte repräsentieren den Dynamismus der Welt; sie treiben den Umlauf der Rota an und wehen ihre Hauche dem Menschen zu. Das Wind-Regimen wird seit der Antike bis ins 17. Jahrhundert als Bild der kosmischen Energie und der Dynamik der Kräfte benutzt. Sie durchhauchen das All und den Menschen als Lebensodem. Sterne befinden sich in regelmäßiger Anordnung in vier Sphären: den beiden Feuerkreisen, dem blauen Kreis des Äthers sowie dem weißen Reif der starken Klarluft. Für die Sterne gilt dasselbe wie für die Elemente: es geht Hildegard um Bilder des Durchwirktseins der Erde und des Mikrokosmos im Achsenkreuz der Welt. Das Netzwerk der Linien und Schraffen kreiert einen Kosmos medialer Strahlungen, nach Elementen differenziert, einen Kosmos also des Züngelns und Leuchtens, des Auf- und Abströmens und Wallens, des Hauchens und Brausens. Eben dies ist für Hildegard das Entscheidende: das animierende Kraftwerk der Elemente, wodurch das Leben des vierten Elements (Terra) und des Mikrokosmos (Mensch) seinen naturhaften Rhythmus erhält. Davon handelt die dritte und vierte Vision.

Der Mikrokosmos erinnert ikonologisch an den Proportionsmann Vitruv'scher Prägung, wie er später auch bei Alberti, Leonardo, Dürer, Agrippa u.a. zu finden ist. Hildegard selbst begründet die Position ihres Mikrokosmos so: "Gott hat den Menschen nach dem Vorbild des Firmaments geformt und seine Kraft mit der Macht der Elemente gestärkt; Er hat die Weltkräfte fest in das Innere des Menschen eingefügt, so daß der Mensch sie beim Atmen einzieht und ausstößt..." Theologisch drücken Haltung und Positionierung des Menschen sein Schöpfungsprivileg aus. Das Mitteninne im Seinsrund unterwirft den Menschen jedoch auch den Elementen: das ist die Seite der "pathischen Anthropologie" Hildegards. Die ausgebreiteten Arme des Mikrokosmos bedeuten hingegen, daß er "mit seinem Werk" das All durchdringt. Wie bei Ovid und in der Stoa ist der Mensch bei Hildegard durch die aufrechte Haltung ausgezeichnet. Sein Blick in die Weite und die geöffneten Arme bedeuten, daß er im Reich der Natur das Wesen ist, das einen Horizont hat: den Weltkreis.

 

THOMAS VON CHANTIMPRÉ: THEOLOGIE DER ELEMENTE

Das kosmische Schema (Abb.4) in der Enzykloplädie des Thomas von Chantimpré (1295) ist ein scholastisches Lehrdiagramm, bei welchem in Wort und Bild antike Kosmologie und christliche  Schöpfungstheologie eine Fusion eingehen. Wie bei Hildegard erkennen wir ein verbreitetes Bildschema: das Haupt, die Hände und Füße Christi, dessen Leib vom Kosmos gebildet wird. Außerhalb des Welt-Ringes sehen wir die vier Kardinal-Tugenden Prudencia, Iustitia, Temperancia und Fortitudo mit ihren Attributen:  Schlange, Waage, Kanne und Pokal, Löwe. Den Tugenden sind Merksprüche beigefügt. Die Tugenden bilden die ethische Vierung der Welt, worin diese eingelassen ist. Dies und die Leib-Christi-Theologie bilden die christliche Überformung der im übrigen elementaristischen Natura.

Abb.4: Kosmologisches Schema: In: Thomas von Chantimpré: De natura rerum. Bayerische Staatsbibliothek clm 2655, fol.105r (um1295).

Kreis und äußeres Quadrat bedeuten den Mundus. Im Kreisbogen stehen folgende Sätze: Seit ewig war der Lebendige im himmlischen Gespräch. Der Archetyp der Welt ist wahrnehmbar und fruchtbar. Der Mensch ist Mikrokosmos als Bild für alles von der Erde Hervorgebrachte. Durch die vierfache Kraft des Geistes und der elementischen Körper. In dieser Folge erkennt man vier Grund-Sätze einer christlichen Kosmologie, die auf der Makro-/Mikrokosmos-Analogie und der Elementenlehre beruht. An den Stellen, wo Kreis und Quadrat sich überschneiden, finden wir, namentlich bezeichnet, als Brustbilder die vier antiken Hauptwinde  mit je zwei Nebenwinden. D amit folgt das Diagramm der aristotelischen Metereologie.

Zwischen den Windfiguren erscheinen die Allegorien der vier Elemente, einen Reigen bildend. Das meint: daß alle Transformationen erfolgen im Kreislauf der Elemente. Auch dies ist aristotelische Lehre: oberhalb der Allegorien finden wir neben ihren Namen jeweils ihre zwei Qualitäten: Feuer (warm/trocken), Erde (trocken/kalt), Luft (feucht/warm), Wasser (kalt/feucht). Ihnen sind Emblem-Tiere beigesellt: Phönix, Hund und Schlange, Tauben, Fische. Erde und Wasser sind in dem Schema gezeichnet, das seit Lukrez für die Natura topisch ist. Es ist die Allegorie der Natura lactans: ihre Brüste nähren Menschen, Mann und Frau. Das Heidnische daran stört nicht; seit dem 9. Jahrhundert ist die Natura lactans ikonographisch nachweisbar. Die Alchemie bildet dann den Lukrez'schen Gedanken, daß terra hominis nutrix est, zu einem eigenen Bildschema aus.

Auf den Quadratseiten liest man: Aus dem Nichts schuf alles die Hand des Allmächtigen. Auf vierfache Weise bestimmt der Zusammenklang (Hymnus) der Elemente den Weltkreis. Damit wird zum einen, gegen die antiken Kosmogonien, das Werk Gottes als creatio ex nihilo betont, wie sie zuerst Laktanz dogmatisiert; während zum anderen eben dieser Antike durch Bezug auf die weltbildende Kraft der Elemente Reverenz erwiesen wird. Die elementische Natur erhält dadurch jene innere Gespanntheit, wie sie Johannes Scotus Eriugena (ca.810-ca.877) entwickelt hatte: sie ist geschaffene und zugleich schöpferische Natur. Der Begriff Hymnus erinnert an die platonische Sphärenharmonik. Sie wird  in der mittelalterlichen Kosmologie reich entfaltet, weil darin die Schöpfung Gottes in ihrer zugleich guten und schönen, d.h. zahl- und maßhaften Wohlgeordnetheit erfaßt werden kann. Innerhalb des Weltquadrats erkennen wir die Buchstaben für Caelum sowie die Elementensphären - ähnlich wie Hildegards rota elementorum. Im Firmamentum, das buchstäblich eingezeichnet ist, sind nur Sol und Luna in polarer Anordnung herausgehoben: was auf alchemistischen Einfluß schließen läßt. Doch seit ottonischer Zeit können Sol und Luna auch Feuer und Luft signifizieren. Und da unterhalb von Sol und Luna im Spiralwirbel die Wassersphäre eingezeichnet ist, die den Kern (die Erde) umschließt: so wären auch im inneren Quadrat alle vier Elemente wieder gegenwärtig: die vollständige fugura solida.

Gewiß fällt die topologische Form des Diagramms auf, die wenig geeignet ist, das Durchwehte und Durchstrahlte des Kosmos ins Bild zu bringen, wie es bei Hildegard charakteristisch ist. Der Gattungsunterschied von visionärer und lehrhafter (Bild-)Sprache ist markant. Im Lehrdiagramm geht es um die geometrische und allegorische Umsetzung vorgängiger Doktrinen, in mnemotechnisch-pädagogischer Absicht. Daher das Statische, Abstrakt-Überpersönliche, Zeitlose; während in den Illustrationen zu Hildegard die Referenz auf ihre Person und jenen Kairos im Jahres 1163 notwendig ist. Nicht umsonst steht deswegen bei Hildegard der Mensch herrlich (aber nicht: herrschaftlich) inmitten des Weltkreises. Er wirklich ist die vera ikon des Kosmos, nicht nur namentlich, sondern leibhaft.

 

ALCHEMISTISCHE BILDSPRACHE DER ELEMENTE

1625 erschien das "Musaeum Hermeticum", eine Sammlung von alchemistischen Traktaten. Das Frontispiz (Abb.5) von Matthäus Merian d.Ä. zeigt um die Titeltafel herum einen ornamentierten Bildkranz. Der Stich ist ähnlich einem Altar komponiert, wobei an die Stelle des zentralen Tafelbildes der Titel des Buches tritt: dessen Inhalt, der durch Aufklappen der Seiten wie bei einem Wandelaltar sich offenbaren wird, erhält den Status des heiligen Arkanums, auf das alle Nebenbilder verweisen.

Abb.5: Matthäus Merian: Frontispiz fol 1r zu: Musaeum Hermeticum. Frankfzrt/M. (Lucas Jennis) 1625. Hier nach der Ausgabe Frankfurt/M. (Hermann Sand) 1677.

 

Die vier seitlichen Medaillons enthalten Elementen-Allegorien mit ihren Attributen. Darunter auf den Sockeln sind Sol und Luna (Attribute:Löwe/Sonne und Krebs/Mond) dargestellt: die basale Polarität des Makro- und Mikrokosmos, von Tag und Nacht, Gold und Silber sowie von Mann und Frau. Ihre Vereinigung (Hochzeit) ist das Ziel der Alchemie. Im oberen Bildstreifen erkennt man links den Vogel Phönix in der Flamme. Er ist in alter Tradition ein Symbol der Resurrektion vom Tode. In der Alchemie wird er zumeist als Allegorie des Prozesses verstanden: um den Stein der Weisen zu erlangen, müssen die Stoffe ins Elementen-Chaos aufgelöst werden, um von diesem tiefsten Punkt aus die edleren Kombinationen zu synthetisieren. Das gilt auch geistig: es bedarf der Regression auf den Punkt des kleinen Todes, der nigredo, um die höheren Stufen der Einsicht zu erreichen. Dem entspricht, gegenüber, der Pelikan, der sich, die Brust aufreißend, selbst zum Opfer bringt, um mit seinem Blut die hungrigen Jungen zu retten.  Auch dies ist christologisch gedeutet worden. Hier sind beide Tiere Embleme der al–chemischen Transmutation. Phönix und Pelikan sind beigesellt Athene (mit Rüstung und Eule) als Göttin der Weisheit und Merkur/Hermes (mit Caduceus, Flügelhelm und -schuhen) als Schutzgott der Alchemie und als Symbol des Quecksilbers (Mercurius). Zwischen beiden das Medaillon des kitharaspielenden Apoll mit Sonnen-Nimbus, umgeben von neun Musikantinnen, die auf die pythagoräische Harmonie des Kosmos verweisen. Apoll und die Musen als Emblem der Alchemie: das erklärt diese zur Kunst (ars magna, wie sie oft heißt).

Unten, zwischen Sol und Luna, befindet sich ein Emblem, das fast gleich als Nr. 42 in Michael Meiers "Atalanta Fugiens" (1618) erscheint. Es trägt dort die Inscriptio: Dem/ der in Chymicis versiret/ sey die Natur/ Vernunfft/ Erfahrenheit und Lesen/ wie ein Führer/ Stab/ Bryllen und Lampen. Durch die Nacht schreitet Natura mit dem Hexagramm der vereinigten vier Elemente in der Rechten und der Traube als Symbol ihrer Fruchtbarkeit in der Linken. Ihren Spuren  folgen zwei Al–chemisten mit Stab, Brille und Laterne. Sie bedeuten  Erfahrung, Belesen–heit und lumen naturale (=Vernunft): diese drei bilden die subjektiven Voraussetzungen der ars magna.

Das zweite Fronstispiz (Abb.6) des "Musaeum Hermeticum" stammt vermutlich auch von M. Merian. Die Subscriptio des Daniel Meissner variiert den Grundsatz der "Tabula Smaragdina" des legendären Hermes Trismegistos: "Was in den Höhen ist, das ist auch in den Tiefen./ Jenes zeigt der Himmel, dieses trägt füllig die Erde in sich./ Feuer und Wasser, beide fluidal, sind Gegensätze: glücklich bist du/ kannst du sie vermählen: das zu wissen sei dir genug!"

Abb.6: Matthäus Merian oder Umkreis: Zweites Frontispiz fol.5v zu: Musaeum Hermeticum (s. Abb.5).

 

In den Eckzwickeln sind die Elemente plaziert, kreuzweis contraria bildend. Ihre Anordnung zeigt, daß sie die Bausteine oder Prinzipien von allem sind, was der Weltkreis umfaßt. Das All wird durch zwei Zirkel symbolisiert, deren Überschneidungs-Segmente Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Oben und Unten repräsentieren. In beide Kreisseg–mente sind die sieben Planeten eingetragen, mit Sol und Luna als flankierendem Gegensatz–paar. Die sieben klassische Metalle, die in der Erdhöhle zum Chor versammelt sind - geschart um den Lyra spielenden Apoll -, sind 'Korrespondenten' der Planeten. Der Metallschimmer im Erdinneren ist der Abglanz der himmlischen Strahlkraft. Das ist spätantike alchemistische Auffassung. Das Metallkonzert in der Erdhöhle wiederholt die Sphärenharmonie. Die Höhle selbst ist ein (heiliger) Erduterus: Paracelsus hatte die uralte alchemistische Lehre der Schmiede und Bergleute mit Autorität versehen, daß die Erde als fruchtbare omniparens (Allmutter) gynäkomorph zu verstehen sei: in ihrem uterinen Inneren wachsen, unter sperma–tischem Einfluß der Gestirne, die Metalle heran. Sie 'reifen' wie Embryos: sie transformieren sich im Lauf der Zeit in Richtung auf das Gold, welches das Ziel aller terrestrischen Vorgänge ist. Gold zu erzeugen, heißt also, daß die Alchemisten kopieren und beschleunigen, was im Erduterus als langzeitige Metamorphose 'naturwüchsig' geschieht. Kunst ist das Können dessen, was Natur von sich aus tut, mimetische Technik mithin.

Daß es um das Opus geht, ist an den drei Allegorien auf dem Erd–hügel abzulesen. Die linke trägt das Zeichen von Feuer und Luft, die rechte das von Erde und Wasser; die mittlere hält das Zeichen der Vereinigung aller Elemente, das Hexagramm, das Symbol des Universums. Der Nimbus um die Häupter der drei Frauen und der Metall-Allegorien verweisen dar–auf, daß Natur sakral ist; und die Elementen-Hochzeit der Al–chemie im Zeichen chorischer Harmonie ist ein heiliges Ritual der Wiederholung organischer Vorgänge.

Doch 'bedenkt' der Stich auch die Grenzen des Wissens. Der Brunnen der Weisheit, welcher in die Tiefe führt, hat kein Schöpf-Seil. Man soll erkennen: 'Tiefer' in die secreta naturae einzuführen als hier geschieht, ist nicht möglich. Selbst das Wissen um das Wirken der Zahlen und Figuren, das Novalis der hermetischen Tradition noch als Besitz zuschrieb und das nun ver–loren sei, lüftet nicht, sondern vertieft das Geheimnis: die Eins der Einheit, die Zwei der polaren Gegensätze, die Drei als Vereinigung der Polarität, die Vier der Elemente, das Hexagramm, die Sieben der Planeten und Metalle, schließlich Dreieck, Sechseck, Quadrat und Kreis - man 'sieht' sie zu Gestalten werden und 'begreift' es doch nicht. So wird zum sprechenden Bild, was doch zugleich ins Undarstellbare und Unsagbare sich zurückzieht.

 

MUNDUS ELEMENTARIS

Der Stecher der Falttafel "Mundus Elementaris" des "Musaeum Hermeticum" ist unbe–kannt (Abb.7). Es ist der zweite von vier Systementwürfen der hermetischen Philosophie. Figura I stellt den Mundus Intelligentiarum dar, Figura III die Genesis der Welt im biblischem Schema. Der vierte Stich stammt von Matthäus Merian (Abb.8).

Abb.7: Schule Johann Theodore de Bry: Mundus Elementaris (Falttafel). In Dyas Chymica Tripartia. Frankfurt/M. (Lucas Jennis) 1625 (sowie in: s.Abb.5).

Abb.8: Matthäus Merian: Portavit eum ventus in ventre suo. EMblem I in Michael Maier: Atlanta Fugiens, hoc est Emblemata nova de Secretis Naturae Chymica. Oppenheim (Johann Theodore de Bry) 1618.

 

Das Tableau des Mundus Elementaris kann als die Summe jener Versuche gelten, die vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert unternommen wurden, um das Ganze der Natur in ein geometrisches und emblematisches Systembild zu integrieren. Der Weltzirkel des Mundus Elementaris ist umgeben von einem wolkenerfüllten Quadrat mit den vier antiken Hauptwinden. Darin spiegelt sich eine alte Mehrdeutigkeit des Wind-Regimen. Der Milesier Anaximenes (gest. um 525 v.Chr.) hatte den Ursprung des Seins wie sein Lehrer Anaximander in einen Urgrund, ins Grenzenlose gesetzt, dieses jedoch nicht abstrakt, sondern als Luft (aér) gefaßt. Die übrigen Elemente wie die Gestirne und Dinge der Welt entstehen durch Verdichtung und Verdünnung der Luft. Im Menschen zeigt der Atem, daß die Luft als Lebensprozeß selbst zu verstehen sei. Entscheidend ist, daß Anaximines als Vater des Gedankens gilt, daß die Luft seelenartig sei - die Psyche ist ursprünglich der Hauch und die Luft ist die Seele des Kosmos. Das wurzelt im mythischen Denken. Im einem Mythen-Fragment tanzt Eurynome, die Matrix des Seins, auf den Wellen und erzeugt so den Wind, knetet ihn zur Schlange Ophion, begattet sich mit ihm und gebiert das Weltei. Der Wind ist fruchtbar. Abstrakter gesagt: er ist lebenzeugendes Prinzip, anima mundi. Daß derartige Vorstellungen noch in der Neuzeit lebendig waren, zeigt Emblem Nr.I Potavit eum in ventre suo aus der "Atalanta Fugiens" (1618) des Michael Maier, gestochen von Matthäus Merian (Abb.8). Der Wind trägt die prima materia in sich wie ein Embryo.

Dies ist für die Deutung des Stiches "Mundus Elementaris" aufschlußreich. Die außerhalb des Weltenkreises plazierten Winde repräsentieren die Sphäre des Aér. Die Winde sind Allegorien der prima materia. Die gegenüber der geometrischen Ordnung des Weltkreises ungestalt wirbelnden Wolken erinnern ikono–graphisch auch an Darstellungen des Chaos, etwa bei Robert Fludd (1574 - 1637) (Abb.9). Als spiritus mundi verweisen die Winde aber auf das Zentrum des Stiches "Mundus Elementa–ris": hier erkennt man die Anima, die Weltenmitte. Ihr sind von ihrer Entstehung an treue Engel zum Schutz zuerteilt (so erklärt der Satz im inneren Kreis). Anima ist hier ein 'kleiner Mensch'. Die Weltseele, die im Bildaußen von den Winden repräsentiert ist, korrespondiert im Innersten dem Mikrokosmos, dem Menschen, der, nach Paracelsus, in die Gebrechlichkeit geordnet, d.h. von den Mächten der Natur durchwirkt und mithin schutzbedürftig ist; der aber  gleichwohl Kern und Abbrevia–tur der Natur ist, welche letteral als NATURA und ikonisch als Sternenkranz das Medaillon des Zentrums umzirkelt. Von der Bildstruktur her bildet das Medaillon (Anima) die Nabe des Weltenrades, dessen Speichen von den vier Wortsäulen und dessen Laufring vom Zodiakal-Kreis und dem Zeit-Kreis (Monate, Jahreszeiten) gebildet werden.

Abb.9: Das Chaos der Elemente. In: Robert Fludd (s. Abb.1), S.41.

Eine Bildparallele finden wir in einer Mikro-/Makrokosmos-Illustration zum Werk des engli–schen Hermetikers Robert Fludd "Utriusque Cosmi Maioris scilicet et Minoris Metaphysica, Physica Atque Technica Historia" (1617, Abb.10). In diesem Stich finden wir den makrokosmischen Weltkreis im mikrokosmischen dupliziert. Diesen füllt harmonisch der Vitruv'sche Proportionsmann aus.  Das Weltganze ist von Chaos-Wolken umhüllt. Chronos-Saturn dreht den Kosmos an einem (endlichen) Seil ab, ihn in Bewegung haltend und zugleich Anfang und Ende terminierend. Der makro–kosmische Weltkreis ist aufgebaut in Fixsternhimmel, sieben Planetenkreise und vier unbe–zeichnete Ringe, welche die Elementensphären meinen. Im oberen Kreissegment findet sich mit Sol und Luna der antagonistische Dualismus von Licht und Dunkel, Tag und Nacht, Männlich und Weiblich. Diese Polarität stellt innerhalb der konsumtiven Zeit (der gefräßige Saturn) das produktive Prinzip dar. Sol und Luna sind Regenten auch der mikrokosmischen Welt (das innere Kreissegment).

Abb.10: Schema des Makrokosmos und Mikrokosmos. Titelkupfer zu Robert Fludd. (s. Abb.1).

Von den Sternzeichen des inneren Zodiacus gehen - wie bei Hildegard - Strahlen aus, die den Leib des Menschen durchziehen: diese Strahlen markieren den Einfluß der Gestirne auf bestimmte Organe. Dies ist im Stich "Mundis Elementaris" klarer ausgeführt, so z.B. Pisces gubernant Pedes (Das Sternbild Fische regiert die Füße) oder Libra continet Renes et Vesicam (die Waage bestimmt die Nieren und die Blase).

In den vier innersten Ringen sind bei Fludd die Temperamente angeordnet. Diese vier Ringe entsprechen denen der Elemente im makrokosmischen Kreis. Auch hier ist das Blatt "Mundus Elementaris" genauer: dem Element Erde wird der Winter und Melancholia (schwarze Galle), dem Feuer der Frühling und Pituita (Schleim, Phlegma), der Luft der Sommer und Bilis (gelbe Galle, Cholé) sowie dem Wasser der Herbst und Sanguis (Blut) zugeordnet. In den sieben Planetenkreisen sind diagonal gegenübergestellt die Namen der sieben Membra Micrososmi und die der Planeten, die Namen der sieben klassischen Metalle und die von sieben Engeln.

Sodann folgt der Ring, in welchen - theosophisch-rosenkreuzerisch - die drei Prinzipien, drei Welten, drei Zeitalter und drei Regentschaften eingetragen sind. Dem folgt der Kreis der menschlichen Künste, wobei die klassischen sieben artes liberales um Physica, Medicina, Iurisprudentia, Alchymia und Theologica auf zwölf erhöht wird, d.h. um die drei Fakultäten sowie um zwei Wissensbereiche (Alchemie und Physik), worin sich die erst im 19. Jahrhundert eingerichtete naturwissenschaftliche Fakultät ankündigt.

Zu beachten ist schließlich, daß der geometrischen und ikonologischen Ordnung eine pythagoräische Zahlenordnung beigesellt ist. Die außerordentliche Achtung für Zahlenverhältnisse, geometrische Figuren, letterale Verknüpfungen und musikalische Harmonien zeigt, daß der 'Wille zur Ordnung' in der hermetisch-alchemistischen Tradition, trotz des häufig wüsten Durcheinanders der Texte, um nichts geringer ist als in der sog. "experimentellen Philosophie" eines Francis Bacons, auf den als Stammvater sich die neuzeit–liche Naturwissenschaft bezieht. Gott ist Klarheit und Licht - darin kommen nahezu alle Tra–ditionen überein. Und angesichts der überwältigenden Mannigfaltigkeit der Welt hatte man an der Arithmetik, der Geometrie, der Musiktheorie und der Schrift  gewissermaßen 'Spiegel' der Ordnung, worin etwas von der ursprünglichen Klarheit des göttlichen Universums einge–fangen werden konnten. So ist kein Wunder, daß Gott diesem Denken als ein Geometer, ein Mathematiker, ein Autor oder ein Komponist gelten konnte. Darin drückt sich aus, daß Gott ein Künstler und die Welt ein Kunstwerk ist. Noch ist Er nicht ein Mechaniker und die Welt nicht eine Maschine.

 

DAS PROJEKT DES UNMÖGLICHEN

Im folgenden Diagramm, welches die "Sylva philosophorum" des Cornelius Petraeus illustriert (17. Jh.), soll uns nur die Quinta Essentia im Zentrum interessieren, versehen mit einem Strah–lennimbus (Abb.11). Sie ist von der Logik de Bildes her: das Unmögliche schlechthin. Einmal die Ver–einigung der Elemente auf den antipathetischen Achsen: Vereinigung dessen, was sich ab–stößt. Und zum anderen die Vereinigung der völligen Gegensätze und der unmöglichen  Kombinationen. Die Quinta Essentia ist ferner der Zusammenfall von Aktiv und Passiv und von Fest und Flüssig. Die Quintessenz meint hier keineswegs den  Äther, welcher ja nicht das Unmöglichste, sondern das Wirklichste der Natur darstellt, das dem ewigen Sein Nächste und alles Seiende Umgebende und Ermöglichende. In den Diagrammen des Petraeus sind die Dinge der Natur durch den dynamischen Kreislauf der Elemente bestimmt. Die Quintessenz aber ist das unmögliche Zentrum dieses Kreises, die ausgeschlossene, doch strahlende Mitte des Seins. Eben in diese hineinzurücken, ja sie zu bewerkstelligen ist die Grundgeste der Alchemie. Die Alchemisten wollen das schlechthin Unmögliche und sie wissen, daß das, was sie wollen, logisch und real ausgeschlossen ist. Darum liegen Erhöhung und Absturz, Ekstase und Depression wie in keiner Geistesströmung - außer der Mystik - so nahe zusammen wie in der Alchemie.

Abb.11: Figura Macrocomus. Illustration zu COrnelius Petraeus: Sylva Philosophorum. Bibliotheek der Rijksuniversiteit Leiden Cod.Voss.chem q 61,fol.1,6 (17. Jahrhundert).

Wenn die Quinta Essentia die Vereinigung von Feuer und Wasser, Luft und Erde ist, heißt dies, nach Petraeus, ferner die Aufhebung der Gegensätze von Aktiv und Passiv sowie von Sympathie und Antipathie. Nimmt man ein weiteres Diagramm hinzu (Abb.12), so wird auch der Gegen–satz von Männlich und Weiblich, werden die Ausschlüsse zwischen Geist, Seele und Körper und es werden die Polaritäten der Temperamente aufgehoben. Was in der Ikonographie der Alchemie oft durch den Hermaphroditen oder die Verschlingung von Feuer und Wasser  figuriert wird - das ist der Bildtraum der Quinta Essentia, die Peträus hier nicht ikonisch, sondern logice als das absolut unmögliche Zentrum allen Seins faßt. Schärfer denn in diesen Diagrammen sind Gegensätze, Trennungen, Polaritäten nicht denkbar - während doch ihre Entfaltung nur dazu dient, um aufs inständigste sich an den imaginären Strahlpunkt der Mitte zu binden, worin aller Gegensatz, alle Trennung, alle Differenz zur Ruhe kommt. Das ist die Vision einer erlösten Welt - welchen Namen auch sie tragen mag.

Abb.12: Figur des Menschen. Illustration zu Cornelius Petraeus (s. Abb.11) fol.1,8.

Größe und Unmöglichkeit der Alchemie zeigt das 21. Emblem der "Atalanta Fugiens" (1618) von Michael Maier (Abb.13). Ein Pansoph unter–nimmt soeben eine ungeheure Operation - more geometrico und more theologico, worauf das Kreuz, die geometrischen Vorstudien und das Winkelkreismaß auf dem Boden verweisen. Der Pansoph ist also mit der Durchführung eben jenes Projektes beschäftigt, das in den Diagrammen des Cornelius Petraeus idealiter entfaltet wird. Der Zirkel kennzeichnet den Alchemisten als Geometer, d.h. aber auch als Weisen in jener Kunst, mit der Gott die Welt schuf. Es ist ein fester Bild-Topos - nach Sapientia Salomonis 11,20: "Du hast alles eingerichtet nach Maß, Zahl und Gewicht." -, daß Gott mit einem Zirkel die Welt konstruiert. Der Zirkel in der Hand Gottes und des Weisen drückt die Hoffnung aus, daß der Kosmos sich der menschlichen Vernunft in derselben konstruktiven Transparenz erschließt wie Gott selbst. Dies wiese den Menschen als secundus deus aus, d.h. als gottesebenbildliche quinta essentia der Natur. Mit gött–lichem Attribut also versehen, unternimmt er das opus magnum der Alchemie. Mann und Frau vom Kreis umschlossen: das symbolisiert deren androgyne Einheit. Der Kreis im Quadrat bezeichnet die Einheit in den vier Elementen. Das elementische Quadrat wiederum ins Dreieck eingelassen, meint deren Transformierbarkeit nach den drei Pinzipien Salz, Schwefel und Quecksilber. Das Dreieck soll wiederum eingeschlossen werden in die höchste Einheit, den äußeren Kreis, der den Stein der Weisen symbolisiert.

Abb.13: Matthäus Merian: Emblem XXI: Opus Magnum. In: Michael Maier: Atlanta Fugiens (s. Abb.8).

Das Besondere des Stiches von Matthäus Merian d.Ä. besteht nun darin, daß die Konstruktion scheitert - wie die Quadratur des Kreises. Die Transformationen in immer höhere Einheiten gehen nicht auf. Die Konstruktion kann nicht aufgehen. Man bemerkt nun, daß die Zeichnung auf einer Ruine angebracht ist, deren Mauerwerk selbst ein Quadrat bildet, in welches der äußere Kreis so wenig genau paßt wie das Dreieck in den Kreis. Wir wohnen mithin dem dramatischen Augenblick bei, in welchem das alchemistische Projekt scheitert - mit eben der Notwendigkeit schei–tert, mit welcher der Alchemiker geistig und psychisch sich ihm verschreibt. Und die Zeichen des Verfalls sagen, warum: die Endlichkeit menschlicher Einrichtungen - wozu das Konstruk–tive selbst gehört - verurteilt das Opus magnum zum Scheitern. Jetzt wird der Zirkel anders 'sprechend': er ist viel zu groß für den Menschen. Auf keinem anderen Bild gibt es eine so augenfällige Disproportion zwischen Körpergröße und Zirkel. Nicht nur weil er endlich, auch weil er zu klein ist selbst in seinem größten Verlangen, vermag der Mensch nicht die in der Natur entäußerte Magnamitas Gottes zu konstruieren oder gar zu beherrschen.

Der Alchemie ist das Bewußtsein inhärent, daß sie sich an etwas versucht, was sich ihr prinzi–piell versagt; daß sie auf Grenzen stößt, die zu überschreiten ihr ganzes Verlangen ist. Ihr erschließt sich das Innerste der Natur so wenig wie deren Äußerstes. Das hat noch der Goethesche Faust zu lernen. In dieser Weise reflektiert der Alchemist die Grenzen des Wissens, ohne es zu verwerfen, und setzt seine Würde und Weisheit darin, zwischen furor divinus und Melancholie, zwischen Aufschwung und Absturz sein nicht enden könnendes Werk zu betreiben.

Daß Michael Maier bzw. Matthäus Merian mit dem Scheitern der Konstruktion einen beson–deren Akzent setzt, wird sichtbar, wenn man einen Stich aus der "Philosophia Reformata" von Johann Daniel Mylius heran–zieht (Abb.14). Der Stecher ist Balthasar Schwan. Hier geht die Konstruktion auf. Der Kosmos, angedeutet durch den Fixsternhimmel und die in der Mitte schwebende Erde, wird bestimmt vom polaren Prinzip: Sol und Luna, welche Licht und Schatten im Makrokosmos sowie Mann und Frau im Mikrokosmos regieren. Die vollendete Symmetrie der Linien, Formen und Ikonen des Stiches suggeriert einen harmo–nisch tarierten Weltaufbau vom Kleinsten zum Größten und die Möglichkeit, ihn mit den Mitteln der Alchemie konstruieren zu können: insofern ist hier, im Bild und als Bild, die quinta essentia gegenwärtig. Der Strahlglanz und die formale Ausgewogenheit des Stiches sind ästhetischer Ausdruck des emphatischen  Wunsches der Alchemie, das Ganze der Natur er–kennen und operativ beherrschen zu können. Deshalb können die Stiche aus der "Atalanta Fugiens" und der "Philosophia Reformata", insofern sie beide aufs gleiche Projekt bezogen sind, geradezu als die Ikonen der zwei Seiten der Alchemie gelten, ihrer grandiosen, mit dem harmonischen Ganzen verschmelzenden wie ihrer von desperatem Ruin und grübelnder Vergeblichkeit geprägten Seite.

Abb.14: Balthasar Schwan: Die Harmonie des Kosmos. Illustration zu Johann Daniel Mylius: Philosophia Reformata. Frankfurt/M. (Lucas Jennis) 1622.

 

MATTHÄUS MERIAN: ALCHEMISTISCHE WELTLANDSCHAFT

Das IV. Systemblatt aus dem "Musaeum Hermeticum" stammt von Matthäus Merian d.Ä.; es ist die Inkunabel der alchemistischen Druckgraphik (Abb.15). - Beginnen wir mit der geometrischen Ordnung. Die Querachse scheidet die irdische Welt von der empyreischen Lichtwelt der Trinität mit Engelschören. Die Mittelachse trennt Tag und Nacht, die Sphären von Sol und Luna sowie von Mann und Frau. Die Vertikalachse läuft mitten durch den Alchemisten  sowie durch den einköpfigen Doppellöwen, aus dessen Maul quinta essentia, aurum potabile oder aqua viva strömt. Vertikal- und Horizontalachse treffen sich im Mittelpunkt der kosmischen Kreise; deren Zentrum wird vom Zeichen der quinta essentia gebildet, vielleicht auch von der nicht ganz korrekten Monas-Hieroglyphe des John Dee, dem Zeichen des Universums, eingelassen in Dreieck und Kreis. In diesem  sind die Dreiecke für die schweren (Erde, Wasser) und leichten (Luft, Feuer) Elemente und das Zeichen ihrer Einheit, das Hexagramm, plaziert.

Abb.15.: Matthäus Merian: Alchemistische Weltlandschaft. Falttafel IV in: Musaeum Hermeticum (s. Abb.7 und 5)

In den drei unteren Halbkreisen sind der Nachthimmel mit den sieben Planeten eingetragen, sowie Rabe, Schwan, Basilisk, Pelikan und Phönix, welche Prozeßstufen symbolisieren, und schließlich, ihnen  zugeordnet die Zeichen für Saturn, Jupiter, Mars, Venus und Merkur. Den oberen Halbkreis bilden die zwölf Zodiakus-Zeichen. Dem folgen der Kreis des Erd-, Sonnen und Sternenjahres sowie die Kreise der drei Operatoren Salz, Schwefel und Quecksilber, in je dreifachem Status. Das vierfache Feuer des alchemischen Prozesses bildet den Ring um den Kreis des opus magnum, auf das hin der gesamte Stich zentriert ist und das zugleich den Zusammenfall der beiden Welten darstellt.

Die Teilung der Weltlandschaft in Tag und Nacht wird in den vier unter die Fittiche von Phönix und Adler genommenen Elementen-Kreisen wiederholt. Ihre Zuordnung zu dem solar-männlichen und dem lunar-weiblichen Prinzip ist klassisch. Mann und Frau sind durch die 'Kette der Wesen' mit der Gesamtheit des Kosmos verbunden. Die catena aurea begegnet auch auf dem berühmten Kosmos-Schema "Integrae Naturae speculum Artisque imago" bei Robert Fludd (Abb. 16). Dort verbindet die Kette die göttliche Sphäre mit dem Kosmos, vermittelt über die Natura oder Anima Mundi. Sie kehrt hier, ikonologisch identisch, in der nächtlichen Luna wieder: auch diese steht - und das ist ein Topos - zugleich auf Wasser und Erde, trägt die Mondsichel auf Geschlecht und linker Brust, während der rechten ein Stern appliziert ist, von dem ein stellarer, die Erde befruchtender Strom ausgeht: das erinnert an die stellare Influentien-Theorie des Paracelsus. Die Traube, oft auch Zeichen der Natura, markiert ebenfalls die Fruchtbarkeit Lunas. Ihr zugeordnet ist Aktaion, jener Jüngling, der, als er Diana im Bade sieht, in einen Hirsch verwandelt und von seinen eigenen Hunden zerrissen wird. Der Mythos ist durch Ovid und, zeitgenössisch, durch Giordano Bruno kanonisch geworden und meint hier die arkane "Metamorphose", die Kunst der alchemischen Verwandlung. In der Alchemie ist Aktaion mit dem Kleeblatt auch cervus fugitivus, ein flüchtiger Stoff (manchmal auch Scheidewasser), der im Lösungs- und Sublimationsprozeß des weißen Schwefels (Columba Dianae) entweicht. Luna ist mit Diana identisch, nicht ungewöhnlich im mythischen Synkretismus. Aktaion trägt ein zwölfendiges Sternen-Gehörn, d.h. in die Metamorphose geht der ganze Himmel - der Zodiakus - mit ein. - Dem solaren Mann mit den Himmelszeichen auf Brust und Geschlecht ist der Löwe zugeordnet. Der rote Löwe ist oft das Arkanum schlechthin des alchemischen Prozesses (des Goldes, dessen Zeichen die Sonne ist). Sol und Luna werden durch einen Hügel getrennt, auf dem ein Wald wächst, die Metalle symbolisierend: der äußere Baumkranz bezeichnet die sieben klassischen Metalle, die den sieben Planeten zugeordnet sind und deren Zeichen tragen. Auf der Mittelachse steht der Baum des Goldes, im Erdreich wurzelnd und doch wie aus dem Kopf des Pansophen herwachsend. Neben dem Alchemiker stehen je sechs Bäume neuentdeckter Metalle und Stoffe. Der Pansoph trägt (wie die Sternmantel-Madonna!) einen in Tag und Nacht geteilten Kosmos-Mantel und hält sternenbesetzte Beile, Symbole der Scheidekunst, in Händen. Er steht auf dem doppelleibigen Löwen, der die Quelle der Roten Tinktur ist - oder aller anderen Namen für das Arkanum der sakralen und naturalen Welt, in dessen Besitz zu gelangen der Ehrgeiz des Alchemisten ist.

Abb.16: Integrae Naturae speculum Artisque imago. Frontispiz zu Robert Fludd (s. Abb.1), S.4/5.

Die unter den Stich gesetzten Texte - Ps.33,6 ; Ps 104,24,28-31 ; die legendäre "Tabula Smaragdina" - nobilitieren den maximalen Anspruch des Bildprogramms noch einmal. Der Stich ist christliches Schöpfungslob und Inbegriff der Alchemie in einem. Der Alchemist vollzieht den Zusammenfall aller Gegensätze, er repräsentiert, in seiner Doppelnatur, den idealen Hermaphroditen als Erlösungsfigur. Die geometrischen Symmetrien, die achsiale Ordnung, der ideale Schnittpunkt tellurischer, supralunarer und empyreischer Welt im lapis philosophorum, die Vereinigung der Elemente, die Beherrschung der Wandlungen der mineralischen und vegetabilen Welt, die Korrespondenzen von Mikro- und Makrokosmos, die Koinzidenz der Geschlechter - : der pulsierende Kosmos der Zeichen und Ikonen, wie er hier aufgeboten wird, stellt die äußerste Grenze der Alchemie dar. Niemals wieder werden Theologie und Naturwissenschaft derart in ein Programm verschmolzen. Niemals wieder wird menschliches Handeln sich derart in der Mitte der Welten situieren. Niemals wieder wird der Mensch sich verstehen als neuer Christus zur Erlösung seiner selbst und der ganzen Natur. Niemals wieder wird das generative Prinzip der Natur derart vollständig in die Regie des Menschen fallen und auch noch den Segen Gottes tragen. Das Stich resümiert noch einmal alle durch die Jahrhunderte verstreuten Energien der königlichen Alchemie. Was Merian ins Bild bringt, ist die Utopie der Alchemie schlechthin - ein wahrer U-Topos, die imaginäre Landschaft einer scientia sacra, jenseits derer nur der Zerfall der hier zur Einheit gebrachten Welten und Diskurse denkbar ist. Der Blick des Pansophen stammt aus einer fremden Welt und fällt auf einen Betrachter, der fortan radikal diesseits des Bildes steht und nur um den Preis der "Träume der Metaphysik" (I.Kant) in dessen Utopisch-Imaginäres treten kann.

 

SALOMON DE CAUS: DER HERSCHAFTSANSPRUCH ÜBER DIE NATUR

Das Frontispiz von "Les raisons des forces mouvantes" des Ingenieurs Salomon de Caus, 1615 erschienen, dokumentiert, mitten in der Heidelberger Hochburg der Alchemie, den Übergang von Magie zu Wissenschaft, mit der Pointe, daß die säkulare Technik das Mittel zu magischer Beherr–schung der Natur ist (Abb.17).

Abb.17: Frontispiz zu Salomon de Cuas: Les raisnos des forces mouvantes. Frankfurt/M. (Abraham Pacquart) 1615.

Die zentralperspektivische Kammer, durch ein Fenster den Blick auf Land und Meer öffnend, versammelt die Embleme eines technologischen Naturbeherrschungsprogramms, wie es um–fassender nicht gedacht werden kann. Auf der oberen Brüstung, auf der Mittelachse, steht ein Astrolab, umgeben von vier Putten, welche die Elemente repräsentieren. Sie stellen nicht die Naturreiche, sondern elementenbezogene Techniken dar: Hydraulik, Pneumatik, Agrartechnik, Optik. Das Astrolab ist hier als Beweis astronomischer Meßkunst zu ver–stehen. Die Natur steht in der Regie des Techniten.

Dieses grandiose Selbstbewußtsein artikuliert sich insbesondere in der griechischen Imprese oberhalb des Fensters: Niemand, der sich in Geometrie nicht auskennt, darf eintreten. Der Tradition nach gilt dies als die Inschrift über dem Tor zur Platonischen Akademie. Nicolaus Kopernikus  setzte diesen kategori–schen Imperativ vor sein epochales Werk "De revolutionibus orbium coelestium" von 1543. Was bei Platon das Motto einer theoretischen Natureinstellung war; was bei Kopernikus zum Initial einer auf Beobachtung, Messung und konstruktiver Berechnung beruhen–den Astronomie wurde -: das alles absorbiert de Caus in sein Werk, das er damit zum Grundbuch der Technik erhebt. De Caus stellt sich neben Platon und Kopernikus, ja, indem er von den "gewaltsamen Bewegungen" handelt, stellt er alle platoni–schen Spekulationen über die vom Demiurgen indizierten Bewegungen und alle Berechnun–gen Keplers über die natürlichen Revolutionen des Himmels in die historische Fluchtlinie, wonach in ihm, dem Bemeisterer der künstlichen Bewegungen, die Natur ihren neuen Autor gefunden hat.

Dieser universelle, die Geschichte der Naturphilosophie und Technik resümierende Anspruch zeigt sich deutlich auch an den vier Figuren: auf Licht und Schatten verteilt zum einen Merkur und Vulkan, die mythischen Repräsentanten technischer Kunst, und zum anderen Archimedes und Heron von Alexandrien, welche seit der Antike als Inbegriff instrumenteller Fertigkeit gelten. Im einzelnen könnte gezeigt werden: Während Archimedes, der Meister über Maß, Zahl und Gewicht, Reprä–sentant des strategischen Einsatzes von Technik ist, so figuriert Heron als Meister ihrer ästhe–tischen, ja spielerischen Verwendung (das erhöht noch die Soveränität des Techniten): der Saugheber in Herons Hand weist ihn als Physiker hydraulischer und pneumati–scher Maschinen aus, wie sie vorwiegend in der Gartenkunst zum Einsatz kamen. Zylinder und Pumpkolben gehören dem ebenso zu wie die Orgelpfeifen, welche an seine berühmte Memnon-Statue erinnern. Daneben erkennt man  das Modell des Heronbrunnens; auch er ist mit der Garten- und Wasserkunst assoziiert. Bei Brunnen und Statue geht es um Automaten, welche der technischen Simulation von Leben, d.h. einer Maschinenkunst dienen, welche die vier Elemente in ein artifizielles, selbstregulatives Arrangement bringt. Künst–liche Vögel, 'lebende' Statuen, automatische Orgeln, hydraulisch-pneumatisch selbstbewegte Zierbrunnen, wie sie Heron zugeschrieben werden (und wie sie de Caus konstruiert) zeigen den Techniten als Archetyp einer aus dem Mythisch-Magischen abgezogenen divinen Potenz.

Der Ingenieur, Architekt und Gartenbaumeister Salomon de Caus stilisiert sich mit diesem Kupferstich auf der selbstbewußten Linie des homo sesundus deus: er ist der Herr einer zweiten Schöpfung, weil er Meister der "gewaltsamen Bewegungen" ist, Meister über gewaltige Energie–potentiale wie auch über ästhetisch-zweckfreie, mithin göttliche Kunst. Die vier Elemente sind gänzlich zu Medien der Technik geworden. Sie werden figural repräsentiert, nicht um ihre Macht, sondern,  im Gegenteil, um die Technik in ihrer Erstreckung über alle Reiche der Natur zu pointieren. In den angedeuteten Maschinen besteht die Kunst gerade darin, die Elemente so für sich arbeiten zu lassen, daß sie 'entgegen ihrer natürlichen Be–wegung' (para physin, wie es bei Aristoteles heißt) den Antrieb einer maschinalen Konfiguration liefern, welche - Gipfel der techni–schen Rationalität - den magischen Anschein von Natur und Leben annimmt. Diese magische Funktion enthält das trei–bende Motiv des technischen Programms: Magie ist die Bemeisterung der Natur so, daß dabei der Mensch mittels seiner künstlichen Objektivationen sich zum zweiten Gott erhöht.

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