Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt am Main 1988.
I. Naturgeschichte


Lebendige Natur.

Wissenschaftskritik, Naturforschung und allegorische Hermetik bei Goethe

I

Einen seiner freiesten Entwürfe des Verhältnisses von Mensch und Natur hat Goethe in seiner Schrift über Johann Joachim Winckelmann nahezu versteckt:

Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern. Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut. (HA XXII, 98) [1]

Ein derart vorsichtig bedingender wie jubilatorischer Ton ist in Goethes Schriften selten. Die poetische Emphase der Natur findet sich, je älter Goethe wird, um so seltener. Und wenn doch einmal, so eher in der Lyrik, in einigen Passagen des Faust oder der Wanderjahre. Und selbst hier ist das, was jenen jubilatorischen Kern der Goetheschen Naturauffassung anbetrifft, zunehmend in hermetische Sprechweisen und reflektierende Vorbehalte eingeschlossen. Goethe hat längst den eigenen Beginn der Erfahrung und des Wissens von Natur historisch bedacht: der jugendliche Impetus, die enthusiastische Setzung kosmischer Ganzheit, in die sich der Sprechende selig einfühlt : dieser Zug in eine grandiose Einheit mit Natur, bevor das logozentrische Bewußtsein seine unheilbaren Schnitte zwischen Subjekt und Objekt zieht, liegt hier 1805 für Goethe nicht nur lebensgeschichtlich, sondern auch menschheitsgeschichtlich lange zurück. Kaum einige Seiten später sieht Goethe, anläßlich der Klage Winckelmanns über die Philosophen, sich zu der allgemeineren Bemerkung veranlaßt, "daß kein Gelehrter ungestraft jene große philosophische Bewegung, die durch Kant begonnen, von sich abgewiesen, sich ihr widersetzt, sie verachtet habe, außer etwa die großen Altertumsforscher" (HA XII, 120). Hier spricht Goethe auch von sich. Kant steht für ihn repräsentativ für neuzeitliches, kritisches Bewußtsein, das die Formationen des Wissens diesseits einer kosmologischen Ordnung des Seins auf die immanenten Strukturen des Verstandes begründen, aber auch auf diese einschränken muß. Die Begegnung mit Schiller konfrontierte Goethe mit dieser epochalen Bewußtseinsform einer ihm durchaus fremden und zwang ihn, sich seiner naturforscherischen und philosophischen Eigenart inne zu werden.

Die Goethesche Reaktion läßt sich so umreißen: Man kann hinter Kant nicht zurück; dennoch aber ist Kant nicht die Wahrheit. Daß Goethe, trotz Kant und Newton, auf vorkritische, ja vormoderne Konzepte von Natur insistiert nicht länger naiv, sondern von Schiller gewissermaßen zu sentimentalischer Reflektiertheit gezwungen ö: diese wissenschaftsgeschichtliche Seltsamkeit ist um so bedenkenswerter, als heute nicht länger von der fraglosen Geltungsuniversalität der Naturwissenschaften ausgegangen werden kann. Man wird heute, anders als die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts, die im Brustton ihrer positivistischen Überzeugungen bedauern konnten, daß Goethe anstelle seiner "pseudowissenschaftlichen" Studien nicht Dramen und Gedichte geschrieben hat man wird heute leichter eine substantielle Bedeutung der Goetheschen Naturforschungen einräumen wollen, in die er über Jahrzehnte einen gut Teil seiner Zeit und Kraft verausgabt hat. Dabei geht es nicht um die Rehabilitation der Ergebnisse seiner Forschungen, die sehr oft unhaltbar bleiben, und erst recht nicht um die Rettung eines Klassikers. Sondern jene paradoxe Haltung, die Kant als epochale Wendemarke respektiert, und dennoch einen Naturbegriff zu wahren unternimmt, der im Kantschen Sinn "überschwänglich" ist, wäre von heute aus zu lesen als das sensible Wahrnehmen davon, daß die Fortschritte der Naturbeherrschung auch einen gravierenden Verlust bedeuten. Nicht das Einzelwissen Goethes, wohl aber der Wissenstypus, dem er folgte, bedarf einer neuerlichen Reflexion um so eher als das Kantsche Paradigma von Erkenntnis auf eine theoretische wie die Natur praktisch betreffende Weise in eine unabsehbare Krise geraten ist.

Die historische Marginalität seiner Position ist Goethe völlig durchsichtig. So sehr, daß man den Hermetismus seines Altersstils verstehen könnte als eine Schreibweise, die die innersten Überzeugungen seines Naturdenkens aufgrund der Einsicht in ihre historisch exzentrische Positionalität ins Verborgene rückt. Der Goethesche Hermetismus wäre dann eine Form von Erinnerungsarbeit, der Archivierung von Gedächtnisspuren und verlorenen Wissensbeständen, die gegenüber dem ratiozentrischen Bewußtsein der zeitgenössischen Wissenschaften nahezu notwendig den Status eines "Subtextes", ja des "Verdrängten" und "Unbewußten" haben. Dies natürlich nicht im Freudschen Sinn. Sondern der Hermetismus ist die Sprachform einer von Goethe bewußt gewählten Strategie, in die Erinnerung einzuschreiben, was dem Zeitbewußtsein entgeht. Diese Erinnerungsarbeit Goethes ist angelegt auf zukünftige Entzifferung. Um diese muß es heute zunächst gehen: die Aufarbeitung des historisch Verdrängten von Naturkonzepten, um deren Verdrängung Goethe bereits wußte. Er empfand diese als ebenso notwendig wie verlustreich. Und da in seinen Augen die Romantiker außer dem zwischenzeitlich hochgeschätzten Schelling dies nicht taten, verlangte Goethe sich einen Gegendiskurs ab, der die Last bewahrender Erinnerung, trauernder Verabschiedung und utopischen Offenhaltens zu tragen vermochte.

Jene oben zitierte Stelle aus der Winckelmann-Schrift enthält genau diese Momente. Sie ist plaziert in die Skizze eines unwiederholbar Vergangenen: der Antike, die in bewußter Idealisierung als ein Lebenszusammenhang entworfen wird, welcher der unvordenklichen Fülle des Seins noch nahe ist, das aus der schönen Ordnung des Kosmos sich schenkt. Die Situation der Moderne, so schreibt er weiter, ist dagegen durch den zweckrationalen Gebrauch partikularer Fähigkeiten gekennzeichnet; "Außerordentliches" entsteht allenfalls durch deren Integration. Ferner kennzeichnet die heutigen Menschen ("wir Neuern") eine eigenartig pendelnde Bewegung zwischen dem "Unendlichen" und dem "beschränkten Punkt": eine Bemerkung, die nur als Konsequenz aus der mit der kopernikanischenWende eingeleiteten Transformation des Kosmos ins unendliche All und dem damit auch umgewälzten Selbstverständnis des Menschen im Universum verstehbar ist.

Zwischen diese Pole von Antike und Moderne rückt Goethe den zitierten, konditional eingeschränkten utopischen Entwurf. Dessen Offensein zur Zukunft verdankt sich der Kraft vergegenwärtigender Erinnerung. Was Goethe ins Utopische zu retten versucht, ist genau, was in der erkenntniskritischen Wende Kants unter Zensur geriet, verdrängt und vergessen werden mußte. Mit dem jubilatorischen wechselseitigen Spiegeln von Mensch und Weltall man erkennt die traditonsreiche Lehre von der Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos legt Goethe die Spur des Erinnerns, das die Balance einer ebenso anthropozentrischen wie kosmozentrischen Teleologie zitiert, als Spur der Zukunft aus. Das "freie Entzücken" des Menschen und das "Aufjauchzen" des Alls bilden ein erotisches Responsorium, das die verklungene Musik der Sphärenharmonie wieder aufnimmt im Konditionalmodus, der hier der Modus der unabgegoltenen Erinnerung einer Zukunft ist. Nicht zufällig nennt Goethe jenes der kosmischen Teleologie erwachsende Glück des Menschen "unbewußt". Dieser Ausdruck ist in der Epoche der Bewußtseinsphilosophie, die die kosmischen Korrespondenzen zerriß die genaue Angabe des Ortes jenes Responsoriums: die vorreflektorische Kosmosphilosophie der Antike, die dem wissenschaftlichen Bewußtsein unzugänglich geworden ist, und die darum den Status einer unabgelösten, verdrängten Erinnerung bekommt, also hermetisch wird wie die Sprache des alten Goethe.

II.

Der germanistische Blick auf die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts ist schief. Wir identifizieren dieses Jahrhundert als das der Aufklärung bis hin zu deren Radikalisierung, Komplementierung oder bestimmten Negation im Sturm und Drang, Jakobinismus, Klassik und Romantik. Das scheint der Entwicklung in Frankreich zu entsprechen, wo schon Zeitgenossen das 18. Jahrhundert als "Siècle de lumière" bezeichnen. Die "Querelle des anciens et des modernes" ist überwunden, die Encyclopédie und die Französische Revolution gelten als praktische Einlösungen des aufgeklärten Zeitalters. Die Naturwissenschaften bleiben durchschnittlich ausgeklammert und damit das Bewußtsein, daß Aufklärung hier ihren Kern hat. In seinen Grundlagen der Philosophie verweist d'Alembert dagegen schon 1750 zur Bestätigung des Epochenbewußtseins, nämlich Zeitalter der Philosophie zu sein, vor allem auf die Naturwissenschaften:

Die Wissenschaft der Natur gewinnt von Tag zu Tag neuen Reichtum; die Geometrie erweitert ihre Grenzen und hat ihre Fackel in die Gebiete der Physik, die ihr am nächsten lagen, vorgetragen; das wahre System der Welt ist endlich erkannt, weiterentwickelt und vervollkommnet worden. Von der Erde bis zum Saturn, von der Geschichte der Himmel bis zu der der Insekten hat die Naturwissenschaft ihr Gesicht gewandelt... Alle diese Ursachen haben dazu beigetragen, eine lebhafte Gärung der Geister zu erzeugen. Diese Gärung, die nach allen Seiten hin wirkt, hat alles, was sich ihr darbot, mit Heftigkeit ergriffen, gleich einem Strom, der seine Dämme durchbricht. Von den Prinzipien der Wissenschaften an bis zu den Grundlagen der offenbarten Religion, von den Problemen der Metaphysik bis zu denen des Geschmacks, von der Musik bis zur Moral, von den theologischen Streitfragen bis zu den Fragen der Wirtschaft und des Handels, von der Politik bis zum Völkerrecht und zum Zivilrecht ist alles diskutiert, analysiert, aufgeführt worden. Neues Licht, das über viele Gegenstände verbreitet wurde; neue Dunkelheiten, die entstanden, waren die Frucht dieser allgemeinen Gärung der Geister: Wie die Wirkung von Ebbe und Flut darin besteht, manches Neue ans Ufer zu spülen und wieder anderes von ihm loszureißen. [2]

Zweierlei ist hieran bemerkenswert. Zunächst, daß d'Alembert die Naturwissenschaften ins Zentrum der alle Bereiche der Gesellschaft umfassenden Aufklärung setzt. Hier aber ist das 18. Jahrhundert nur die Vollendung des 16. und vor allem des 17. Jahrhunderts, in welchen die entscheidenden Durchbrüche zur neuen Kosmologie, die wichtigsten technischen Erfindungen, die dazu erforderliche Mathematik und Forschungsstrategie erfolgten. Wenn d'Alembert die Naturwissenschaften zum Paradigma der Aufklärung macht, so wäre dies also zurückzudatieren auf die kopernikanische Wende (1543), das Programm der technischen Naturbeherrschung in Francis Bacons Neuem Organon der Wissenschaften (1620 ff.), auf Descartes' Konzept der universellen Mathematik (Von der Methode, Prinzipien der Philosophie), Galileis experimentelle Widerlegungen des Aristotelismus und Newtons abschließende Formulierung des Weltsystems auf der Basis des Atomismus und des Gravitationsgesetzes (Principia Mathematica, 1686). Es ist also das Zeitalter des Barock, das den entscheidenden epistemologischen Bruch erzeugt, der das aristotelisch-thomistische Weltbild zum Einsturz bringt und das Mittelalter von der Neuzeit, als deren Resümee sich dann die Aufklärung versteht, trennt. Wenn in der Goethezeit erste Momente einer Wissenschaftskritik auftreten und darin kommen über literaturgeschichtliche Fraktionen hinweg so verschiedene Geister überein wie Hamann, Herder, Goethe selbst oder die juvenile Avantgarde der Romantiker, dann sind dies nicht Reaktionen nur auf die unmittelbar vorangegangene Aufklärungsepoche, sondern auf einen 250sojährigen Prozeß. In dessen Verlauf hat der naturwissenschaftliche Wissenstyp und dessen Wirklichkeitskonzept monopolartigen Charakter angenommen. Was als Wissen gelten wollte, hatte den regulae der Vernunft zu gehorchen, und diese waren die der Mathematik und des Experiments. Und was als wirklich gelten wollte (und nicht als Traum, Wahnsinn, "Träume der Metaphysik"), hing - bis zu Kants Kritik der reinen Vernunft - letztendlich von der Definitionskompetenz und den Überprüfungsverfahren ab, welche in der Physik sich vom mikroskopischen Raum bis zum unendlichen All bewährt hatten. Hier galt: die Sinne sind Quellen der Täuschung; mißtraue den (aristotelischen) Autoritäten, d. h. den Büchern, den Überlieferungen der Religion, dem Gemurmel des common sense. Wahr und wirklich ist nur ein Buch, nämlich das in Zahlen geschriebene der Natur. Die mathematische Quantifizierbarkeit ist es, die über einen Aussagegegenstand entschied ähnlich dem Kapital, das durch die kalkulatorische Abstraktion des Tauschwerts eine effiziente Ordnung in das ungeheure Gewirr der sinnlich qualitativen Vielheit der Dinge, Menschen und Einrichtungen brachte. Die Wahrheit einer Sache ist, vermittelt durch Geld, Äquivalent einer beliebig anderen Sache werden zu können Auch dieser Prozeß der Rationalisierung der qualitativ differenten Dinge ist "Aufklärung" lange vor dem 18. Jahrhundert. Diese Entwicklungen also sind es, die d'Alembert ins "Jahrhundert der Philosophie" münden läßt und ins Panorama vernünftig durchsonnter Naturnützlichkeit und Fortschrittsgesellschaft, der Encyclopédie, einträgt.

Zweitens aber, und das überrascht, spricht d'Alembert von den "neuen Dunkelheiten, die entstanden", davon, daß "manches Neue" ans Ufer gespült, "und wieder anderes von ihm losgerissen" wurde. Die Aufklärung ist für d'Alembert zweideutig. Nahezu kein authentischer Aufklärer von Newton bis Kant, der von dieser Zweideutigkeit, die wir heute mit Horkheimer/Adorno "Dialektik der Aufklärung" nennen, nicht schon erfaßt war. Nicht nur, natürlich, Rousseau, auch z. B. Voltaire:

"Jedermann schickt sich an, den Geometer und den Physiker zu spielen" sagt er bereits 1735. - "Man befaßt sich mit mathematischen Verhältnissen . Das Gefühl, die Einbildungskraft und die Grazien sind verbannt. ... Die schönen Wissenschaften verkommen zusehends. Nicht, daß es mich ärgerte, daß die Philosophie betrieben wird, aber ich möchte nicht, daß sie zum Tyrannen wird und alles übrige ausschließt." [3]

Verbannen und Ausschließen als Gesten der Aufklärung? Und das sagt ein Mann, der wie kein zweiter sich zum Propagandisten des Newtonschen Weltbildes, es als mechanistische Weltmaschine mißdeutend, auf dem Kontinent machte? Im Kampf gegen die alten Mächte, Kirche, Religion, Metaphysik, Vorurteile, setzten die Aufklärer auf eine Vernunft, die ihnen nicht selten zum horror vacui wurde. Darüber half kaum der brüchige Optimismus hinweg, dessen höchster und angestrengtester Ausdruck die "Theodizee" in der Nachfolge Leibnizens war- bis sie 1755 mit dem Erdbeben von Lissabon endgültig zusammenbrach.

Aufklärung erzeugt neue Dunkelheiten? Reißt Stücke vom Ufer des Festlandes? Erzeugt hohe, schwer tragbare Kosten? Ist Verlust und Verdrängung womöglich, notwendige vielleicht, von Wissens und Erfahrungsformen, die es wert wären, erinnert und aufgehoben zu werden? Und wäre Aufklärung, indem sie alte Mächte erübrigt, zugleich die Etablierung neuer Herrschaft, vernünftiger zwar, doch Herrschaft nicht weniger? -Heute, angesichts des vielleicht zu Ende gegangenen Zeitalters der Aufklärung, stellen sich diese Fragen schärfer. Doch bestand für sie ein Bewußtsein schon um 1800. Das Naturkonzept Goethes und seine Wissenschaftskritik sind ein Symptom davon, daß zwischen dem Höhepunkt intellektueller Aufklärung und dem Beginn des technologischen Industriezeitalters, also in der protoindustriellen Phase zwischen Sturm und Drang und Romantik, sich eine erste Rationalitätskrise findet.

III.

Was eigentlich an der "experimentellen Philosophie" (Newton) ein Ungenügen weckt, ist leicht zu verdeutlichen an der Einstellung Goethes zum Experiment.

Sieht man auf die Newtonsche Zeichnung zur Refraktion des Lichts oder auf die hochentwickelten Teleskope Casgrains von 1772 oder William Herschels von 1784 [4] , so wird daran klar, wodurch neuzeitliche Wissenschaft sich von vormoderner unterscheidet: das Mißtrauen gegen die Sinne. Das ptolemäische Welt-

bild, sosehr es mathematisiert war, blieb immer ein Weltbild des Augenscheins. Dieser aber, so wurde durch die kopernikanische Wende deutlich, führt zu einer regelrechten Verkehrung der Wahrheit. Wissenschaft beginnt mit instrumentenvermittelter Beobachtung, aber auch, wie die Zeichnung Newtons zeigt, mit der methodischen Erzeugung des Phänomens, das untersucht werden soll. Nicht wie sie sich von den Sinnen her erschließt, wird Natur erkannt, sondern die Natur des Lichts wird abgelesen an einer künstlichen, apparativ erzeugten Erscheinung, in einer künstlichen Situation - dem verdunkelten Labor , mit künstlich stilisierter Wahrnehmung, dem Daten-lesen-Können. In der Natur kommt das, was Newton untersucht, so wenig vor wie das Ideal reibungsfreier Flächen, an denen Galilei, durch herunterrollende Kugeln, die aristotelische Theorie widerlegte, nach der jede Bewegung durch Antrieb zustandekomme. Erst dadurch, daß Galilei im Experiment ein Phänomen idealisierte, das in der Natur nicht vorkommt, gelang ihm die Formulierung des Trägheitsprinzips. Genau diese Zugangsweise zur Natur erregt das Mißtrauen Goethes, ja seine Wut:

Damit aber diese Lichter zum Vorschein kommen, setzt er dem weißen Licht gar mancherlei Bedingungen entgegen, durchsichtige Körper, welche das Licht von seiner Bahn ablenken, undurchsichrige, die es zurückwerfen, andre, an denen es hergeht; aber diese Bedingungen sind ihm nicht einmal genug. Er gibt den brechenden Mitteln allerlei Eormen, den Raum, in dem er operiert, richtet er auf mannigfaltige Weise ein, er beschränkt das Licht durch kleine Öffnungen, durch winzige Spalten, und bringt es auf hunderterlei Art in die Enge. Dabei behauptet er nun, daß alle diese Bedingungen keinen anderen Einfluß haben, als die Eigenschaften, die Fertigkeiten (fits) des Lichtes rege zu machen, so daß dadurch sein Innres aufgeschlossen werde, und was in ihm liegt, an den Tag komme. [5]

Was Newton in seinem experimentum crucis erzeugt, das "beliebte Spectrum", nennt Goethe ironisch "das Gespenst", womit er sich die damalige Bedeutung von lat. spectrum, engl. spectre = Gespenst zunutze macht. An anderer Stelle nennt er es ein "noch dazu verkünsteltes Phänomen" (HA XII, 961), das erst entstünde, wenn durch vielfache Bedingungen "das klare, reine, ewig ungetrübte Licht" der Sonne "in die Enge" getrieben, "gezwungen", wird, bis es sich in einer restlos von lebensweltlicher Erfahrung abgehobenen Weise zeigen muß. Goethe polemisiert hier gegen einen doppelten Zwang: den, der dem Licht, und den, der dem

Menschen, seinem Auge, angetan wird. Goethe spürt, daß die Naturwissenschaft eigentlich nicht Natur zum Gegenstand hat, nicht jedenfalls im Sinne der aristotelischen physis als dem vom Menschen nichtgemachten Bereich. Insofern das Experiment das zu Untersuchende herstellt (konstruiert), ist es techné Technik. Es erzeugt kein Wissen von Natur, sondern poietisches Wissen (Herstellungswissen). Dieser Kunstcharakter des Experiments erst ermöglicht die Formulierung von Gesetzen: im Experiment zeigt sich mit Notwendigkeit immer dasselbe, nicht das Zufällige, nicht das, was meistens geschieht (wie in der physis) und nur so "von Natur da ist oder entsteht". [6]

Man wird sagen müssen, daß der Naturbegriff Goethes genau auf letzteres zielt, auf die vorneuzeitliche, aristotelische Physis. Ihr ziemt "anschauendes Hinnehmen" [7] , also theoria, ein Erschließen der Natur von dem her, was begegnet und widerfährt. Wie bei Aristoteles wird bei Goethe der Natur Unabhängigkeit vom Menschen zugesprochen, und darin ist der Respekt, ja die Ehrfurcht fundiert, die Goethe normativ jeder Naturforschung voranstellt. Auch dies ist vormodern.

Nun heißt dies nicht, Goethe habe nicht experimentiert. Im Gegenteil. Jahrzehntelang arbeitet er an Steinen, Knochen, Pflanzen, Licht. Was er in seiner der naturwissenschaftlichen Methode am nächsten stehenden Schrift, "Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Obiekt", an Newton (der nicht genannt, aber gemeint ist) kritisiert, ist nicht das Experiment überhaupt, sondern das experimentum crucis, die mathematische Universalisierung einer Versuchsanordnung. Er hält dagegen eine Mannigfaltigkeit variierender Versuche für eine Pflicht, also eine kontinuierliche Reihe von unterschiedlichsten Präsentationen eines Phänomens, weil es als Teil der "lebendigen Natur" "in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe" (HA XII, 517) . Das Newtonsche Experiment dagegen folgt dem Aufbau: isolieren, zerlegen, quantifizieren, wieder zusammensetzen. Das ist technische Forschungslogik. Was dagegen Goethe mit der "Vermannigfaltigung" des Versuchs anstrebt, sind "Erfahrungen höherer Art", die merkwürdigerweise auf ein Wissen von der "Disproportion unseres Verstandes zu der Natur der Dinge" zulaufen sollen. Wenig später faßt er die "Erfahrung höherer Art" in den Begriff des Urphänomens. [8]

Was soll das aber heißen? Zunächst ist zu sagen, daß der Newtonsche Wissenstyp die Natur unter dem Aspekt des Herstellens, der techné, präsentiert. Mehrfach ist gezeigt worden, daß dazu eine prinzipielle Distanzierung von Natur Voraussetzung ist. Naturwissenschaftliches Wissen ist Ergebnis einer Trennung, einer inszenierten und methodisch erforderten Entfremdung von Natur. Morris Berman [9] zeigt, daß das Experiment erst durch ein "nicht-teilnehmendes Bewußtsein" möglich wird. Distanz ermöglicht Erkenntnis. Bereits Francis Bacon formulierte, daß die Natur ihr Geheimnis nicht freigibt, wenn man sie ungestört bei sich läßt. Das Experiment hat für ihn den Sinn, sie zu irritieren, zu belasten, zu zwingen, zu nötigen, ja zu quälen: die natura vexata, die erboste, nämlich die Antworten unter Zwang gestehende Natur. [10] Natur ist bei Bacon bereits die technisch angeeignete, nützliche Natur. Und Bacon wußte, daß die zu maschinellem Funktionieren vexierte Natur eines Experimentators bedarf, dessen Geist diszipliniert ist und seine "Arbeit wie von einer Maschine erledigt". [11] Deutlich ist: Objekt Natur und Subjekt Forscher werden interpretiert im Schema des Herstellens, der Technik. Sie sind Quasi-Maschinen. Hier beginnt, was Arno Baruzzi [12] das Denken sub specie machinae nennt. Die Realisierung jenes Prinzips von Thomas Hobbes (De corpore), nach welchem der Mensch die Dinge und sich selbst einsieht im Maß, wie er sich und sie herzustellen vermag. Das Erkenntnissubjekt ist ein Züchtungsprodukt von Disziplinen, ebenso wie die Natur unter dem Aspekt des technischen Produkts obiektiviert wird. Autonomie des Geistes ist dessen Automation [13] - so wie Körper und Universum ohnehin als Maschine konzeptualisiert werden (Descartes, Leibniz, Holbach). Der Grundsatz von Hobbes: "Ubi ergo generatio nulla . . . ibi nulla philosophia intelligitur" [14] ist die Formel der Neuzeit und für Goethe ein Skandalon.

Wenn Goethe die Disproportion des Verstandes und der Natur zur "höheren Erfahrung" macht, so restauriert er eine Natur nichtmaschinaler Art. Maschinal begriffene Natur wäre die vollendete Proportion von Verstand und Natur. Im Experiment sucht Goethe - als habe es Kant nicht gegeben die lebendige Natur, natura naturans, die dem in sie eingeschlossenen, sinnlich-leiblich betroffenen Subiekt widerfährt, die erfahren, gegenständlich begriffen, angeschaut, im Zusammenhang des Ganzen reflektiert schließlich im Erstaunen, in der Scheu des Betrachters sich selbst überlassen werden will. "Die Natur gehört sich selbst an", sagt Goethe 1820 in seinem "Vorschlag zur Güte". [15] Darauf zielt, was Goethe 1820 in Kantscher Terminologie mit "Anschauender Urteilskraft" meint: eine Wissensform, die freilich Kants Kritik verfällt und eher der aristotelischen theoria entspricht: "daß wir uns, durch das Anschauen einer immer tätigen Natur, zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten" (HA XIII, 30/31). Goethes Wissenschaft entstammt partizipierendem Bewußtsein .

Festzuhalten ist zunächst: Goethes Naturforschung ist keine Wissenschaft im Sinne von techné, auch wenn er auf historischer Ebene eine selbstbehauptende Auseinandersetzung mit den bedrohlichen Elementen der Natur für nötig hält (HA XIII, 308/09). [16] Technische Wissenschaft aber wäre die gemeinsame Pointe der Aufklärungsbewegung von Bacon bis zu Newton. Demgegenüber versucht Goethe, das vorneuzeitliche Wissen einer den Menschen übersteigenden Natur und die daraus abzuleitenden Konsequenzen für das Selbstverständnis des Menschen zu wahren und in neue, der Zeit um 1800 angemessene Form zu bringen. Wir wissen, daß Goethe damit, nach Leo Kreutzer, historisch auf der Seite der Verlierer steht. [17]

IV.

Formeln "verwandeln das Lebendige in ein Totes; sie töten das innere Leben" [18] : damit begründet Goethe seine Reserve gegenüber der Mathematisierung der Natur. "Abbildungen, Wortbeschreibung, Maß, Zahl und Zeit stellen immer noch kein Phänomen dar" (HA XII, 434). Mathematik bezieht sich für Goethe "aufs Quantifizierbare... auf das äußerlich erkennbare Universum" (HA XII, 453). Damit sie auf die lebendige Natur nicht "wie eine Nekrose" (ebd. 452), also tötend wirke, damit sie ferner nicht "als Universalmonarch über alles zu herrschen" (ebd.) sich anmaße, müsse man dem Quantifizierbaren nach dem allgemeinen Gesetz der Polarität aller Erscheinungen das Qualitative der Natur entgegensetzen. Goethe unterscheidet damit eine mathematische nämlich mechanistische Physik von einer qualitativen, die man in der Schellingschen Terminologie als dynamische und spekulative gegenüber der realen Physik bezeichnen kann. "Es ist vieles wahr, was sich nicht berechnen läßt" (HA XII, 458), formuliert Goethe lange vor Heidegger. Nun würde das jeder Physiker zugeben, nur nicht, daß Goethe das mathematisch "Undarstellbare" (ebd.) zu einem konstitutiven Bestandteil der Naturwissenschaft erklärt. Er nennt dies "das bewegliche Leben der Natur" (HA XIII, 57), ihre "unendliche Produktion auf alle Weise und nach allen Seiten" (ebd. 56), dem ein "lebendiges Anschaun der Natur" zu korrespondieren habe, das "selbst so beweglich und bildsam" sich erhalten müsse wie die Natur selbst (ebd.). Man kann jetzt typisieren: ist für die (Newtonsche) Naturwissenschaft die anorganische Materie das paradigmatische Objektfeld, so für die Naturforschung Goethes der Organismus. Nicht mechanische Physik, sondern genetische Biologie, der Kant die Fähigkeit zur Verwissenschaftlichung rundweg abspricht, ist für Goethe die Grundwissenschaft.

Wenn Natur als lebendige Produktivität begriffen werden soll, wird ihre Zergliederung zum Studium des Toten. Die Kritik Goethes an medizinischer Anatomie und seine Vorschläge zu einer ästhetisch fundierten "plastischen Anatomie" sind von hier aus getragen. [19] Was analytische "Chemie und Anatomie zur Ein--und Übersicht der Natur beigetragen haben" (HA XIII, 54/55), steht dabei außer Frage. "Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt, bringen auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben" (ebd.). Daß Wissenschaft und Technik nicht etwa nur metaphorisch zum Tod der Natur führen, sondern daß real Tiere, Pflanzen, Landstriche, der Erdleib sterben müssen, damit ein unbegrenzter Forschungs- und Vernutzungsprozeß in Gang kommen kann, ist eine harte Lehre. [20] "Die Natur verstummt auf der Folter", sagt Goethe und meint damit das Newtonsche Experiment (HA XII, 434). Das hieße umgekehrt: Natur lebt, und ihr Leben artikuliert sich für uns im Sprechen. Die Sprache der Natur eine ehrwürdige Tradition von der Gnosis und dem Alten Testament bis zum Mittelalter und zur Renaissance diese Sprache verstummt endgültig im Prozeß der Verwissenschaftlichung der Welt. Hamann, der große Anreger des Sturm und Drang, denkt Goethe hier voraus:

Eure mordlügnerische Philosophie hat die Natur aus dem Wege geräumt, und warum fordert ihr, daß wir dieselbe nachahmen sollen? Damit ihr das Vergnügen erneuren könnt, an den Schülern der Natur auch Mörder zu werden ö. [21]

Für Hamann hat die wissenschaftliche Aufklärung "den Text der Natur, gleich einer Sündfluth, überschwemmt" [22] , und Kunst hat die Aufgabe, "die ausgestorbene Sprache der Natur" wiederzubeleben .

Goethe ist hier nüchterner und zugleich fordernder. Er nämlich schränkt die Wiederbelebung der "Sprache der Natur" nicht auf Kunst ein. Dies wäre, was Hamann nicht bedenkt, die Ausgrenzung lebendiger Natur ins Reservat der Kunst und damit Besiegelung der Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Ästhetik als eines irreversiblen Prozesses. Eben das trifft Goethes Kritik. Nicht in der Kunst nur, in der Forschung selbst ist die "Sprache der Natur" wiederzubeleben. Methodologisch geschieht dies unter dem Titel der Synthese "als ein lebendiges Wesen", die der, wie Goethe sagt, analytischen Zerfleischung ihre gestaltende Kraft entgegensetzt (HA XIII, 48 ff.).

Wiederbelebung ist bei Goethe wörtlich und praktisch gemeint. Das ist am zentralen Motiv der Wiederbelebung Ertrinkender in den Wahlverwandtschaften und vor allem den Wanderjahren abzulesen. Die "Sprache der Natur" zu verstehen, heißt hier zunächst, die ästhetische Signatur des Leibes zu erfahren: dies geschieht dem pubertären Wilhelm in der ästhetisch-erotischen Urszene der Offenbarung der Leibschönheit des Fischerknaben, der dann ertrinkt. Daraus erwächst das Motiv zur Naturforschung, nämlich der Medizin. Nachdem Wilhelm auf dem Theater ein Vertrauter des exponierten Leibes geworden ist, die klassische und plastische Anatomie durchlaufen hat, kommt er, in der symbolischen Schlußszene des Romans, praktisch in die Lage, seinen ertrinkenden Sohn zu retten. Nach der gelungenen Wiederbelebung sagt Wilhelm zu Felix: "Wirst du doch immer aufs neue hervorgebracht, herrlich Ebenbild Gottes!" (HA VIII, 460). [23] Dies meint, im Medium wissenschaftlicher Praxis, die Wieder Belebung, ja Schaffung des Leibes als ästhetischer Signatur, als Text und Chiffrenschrift des Göttlichen in der Natur. Der partikular medizinische Akt ist in der Konstruktion Goethes das "Besonderste, das sich ereignet", und darin zugleich "immer als Bild und Gleichnis des Allgemeinsten auftritt" [siehe Abb. 20 u. 2I]. [24]

Der Gedanke des Todes der Natur, den man bei Goethe und Hamann wie bei den Romantikern finden kann, geht auf einen historisch bedeutsamen Ursprung zurück, nämlich auf das ludicium iovis des Renaissancegelehrten Paulus Niavis von ca. 1496. [25] Dieser Text ist im Zentrum des schlesisch-thüringischen Bergbaugebiets während des ersten kapitalistisch-technologischen Entwicklungsschubs des Montanbaus entstanden. Es handelt sich um eine fiktive Gerichtsverhandlung, in der der Mensch als Montane und Metallurg von der in Fetzen gekleideten, an ihrem Leib verwundeten, weinenden Terra des Mordes angeklagt wird. Nicht zufällig am Beispiel des produktionstechnisch und ökonomisch am weitesten entwickelten Bereichs der Gesellschaft, dem Bergbau mit dem Goethe wie Novalis und Alexander v. Humboldt so viel zu tun hatte , wird der Frontverlauf zweier geschichtsmächtiger Deutungsmuster erkennbar. Zum einen die Interpretation, in der die Natur im Schema der Magna Mater, die Erde als mütterlicher Leib und der Bergbau als behutsame, schonende, kultisch begleitete Interaktion des Menschen mit dem geheiligten Inneren des Naturleibs und seinen Materien erscheinen. Hier figuriert der Mensch als Kind und Teil der Mutternatur, sein technisches und gesellschaftliches Handeln ist normativ begrenzt. Technik und

Montanwissen sind Momente einer Naturgeschichte, unterliegen den Kreisläufen und Gleichgewichten der Natur, auf die der Mensch auch als Techniker sich einzustellen hat. Solche von der verletzten Erde man denkt an die natura vexata des Bacon vorgebrachten Argumente dreht der angeklagte Mensch rhetorisch um: als mangelhaft ausgestatteter Stiefsohn hat der Mensch der Natur als Feindin gegenüberzutreten und sein Überleben durch ihre Unterwerfung zu sichern. Hier erscheint ein Kernideologem neuzeitlicher Zivilisation: die Mangelausstattung des Menschen begründet Technik und Wissenschaft als die Wege zum dominum terrae. Hier am Beginn der Moderne erscheint schon eine Legitimation, die bis heute anhält: der Zwang der Naturbeherrschung leitet sich aus Natur selbst ab aus der stiefmütterlichenVerkargung des menschlichen Leibs. Gewissermaßen ist die weibliche Natur selbst schuld an ihrer Vergewaltigung und Ermordung durch männliche Technik: rächt sich in dieser doch nur der Mangel der Mutternatur selbst. Hier wird zum ersten Mal gedacht, was die Naturwissenschaft auf ihre Bahn bringt: erst der Tod der Natur ermöglicht das Überleben des Menschen. Die Natur muß deanimiert, entmythologisiert, entsakralisiert werden. Der Gewinn an technikvermittelter Autonomie ist proportional dem Verlust an Bedeutsamkeit der Natur. Die Kosten der Vernunft sind fortan ablesbar an all jenen kleinen Toden, die die Natur außer uns und in uns stirbt. Von hier gehen die tiefsten Beunruhigungen Goethes aus.

V.

Goethe versucht einen Typ von Wissenschaft zu etablieren, der der Natur gegenüber gewaltfrei, freilich wesentlich auch nur anschauend bleibt. Ferner wendet er sich gegen die methodologische Disziplinierung des Forschungssubjekts, das eine Deanimation der Natur nur leisten kann, wenn sein wissenschaftliches Handeln von allen sympathetisch auf Natur gerichteten Gefühlen gereinigt ist. Empfundener Leib und Sinne aber sind für Goethe Fundament der Forschung. Hierin wirkt das Erbe des Sturms und Drangs fort. Die frühe emphatische Besetzung der Natur [26] , die den gesamten Kosmos zum Projektionsschirm grandioser Selbstgefühle stilisiert, verfällt freilich seit der Weimarer Zeit, mit dem Beginn wirk-

lichen Naturstudiums, der Kritik Goethes. Das Andere der Natur ist fortan für Goethe nicht gewahrt, wenn Natur zum narzißtischen Spiegel schlechter Subjektivität degeneriert. Dennoch bleibt aus der frühen Zeit, in die auch die alchemistischen Studien Goethes fallen [27] , die Grundüberzeugung von der "lebendigen Natur" und dem sympathetischen Bezug auf sie erhalten - bis in die spätesten Werkstufen der Wanderjahre und des Faust. Es geht dabei auch um Würde und Integrität des Leibes.

Goethe weiß wohl, daß neuzeitliche Wissenschaft mit der mikroskopischen und teleskopischen Erschließung des Raums beginnt: "In der Mitte" aber, so sagt er, "liegt das Besondere, unseren Sinnen angemessene, worauf ich angewiesen bin." [28] Goethes Wissenschaft ist Wissen von der sinnlichen Welt, baut sich von hier aus auf bis zur höchsten Begriffsbildung, die immer noch anschauungsgesättigt bleiben soll, wie etwa das Urphänomen. Weil dies so ist, hält er es für "das größte Unheil der neuen Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat". "Der Mensch", hält er dem entgegen, "ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann. " Diese seine Besonderheit und ihre Grenzen reflektiert Goethe sehr genau, wenn er Eckermann gegenüber resümiert: ". . . jedoch gingen meine Richtungen immer nur auf solche Gegenstände, die mich irdisch umgaben und die unmittelbar durch die Sinne wahrgenommen werden konnten; weshalb ich mich dann auch nie mit Astronomie beschäftigt habe, weil hierbei die Sinne nicht mehr ausreichen, sondern weil man hier schon zu Instrumenten, Berechnungen und Mechanik Zuflucht nehmen muß..." [29] Doch wird man sehen, daß es gerade die Astronomie ist, in deren Sphäre Goethe seine esoterischste Allegorie eines leiblich fundierten Wissens ansiedelt: Makarie in den Wanderjahren.

Es ist nun aufschlußreich, daß der Bergakademie-Professor Abraham Gottlieb Werner, Lehrer des Novalis, in vielfachem Kontakt mit Goethe, Begründer der wissenschaftlichen Mineralogie, und im Streit der Vulkanisten und Neptunisten um die Erdentstehung (Geognosie) für die neptunistischen Überzeugungen Goethes der wissenschaftliche Kronzeuge: daß also dieser Werner in merkwürdig vormoderner Einstellung den Verzicht auf instrumentelle Datenerzeugung anrät gerade in einem von Goethe zuerst bearbeiteten Feld, der Mineralogie. Statt dessen seien Gliedmaßen, Augenmaß, leibliches Gefühl zu kultivieren. Noch der aufgeklärte Werner hat eine Scheu davor, Erkenntnis vom Leibe zu entfremden. Erkenntnis vollzieht sich bei ihm, wie Goethe einmal sagt, als das, was "nur am Subjekt gewahrt wird" [30] , also leibvermittelt. Bei Werner ist dies eine unbegriffene Scheu davor, den Leib aus dem Erkenntnisprozeß zu verdrängen: dies aber ist geradezu ein Parameter "neuer Physik". Werner systematisiert das Wissen nach leiblichen Sensationen, dem Geschmack, dem Tasten, der optischen Gestalt, dem Gefühle der Schwere, dem Geruch der Minerale. Sinnlichkeit also entziffert die Natur, weil zwischen ihnen, wie Dürler sagt, eine "intime Beziehung" besteht. [31] Goethe reflektiert dies bewußt:

Gewiß sind die Sinne die feinsten und erregbarsten Messer und Reagenten der ihnen gehörigen Qualitäten und Verhältnisse der Materie, und wir müssen innerhalb des individuellen Kreises des Organismus ebenso die Gesetze der materiellen Welt erforschen, wie der Physiker äußerlich durch mannigfaltigen Apparat. [32]

Goethe wünscht, die Physik komplementierend, eine Wissenschaft vom Stoffwechsel Mensch-Natur und dem leiblichen Eingelassensein in organische Natur. Es gibt, wie er meint, keine Natur als nur in bezug auf den Menschen. Natürlich ist das anthropozentrisch, freilich in einem anderen Sinn als Technik, weil goethische Wissenschaft "ohne Beziehung auf Nutzen und Zweckmäßigkeit" aufs "lebendige Ganze" (AA XVII, 719/20) zu gehen habe. [33] Goethes Wissenschaft ist Phänomenologie der Sichtbarkeit, darum auch die Valenz des Auges. Dies ist so, weil so die Integrität sowohl der Natur wie des menschlichen Leibes gewahrt beleibt, der Natur keine "Gewalt" [34] angetan wird und der Mensch im Zusammenhang der Natur sich reflektieren lernt. Befreite Natur und befreite Subjektivität sind komplementäre Utopien:

Wenn der Naturforscher sein Recht einer freien Beschauung und Betrachtung behaupten will, so mache er sich zur Pflicht, die Rechte der Natur zu sichern; nur da, wo sie frei ist, wird er frei sein, da wo man sie mit Menschensatzungen bindet, wird auch er gefesselt werden. [35]

VI.

Die oben zitierte Reflexion über die Verdrängung des Leibes in der Experimentaltechnik steht auch in den Wanderjahren, in "Makariens Archiv" (HAVIII, 473). Damit verweist die Reflexion auf

Makarie selbst. Makarie ist die rätselhafteste Figur des Romans, eine esoterische Allegorie der Goetheschen Naturphilosophie. Die Makarie-Passagen sind der späteste Reflex der Hybris des jungen Goethe, einen "Roman des Weltalls" (7.12.81 an Ch.v.Stein) zu schreiben, wovon das Fragment "Über den Granit" (1782) einziges Zeugnis ist. Einer solchen Idee hing auch gleichzeitig Herder an, wenn er 1782/83 eine kosmologische Naturdichtung auf der Grundlage von Kopernikus, Newton und Buffon erhofft. [36] Nichts Geringeres schwebt auch Schelling in seiner Philosophie der Kunst (I802/05) vor, der einen neuen Demokrit oder Lukrez wünscht, wenn er den Begriff eines "absoluten Lehrgedichts" faßt, welchem "unmittelbar oder mittelbar das All selbst, wie es im Wissen reflektiert wird, der Gegenstand ist". [37] Man ahnt etwas von der Ungeheuerlichkeit des Goetheschen Vorsatzes und wird die Vorsichtigkeit würdigen, mit der er in den Wanderjahren darauf zurückkommt.

Worum geht es? Inmitten der sozialorientierten Nüchternheit des Romans, der um die Transformation von traditionaler zu moderner Gesellschaft kreist, ist Makarie eine eigenartig ruhende gleichsam "seiende" Gestalt, auf die als heimlichen Pol das dynamische Personengefüge bezogen wird. Sie lebt priesterlich abgeschirmt; man nähert sich ihr in ritueller Choreographie; sie ist mit den Geheimnissen aller vertraut; ihrem Blick enthüllt sich "die innere Natur eines jeden"; ihre Stimme scheint die einer "unsichtbar gewordenen Ursibylle" (HA VIII, 65) zu sein; gleichzeitig wird sie als "die schweigsamste aller Frauen" (ebd. 223) apostrophiert; im Verhältnis zu ihr scheint die Wahrheit jeder Person auf. Diese sakralisierende Exponierung ist jedoch nur äußere Erscheinung ihres Arkanums, das der Erzähler nur unter aufklärerischen Vorbehalten, fast widerwillig, einklammernd, verschachtelnd freigibt. Darin drückt sich das Bewußtsein Goethes aus, der gesellschaftlichen Entwicklung gegenüber hier an etwas regressiv Ungleichzeitiges, Unaufgeklärtes zu rühren, wovon doch unabweisbar ist, daß es zum Kern Goethescher Überzeugungen gehört. Kurz gesagt handelt es sich darum, daß Makarie "nicht sowohl das ganze Sonnensystem in sich trägt, sondern daß sie sich vielmehr als ein integrierender Teil darin bewege" (ebd. 126). Sie ist eine "lebendige Armillarsphäre" (ebd. 451) ein Gerät also zur Bestimmung von Planetenbahnen; sie sieht noch nicht entdeckte Sterne, bewegt sich am Jupiter vorbei und nähert sich der äußersten Grenze des Sonnensystems, dem Saturn, wobei eine Rückkehr Makariens, die jetzt "Entelechie" genannt wird, in Zukunft erhofft wird. Seltsam genug. [38]

Heinz Schlaffer [39] hat zur Bestimmung des poetischen Verfahrens von Goethe die Unterscheidung von esoterischer und exoterischer Seite vorgeschlagen. Hannelore Schlaffer [40] hat in ihrer Wilhelm-Meister-Arbeit dies inhaltlicher als mythopoetische Praxis gefaßt, als "Diaphanie" als Durchscheinen mythischer Zusammenhänge in der Welt der gesellschaftlichen Prosa. Diese ist gewissermaßen Vorderraum der Bühne, hinter der sich die "Wiederkehr des Mythos" vollzieht. Sittlichkeit, Gesellschaft, Wissenschaft, geschichtliche Dynamik, die Subjektivität des einzelnen ohnehin, ja selbst die Kunst sie alle treten in die Moderne ein, die jedoch durch die gleichzeitige Resurrektion des Mythos entthront wird. Mit der Aufdeckung hintergründiger antiker und christlicher Verweiszusammenhänge stützt Hannelore Schlaffer ihre These. Makarie inkarniert die Poesie des Kosmos, ist Mythos der Unsterblichkeit und der ewigen Wiederkehr, Abbild der Sphärenharmonie, festgehaltenes Bild mythischer Erinnerungen, die im Zeitalter der Aufklärung und beginnenden Industrialisierung als Unvernunft gelten und doch durch diese nicht aufgehoben werden:

Während alle anderen Eiguren. . . von der Sinnlichkeit des Lebens und der Kunst sich entfernen, um zum Ernst sittlicher Arbeit zu gelangen, geht Makarie den Weg zurück von der Technik und Wissenschaft zur Kunst, um endlich selbst nichts zu sein als Kunstgebilde und Geschöpf. [41]

Platons Timaios lebt mythopoetisch in Makarie wieder auf. Die Eleganz dieser Deutung läßt vieles übersehen. Imaginäre Weltraumreisen und Astropoesie sind literarisch längst vorformuliert, in den kosmischen Visionen Jean Pauls, in Herders Ideen, in der englischen und deutschen kosmologischen Lyrik des 18. Jahrhunderts, in Kants Theorie des Himmels, bei Giordano Bruno und Keplers Somnium, der ersten Traumreise zum Mond. Dieses, nicht der Mythos, ist die Traditionslinie Makariens, und mit ihr ist Goethe seit dem Projekt eines "Romans des Weltalls" verbunden. Sie führt zurück in die Renaissance und die Wirkungsgeschichte der kopernikanischen Wende. Der "Roman des Weltalls" ist zudem verbunden mit dem Aufsatz "Über den Granit", welcher den geognostischen Studien Goethes entstammt und mit seinen Montanbau-Interessen zusammenhängt. Dieses Motiv kehrt in den Wanderjahren wieder in der Figur des Montan. Montan ist Geognost und Bergbauwissenschaftler, von Wilhelm angetroffen "auf dem ältesten Gebirge, auf dem frühesten Gestein dieser Welt" (HA VIII, 31), also dem Granit. Makarie und Montan verweisen also auf die frühen achtziger Jahre, auf die kosmo- und geognostischen Studien Goethes, in die Nachbarschaft der einleitenden Kapitel von Herders Ideen . Und sie führen zurück in die Zeit um 1770, der Alchemie-Phase Goethes, und damit erneut in die Renaissance, der Sphäre des frühen Faust. Im II. Teil, Buch 8 von Dichtung und Wahrheit (HA IX, 351 ff.), wird retrospektiv der einzige Kosmogonische Mythos erzählt, den Goethe je als geschlossenen entwikkelt hat: er ist alchemistisch, nach polaren Prinzipien wie Gott und Luzifer, Licht und Finsternis, Geist und Materie genetisch ausgefaltet. Kein Zweifel, daß Goethe die Alchemie-Phase, insbesondere die technisch-operative Seite, schnell hinter sich gelassen und auch die esoterische, meditative und kosmogonische Seite der Alchemie, die er hier erinnert, überwunden hat. Kein Zweifel aber auch, daß Goethe grundlegende alchemistische Prinzipien positiv aufgehoben hat, nämlich in seiner Naturphilosophie.

Daß der Makarie/Montan-Komplex in die Renaissance zurückverweist, erhellt bereits daraus, daß es in der Neuzeit nur eine Stelle gibt, an der Montanwissen, Astronomie und Kosmogonie unmittelbar zusammengedacht wird und das ist die Alchemie. [42] Erhärtet wird dies dadurch, daß zur Polarität von Makarie und Montan als dritte Figur Wilhelm konstelliert wird, der Arzt und Anatom. Die Trias von Erdinnerem, Kosmos und menschlichem Leib, also von Montanwissen, Astronomie und Heilkunst, ist genuin alchemistisch man denke an Robert Fludd, Paracelsus, Michael Maier, Athanasius Kircher. [43]

Der Sinn dieser alchemistischen Konstellation Makarie-Montan-Wilhelm besteht darin, das Wissen von Himmel, Erde und Menschen Astronomie, Montanwissen, Medizin zur Einheit zu bringen. Und dies ist im Zeitalter der Zerstückelung der Wissensbestände der Goethe im Roman selbst das Wort redet literarisch nur möglich in vergessenen, verdrängten Formen der hermetischen Wissenschaft. [44]

Das Deutungsschema, womit Universum, Erde und Leib in einen kosmischen Zusammenhang gebracht werden, ist die alte, in der Alchemie dann systematisierte Korrespondenzenlehre von Mikro- und Makrokosmos. Auf diese greift Goethe hier zurück.

In der theoretischen Alchemie ging es wesentlich um den Entwurf der Göttlichkeit des gesamten Naturzusammenhangs, der darin sich offenbart, daß der Leib der Erde, der menschliche Leib und der Kosmos ein lebendiges, harmonisches, in seiner Dynamik polar strukturiertes Ganzes bilden.

Die Erde wurde von Leonardo bis Goethe als Leib verstanden, die Gebirge als Knochen, die (unterirdischen) Flüsse als Adern, die Wälder als Haare. Die Metalle wuchsen in der Matrix der Gebärmutter der Erde, unter Einfluß der Planeten, deren Namen sie trugen und zu denen sie in musikalisch-harmonikaler Korrespondenz standen. Alles zusammen bildete ein selbstreguliertes Gleichgewicht, das der Montane und Metallurg zu erforschen und zu respektieren hatte, wenn er Anleitungen zur bergwerklichen Aushöhlung des Erdleibs gab oder im Labor, dem uterinen Schmelztiegel, eine Mimesis der Metalltransformationen im Erduterus ins Werk setzte. [45] Erkennen vollzog sich als Lesen der Chiffrenschrift der Natur, als Vernehmen der Sprache, in der Natur figürlich zu uns spricht. [46] Und natürlich ist Wissen Arkanwissen. Von daher erklärt sich auch ikonologisch die Nähe von Alchemie und Emblematik. Emblemkunst beruht auf der hermetischen Signifikanz der Dinge, bebildert und legt aus den chiffrierten Text der Natur.

Damit ist schon fast die Figur des Montan entziffert: sie muß nur noch ergänzt werden durch das namenlose "terrestrische Mädchen". Diese Frau nämlich, und nicht Montan, ist das Ergänzungsbild zu Makarie. "Wenn ich nun aber", sagt Montan zu Wilhelm, "eben diese Spalten und Risse als Buchstaben behandelte, sie zu entziffern suchte, sie zu Worten bildete und sie fertig zu lesen lernte ... ? ... Die Natur hat nur eine Schrift" (HA VIII 34). Diese auch in der Farbenlehre vertretene Semiotik der Natur stößt auf die aufgeklärte Skepsis Wilhelms, der dies für Projektion, Unterschiebung hält eine psychologisierende Deutung, die noch die Alchemie-Forschung C. G. Jungs beherrscht. Darum schweigt Montan. Sein Wissen ist hermetisch wie das Makariens. Und er ist zugeordnet dem klassischen Temperament der Alchemisten, der bleiernen Melancholie, dem saturnischen Element: auch das verweist auf Makarie, die auf den Saturn sich zubewegt. Die melancholische Einsamkeit im Gebirge, wo der Adept sich mit dem Urältesten vertraut macht, entspricht der esoterisch-meditativen Abscheidung des Alchemisten von der Welt, der er sich

danach mit der exoterischen Seite seines Wissens wieder zuwendet. [47] Wilhelm nämlich begegnet ihm wieder als nunmehr nutzenorientiertem Steiger, der den Bergleuten die Erdschätze erschließt, auf freilich geheimnisvolle Weise, nämlich durch eine lebende "Wünschelrute" jene Frau also, die "die Einwirkung der unterirdisch fließenden Wasser, metallischer Lager und Gänge sowie der Steinkohlen" an ihrem Leibe fühlt, "sowohl chemische als physische Elemente durchs Gefühl gar wohl zu unterscheiden wisse, ja sogar schon durch den Anblick das Schwerere vom Leichtern unterscheide" (HAVIII, 443/44).

Das ist nun wörtlich ein Bezug auf den Freiberger Montanprofessor A. G. Werner. Die Gesteinsfühlerin ist das Gegenbild zu Makarie als "lebendiger Armillarsphäre". Beide Figuren zusammen sind Gestaltung der Kritik Goethes an Experimentaltechnik und seiner Überzeugung, daß der menschliche Leib der umfassendste "physikalische Apparat" sei. Wilhelm wiederholt diese Kritik nach Besuch der Sternwarte. Wir erkennen jetzt diese Überzeugung als alchemistisch, nicht mythisch. Denn dahinter steht die Deutung des menschlichen Leibs als Mikrokosmos, als Kosmos Anthropos. [48] Leibliche Gefühle und Organe stehen in lebendiger Korrespondenz zum Leib der Erde und zum Leib des Himmels. Letzterer ist Großer Mensch, Makranthropos. Auf dieser Grundlage entwickelten sich in der Renaissance drei miteinander verbundene Wissenschaften, die hier in den "Wanderjahren" konfiguriert werden: Montanwissenschaft Astronomie Medizin [siehe Abb. 22].

Die Gebirgsstudien Montans terminieren allegorisch im "terrestrischen Mädchen", im Grenzwissen davon, "daß in der Menschennatur etwas Analoges zum Starrsten und Rohsten vorhanden sei" (HA VIII, 444); wie umgekehrt Makarie das Grenzwissen figuriert, daß der Kosmos und das "innere Selbst" des Menschen korrespondieren: "Wir träumen von Reisen durch das Weltall", sagt Novalis: "Ist denn das Weltall nicht in uns?" [49] So wie Montan in seiner bergwerklichen Technik die exoterische Seite der Erdfühlerin darstellt, so ist dem Kosmos Anthropos Makarie der Astronom zugeordnet. Er ist zugleich auch Mathematiker und Arzt (erneut eine übliche alchemistische Kombination) und bildet die exoterisch-rationale Kontrolle des arkanen Wissens von Makarie. Doch bleibt er ihr gegenüber wie Montan im Verhältnis zur Gesteinsfühlerin der Unterlegene, Anerkennende und schließlich Verehrende. Die Natur als Ganzes ist weiblich [siehe Abb. 23]. [50]

Nehmen wir schließlich das "Bergfest" (HA VIII, 259ff.) hinzu. Hannelore Schlaffer bezeichnet es als orphisches "Rad der Geburten". Richtiger verstanden ist das Fest jedoch als die allegorische Darstellung eines der vielen, seit Jahrhunderten gepflegten bergwerklichen Festrituale, die Goethe wohlvertraut waren. Kunst, Ikonographie und Rituale des Bergwerks waren immer Exponate der sakralen oder hermetischen Dimension des Montanbaus. [51] Hier bei Goethe handelt es sich, soweit erkennbar, um eine inszenierte Vereinigung von Kosmos und Erdinnerem, Licht und Finsternis, Feuer und Erde, um die Darstellung des Sternenstroms und Himmelskreises durch die Grubenlampen im nächtlichen Gebirge. Das Fest der Bergleute die sich hier als "eine große geheime Vereinigung" erweisen ist Schaustellung des kosmischen Sinns des Montanbaus: das ist alchemistische Tradition. Das Fest wird zum Anlaß der Gespräche über die Erdentstehung das alte Interesse Goethes; die Geogonie wird nun aber von Montan ins Unerforschliche, Schweigen verschlossen. Zu erinnern ist hier, daß die symbolische Korrespondenz von Bergbau und Kosmos auch im Heinrich von Ofterdingen des Novalis und in den Bergwerken zu Falun von E. T. A. Hoffmann zentral ist. Basis dieses Denkmusters ist die alchemistische Signaturenlehre, das Lesen der signatura rerum (Jacob Böhme) im Buch der Natur. Kommen wir zuletzt zu Wilhelm, dem Arzt. Die Erfahrung des Montanen und des Kosmischen stellen für ihn eine Initiation dar: in das hermetische Wissen vom Erdleib und Makranthropos. Beides wird über Initiationslenker vermittelt Montan und den Astronomen sowie durch die Begegnung mit geheimnisvollen Frauen, die den Kosmos Anthropos in seinen zwei Dimensionen Erde und All repräsentieren. Der Leib repräsentiert das Ganze der Schöpfung. Dieses Wissen soll Wilhelm der hermetische Hintergrund seines ärztlichen Handelns werden. Das schließt ihn an eine weitere Tradition an, nämlich die paracelsische Medizin. [52] Paracelsus, der große Wundarzt und Wanderer wie Wilhelm, entwickelt die erste europäische holistische Medizin, in alchemistischer Form und auf Grundlage des Modells vom kosmischen Leib mit seinen "Sympathien" zu den Stoffen (Erden, Materien) und den Planeten. Von daher erhellt sich noch einmal die Episode mit dem ertrunkenen Fischerknaben. Die Offenbarung der "menschlichen Gestalt" (HA VIII, 272) stand bereits damals im kosmischen Zeichen, nämlich der "dreifachen Sonne": realer Sonnenschein, die Sonne der Leibesschönheit und die "innere" Sonne Wilhelms, als aufgehendes Licht der erotisch-ästhetischen Einsicht in die Integrität des menschlichen Leibes. Das weist auf die "zwei Sonnen" Makariens voraus (HA VIII, 449). Der Fischerknabe, die terrestrische Frau und Makarie sind Figurationen von menschlichem Leib, Erde und Universum, die drei möglichen Lesarten vom Kosmos Anthropos. Und sie sind Repräsentanten der aristotelischen Elementenlehre: Wasser, Erde, Luft und Feuer, wobei jeder Figur bestimmte Elemente fehlen wie z. B. dem Fischerknaben: er ist so sehr Wasser, daß ihm die Luft fehlt; er ertrinkt : erst zusammen bilden sie ein Ganzes. Ein guter Arzt wird erst, wer nicht nur viel gelernt hat, sondern in die Gefährdungen und Harmonien des Naturganzen initiiert ist, den elementaren und kosmischen Zusammenhang der Natur versteht und von daher das ärztliche Tun, paracelsisch und prometheisch zugleich, als re-creation ins Werk setzt, als Arbeit an der Wiederherstellung des integrierten Mensch-Natur-Zusammenhangs, als Mimesis des Schöpferischen in der Natur. Darum sind Arzt und Künstler Verwandte.

Der Astronom und Montan einigen sich, nachdem sie die Komplementarität von Makarie und Erdfrau erkannt haben, darauf, daß zwei Seiten der Naturforschung gegeneinander zu führen seien: die technische Seite, die eine Welt des Stoffes den höchsten Fähigkeiten des Menschen zur Bearbeitung übergibt dies wäre materielle Aneignung der Natur, und die zweite, reflektierende, die auf eine Partizipation am kosmischen Naturganzen zielt. "Die höchste Gestalt, wozu sich der Mensch auszubilden hat", wäre die Integration dieser exoterischen und esoterischen Seite der Natur-wissenschaft, ein Ziel, auf das hin Goethe den Bildungsgang Wilhelms zum "paracelsischen" und "naturwissenschaftlichen" Arzt paradigmatisch anlegt. Dies wäre auch das utopische Vermächtnis Goethes selbst.

VII

Goethe ist ein ebenso einsichtiger Kritiker von Wissenschaft und Technik wie seine dagegengehaltene Naturinterpretation auf Traditionen begründet ist, die heute tiefen Verdacht, ja Berührungsangst wecken. Das ist zunächst unser Problem. Goethe war nicht so naiv, mythische, religiöse oder alchemistische Naturkonzepte wirklich zu übernehmen. Daß er sie verarbeitet, läßt manchmal übersehen, daß er sie auch kritisiert und modifiziert. Historisch steht er in einer Epoche, in der mythische oder alchemistische "Bilder" der Natur gerade noch real erlebbar waren vor ihrem Untergang in der entzauberten Welt der Industrie. Das wußte er. Doch konnte Goethe die Kritik der Moderne noch in Bildern der Vormoderne spiegeln. Dies charakterisiert sein poetisches Verfahren in den Wanderjahren wie im Faust. Das ist heute nicht mehr möglich. Goethe wäre beerbbar unter zwei Voraussetzungen: (I) daß man die rationalistische Zensur und die Angst vor Denkformen aufhebt, in denen Goethe tatsächlich dachte, und (2) daß man diese Denkformen radikaler Reflexion unterzieht. Damit meine

ich, daß in den Formen des Nicht-mehr-Möglichen des Mythos der Alchemie, der Natursprachenlehre Spuren des Wahren liegen. Sie werden freigelegt für heutiges naturphilosophisches Denken, wenn man sie in der historischen Dialektik der Aufklärung sieht. Goethes Erbe ist nicht der Mythos, die Alchemie, die Signaturenlehre, die Naturfrömmigkeit, sondern daß er diese in Kunst transformiert. Kunst allein und ästhetische Erfahrung sind für ihn die möglichen Orte, an denen nichtideologisch die Idee einer erlösten Natur aufscheint, wenn auch nur negativ. Wenn Goethe als Modell aller Wissenschaft Medizin zur Heil-KUNST machen wollte so wie der romantische Physiker Johann Wilhelm Ritter eine Physik als Kunst entwarf, so ist das heute zwar etwas Unvorstellbares, erinnert jedoch daran, was nicht ist: heile, heilende Wissenschaft. Klaus Röhring nennt den "heilenden Blick" die "Befähigung, die ökologische Partitur des Planeten zu lesen" [53] , das Ganze im Besonderen zu sehen und das Besondere nicht im Allgemeinen untergehen zu lassen. Hierbei kann Kunst, wenn es Wissenschaft noch nicht vermag, ein Verweis darauf sein, wohin Natur von sich aus vielleicht möchte. [54]

Anmerkungen

[ 1 ]
Soweit nicht anders angegeben, werden Goethe-Texte nachgewiesen durch die HamburgerAusgabe in 14 Bänden, hg. v. E . Trunz (1950 ff.), und zwar direkt im Text abgekürzt: Hamburger Ausgabe + Bandzahl = römische Zahl + Seitenzahl = arabische Zahl. Nach demselben Prinzip wird in den Anmerkungen zitiert nach WA = Weimarer Ausgabe sowie nach AA = Artemis-Ausgabe, hg. v. E. Beutler. DerAufsatz geht zurück auf einenVortrag, den ich am 2. 2. 1984 an der Universität Hamburg im Rahmen der Vortragsreihe "Das 18. Jahrhundert in Deutschland: Literatur und Kunst im gesellschaftlichen Kontext" gehalten habe. Unterdessen ist erschienen von Alfred Schmidt, Goethes herrlich leuchtende Natur: Philosophische Studie zur deutschen Spätaufklärung, München/Wien 1984. Dies Buch von einem Philosophen, dessen Studie über den Begriff der Natur in der Lehre von Marx (3. Aufl. Frankfurt/M. / Köln 1978) in mehreren Auflagen erschien, weckt große Erwartungen. Indessen ist die Lektüre enttäuschend. Die von Schmidt eingangs konfrontierten Linien der Naturwissenschaft seit Galilei und Newton gegenüber der Technik-Philosophie von Heidegger und Bloch bleiben im Gang der Untersuchung gänzlich unberücksichtigt. So fehlt es Schmidt sowohl an pointierten Fragestellungen wie eigenen Thesen. Statt dessen kommentiert er ohne neue Einsichten alte Begriffe und Textstellen bei Goethe manchmal in wenig nachvollziehbarer Reihenfolge. Dieses eher eklektizistische als innovative Buch zu Gothes Naturforschung hat, in Ermangelung anderer, jedoch seinen Wert als Einführung in die naturphilosophischen Überlegungen und praktischen Forschungen Goethes.

[ 2 ]
Jean le Rond d'Alembert, Eléments de Philosophie I; Mélanges de Littérature, d'Histoire et de Philosophie (1758), IV, S. 1ff.

[ 3 ]
Voltaire, Erzählungen, Dialoge, Streitschriften in 3 Bdn., hg. v. M. Fontius, Berlin (DDR) 1981, I, 1l.

[ 4 ]
Die Abbildungen: das Telekop Casgrains aus: Maurice Daumas, Scientific Instruments in the 17th and 18th Century and their Makers, London 1970, Abb. 90. Das seinerzeit größte Teleskop der Welt, erbaut von Wilhelm Herschel bei A. Bettex, Die Entdeckung der Natur, Zürich o.J., S. 113; die Newtonsche Zeichnung seines wichtigsten Experiments, über dessen künstlichen und gewaltsamen Charakter Goethe sich mehrfach erregt, z. B. in: I. D. Bernal, Wissenschaft, Bd. 2, Reinbek 1970, Abb. 132.

[ 5 ]
Goethe, Farbenlehre, Polemischer Teil, inWA II, Abt., Bd. 2, S. 9.

[ 6 ]
Aristoteles, Nikomachische Ethik (1972), S . 134. Zum Problemzusammenhang vgl. Cornelius Castoriadis, Technik, in: Ders., Durchs Labyrinth: Seele, Vernunft, Gesellschaft, Frankfurt/M . 1981, S .196-220.

[ 7 ]
Gernot Böhme, Naturwissenschaft als Technik oder die Frage nach einem neuen Naturbegriff in: Zs. f Didaktik der Philosophie 3, Nr. 4 (1981), S. 187-196.

[ 8 ]
HA XII, 18 Man beachte: genau dieses Zurücktreten des Menschen hinter einen universalen (begrifflich-mathematischen) Erkenntnisanspruch ist es, was bei Goethe im Verhältnis zur Natur andere als kantisch gesprochen verstandesmäßige Kräfte freisetzt. Was hier zum Zuge kommt das wird an dem Topos "Urphänomen" deutlich, ist aber auch nicht die Kantsche Urteilskraft, sondern vielmehr die an Erfahrung gebundene naturphilosophische Einsicht in die lebendige, "sprechende" Einheit der Natur. Diesen renaissancehaften Zug hat Goethe als einen Typus von Naturwissen, der von der modernen Wissenschaft und Philosophie ausgegrenzt wurde, historisch reflektiert. Sehr aufschlußreich ist die Bemerkung, die Goethe im historischen Teil der Farbenlehre anläßlich Robert Boyles macht: "Die Scheidung zwischen Geist und Körper, Seele und Leib, Gott und Welt war zustande gekommen. Sittenlehre und Religion fanden ihren Vorteil dabei: denn indem der Mensch seine Freiheit behaupten will, muß er sich der Natur entgegensetzen; indem er sich zu Gott zu erheben strebt, muß er sie hinter sich lassen, und in beiden Fällen kann man ihm nicht verdenken, wenn er ihr so wenig wie möglich zuschreibt, ja wenn er sie als etwas Feindseliges und Lästiges ansieht. Verfolgt wurden daher solche Männer, die an eine Wiedervereinigung des Getrennten DACHTEN. Als man die teleologische Erklärungsart verbannte, nahm man der Natur den Verstand; man hatte den Mut nicht, ihr Vernunft zuzuschreiben, und sie bleibt zuletzt geistlos liegen. Was man von ihr verlangte, waren technische, mechanische Dienste, und man fand sie zuletzt auch nur in diesem Sinne faßlich und begreiflich." (HA XIV, l22)

[ 9 ]
Morris Berman, Wiederverzauberung der Welt: Am Ende des Newtonschen Zeitalters, München 1983, S. 16ff., 50ff.

[ 10 ]
Francis Bacon, Das neue Organon, Berlin (DDR), 2. Aufl. 1982, S. 134-37 (zur Herrschaft über Natur), 109 (natura vexata). Vgl. Berman, S. 26ff. (zu Bacon), sowie Carolyn Merchant, The Death of Nature, New York 1980. In Deutschland vertritt ähnliche Thesen der Naturphilosoph K. M. Meyer-Abich, Das Meer vor uns und das Meer hinter uns, in: W. Graf Vitzthum (Hg.), Die Plünderung der Meere, Frankfurt/M. 1981, S. 21ff. oder in: Ders., Wege zum Frieden mit der Natur, München 1984.

[ 11 ]
Francis Bacon [Anm. 10], S. 36 (modifizierte Übersetzung).

[ 12 ]
Arno Baruzzi, Mensch und Maschine: Das Denken sub specie machinae, München 1973, bes. S. 46ff.

[ 13 ]
Ebd. S. 71.

[ 14 ]
Th. Hobbes, De corpore, P.I. Kap. I, Sekt. 8 (deutsch: Vom Körper, hg. v. M. Frischeisen-Köhler, 2 [1967]). Dazu imVergleich mit dem Vicoschen Grundsatz verum et fastum convertuntur s. Arno Baruzzi [Anm. 12], S. 52ff., bes. Anm. 15.

[ 15 ]
Vorschlag zur Güte (I820) in: WA II. Abt., XI, 65 (auch hier die Idee einer mit Natur versöhnten, nicht ihr feindseligen, sondern sogar von ihr angeleiteten Naturwissenschaft). Die Notiz "Anschauende Urteilskraft" s. HA XIII, 30f.

[ 16 ]
Zum notwendigen Kampf mit Natur vgl. Harro Segeberg, Technikers Faust-Erklärung. Über ein Dialogangebot der technischen Kultur, in: Technikgeschichte, 49 (1982), bes. 243ff. Zu beachten ist jedoch, daß der von Goethe oft notierte Zwang zur tätigen, kämpfenden Naturauseinandersetzung von ihm niemals zur axiomatischen Legitimation einer technisch bestimmten Forschungslogik, wie dies durchweg in den Naturwissenschaften bis ins 19. Jahrhundert geschieht, gewendet wird. Goethes Problem war eher, wie tätige Naturauseinandersetzung im Dienst der Selbsterhaltung sowie Ehrfurcht und Schonung der Natur vereinbar sind.

[ 17 ]
Leo Kreutzer, Mein Gott Goethe, Reinbek 1980, S. 33.

[ 18 ]
"Mathematischen Formeln verbleibt immer etwas Steifes und Ungelenkes, mechanische Formeln sprechen mehr zu dem gemeinen Sinn, aber sie sind auch gemein und behalten immer etwas Rohes, sie verwandeln das Lebendige in ein Totes, sie töten das innere Leben, um von außen ein Unzulängliches heranzubringen." (Zit. nach G. Benn, Goethe und die Naturwissenschaften, in: G. Benn, Ges. Werke, Bd. 3, Wiesbaden 1968, S. 743.) Zu Goethes Einstellung zur Mathematik vgl. HA XII, 452ff.

[ 19 ]
Zur "plastischen Anatomie" zuerst und am gründlichsten Klaus Bartels, Arbeit, Technik, Kunst: Untersuchungen über die Wundarztthematik in Goethes "Wilhelm Meister", Diss., Hamburg 1974. Ferner Stefan Blessin, Die Romane Goethes, Königstein/Ts. 1979, S. 135ff.; Hannelore Schlaffer, Wilhelm Meister: Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos, Stuttgart 1980, S. 111ff.

[ 20 ]
Dazu besonders Carolyn Merchant, The Death of Nature [Anm. 10].

[ 21 ]
Johann Georg Hamann, Aestetica in nuce, hg. v. Sven-Aage Jörgensen, Stuttgart 1968, S. 113.

[ 22 ]
Hamann [Anm. 21], S. 119.

[ 23 ]
Textstellen zum Thema der Wiederbelebung: HAVIII, 268ff., 323ff. (verbunden mit Anatomie-Thema), 458 ff. sowie HAVI, 335ff., 452ff. (Wahlverwandtschaften).

[ 24 ]
AA XVII, 706.

[ 25 ]
Vgl. dazu Horst Bredekamp, Der Mensch als Mörder der Natur. Das "Iudicium lovis" von Paulus Niavis und die Leibmetaphorik, in: Vestigia Bibliae, 6 (1984), S. 261 ff. Eine deutsche Übersetzung, bei Paul Krenkel (Hg.) Paulus Niavis: Iudicium iovis oderDas Gericht der Götter über den Bergbau, Freiberger Forschungshefte . Kultur und Technik (1953). Dieser auch literarisch bedeutende Text könnte dem Freiberger Bergbauprofessor Abr. G. Werner, dem Lehrer des Novalis und Korrespondenten Goethes, durchaus bekannt sein. Vgl. S. 69ff. dieses Bandes.

[ 26 ]
Die frühe Naturauffassung Goethes findet man im Werther, der Urfassung des Faust, der frühen Naturlyrik überblickt man alle Zeugnisse, wird klar, daß das Tobler-Fragment Die Natur lange Zeit als paradigmatisch angesehen für die frühe Naturauffassung Goethes allenfalls einen Teilaspekt davon verdeutlichen kann.

[ 27 ]
Dazu grundlegend R.Chr. Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts, München 1969. - Ders., Goethes Verhältnis zurNaturmystik am Beispiel seiner Farbenlehre, in: Antoine Faivre u. R.Chr. Zimmermann, Epochen derNaturmystik, Berlin 1979, S. 333-363. H.-M. Rotermund, Zur Kosmogonie des jungen Goethe, in: DVjS 28 (1954), S. 472ff. Andreas B. Wachsmuth, Goethe und die Magie, und Die Magia Naturalis im Weltbilde Goethes, in: ders., Geeinte Zwienatur: Aufsätze zu Goethes naturwissenschaftlichem Denken, Berlin und Weimar 1966, S. 26-56 und 157-200.

[ 28 ]
AA XVII, 705, vgl. HAVIII, 293.

[ 29 ]
AA XVII, 728 sowie Goethe an Eckermann am 1. 2. 1827.

[ 30 ]
WA II. Abt., Bd. I I, 376 (hier übrigens gegen Kants Erkenntnistheorie gerichtet).

[ 31 ]
Josef Dürler, Die Bedeutung des Bergbaus bei Goethe und in der Romantik, Frauenfeldt/Leipzig 1936, S. 19.

[ 32 ]
AA XVII, 729.

[ 33 ]
AA XVII, 719/20.

[ 34 ]
AA XVII, 723.

[ 35 ]
AAXVII, 721.

[ 36 ]
J.G. Herder, Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Bd. II (1879), S. 293.

[ 37 ]
Fr. W.J. Schelling, Philosophie der Kunst, Darmstadt 1980, S. 308. Vgl. zur kosmischen Dichtung Hartmut Böhme/Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft, Frankfurt/M. 1983, S. 169ff.

[ 38 ]
Gerhart von Graevenitz weist mich darauf hin, daß der traditionsgeschichtliche Ursprungsort der Weltraumreise Makariens schon vor Bruno und Kepler in De mundi universitate libri duo sive Megakosmos et Macrocosmos des Bernardus Silvestris (Mitte des 12. Jahrhunderts) zu suchen ist.

[ 39 ]
Heinz Schlaffer: Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen, in: Goethe-Jb., 95 (1978), S. 212ff.

[ 40 ]
Hannelore Schlaffer [Anm. 19].

[ 41 ]
Ebd., S. 192.

[ 42 ]
Zur Alchemie vgl. außer den in Anm. 26 genannten Titeln noch das in seiner Grundthese kaum zu haltende Buch von Ronald D. Gray, Goethe the Alchemist: A Study of Alchemical Symbolism in Goethe's Literary and Scientific Works, Cambridge 1952. Gustav F. Hartlaub, Goethe als Alchemist, in: Euphorion, 58 (1954), S. 19 ff.

[ 43 ]
Hermetiker, oft auch Alchemisten, waren jedoch auch die Gelehrten, die heute als Väter der Naturwissenschaften und der Rationalität gelten wie Kopernikus, Brahe, Bruno und . . . Newton. Zu der alchemistischen und hermetischen Seite Newtons und dem alchemistischen Hintergrund der Renaissance-Wissenschaften ist grundlegend Betty J. T. Dobbs, The Foundations of Newton's Alchemy, Cambridge/ USA 1975. Vgl. ferner Frank E. Manuel, A Portrait of Isaac Newton, Cambridge/USA 1968. A. G. Debus, The Chemical Dream of the Renaissance, Cambridge/USA 1968. R. S. Westfall, The Role of Alchemy in Newton's Career, in: M. L. R. Bonell/ W. R. Shea (Hg.), Reason: Experiment and Mysticism in the Scientific Resolution, New York 1975, S. 189-232. Morris Berman, Wiederserzauberung der Welt [Anm. 9], S. 101-116. Bemerkenswert bleibt, daß Goethe auch deswegen in einen so unversöhnlichen Gegensatz zu Newton geraten mußte, weil das 18. Jahrhundert das Newton-Bild weitgehend von seinem hermetischen Hintergrund gereinigt hat und nur den "Rationalisten" Newton überlieferte. Erst in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde man auf kaum zu überschätzende Einflüsse der Alchemie auf Newton aufmerksam. Realisiert man die "hermetische" und die "rationalistische" Seite Newtons als Signaturen einer intellektuellen Struktur, so ist Newton Goethe viel verwandter, als dieser es ahnen konnte.

[ 44 ]
Diesen Zusammenhang übersieht Hannelore Schlaffer in ihrem direkt auf die Antike zurückgreifenden Deutungsmuster der "Wiederkehr des Mythos" geradezu systematisch. Mythos und Aufklärung sind als dialektisch verschränkte Begriffe seit Horkheimer/Adorno eingeführt jedoch übersieht man häufig, daß in Europa kein Weg auf den Mythos zurückführt als durch den Hermetismus der Renaissance. Dieser aber ist durch die vehementen Abgrenzungskämpfe der neuzeitlichen Naturwissenschaft gegen ihre sog. irrationalistischen Vorläufer derart nachhaltig diskreditiert, daß bis in Arbeiten wie der H. Schlaffers eine deutliche Berührungsangst gegen den Hermetismus besteht trotz der Arbeiten R. Chr. Zimmermanns.

[ 45 ]
Vgl. dazu Mircea Eliade, Schmiede und Alchemisten, 2. Aufl. Stuttgart 1980. Horst Bredekamp, Die Erde als Lebewesen, in: kritische berichte, 9, Nr. 4/5 (1981), S- 5-37.

[ 46 ]
Die Sprechweise von der Chiffrenschrift bzw. dem Buch der Natur findet in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts bei Hamann, Herder, Goethe, W. v. Humboldt, Novalis u. a. wieder eine steigende Bedeutung, die noch nicht hinreichend erforscht ist. Allgemein vgl. Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M.

[ 47 ]
Vgl. hierzu C. G. Jung, Psychologie und Alchemie, Olten u. Freiburg/ Br. 1975.

[ 48 ]
Dazu Heinrich Schipperges, Kosmos Anthropos: Entwürfe zu einer Philosophie des Leibes, Stuttgart 1981.

[ 49 ]
Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, hg . v. H . J. Mähl u . R. Samuel Bd. 2 (1978), S. 233. Mit keiner Figur oder Allegorie steht Goethe dem naturphilosophischen Kosmos-Anthropos-Denken des Novalis so nah wie mit Makarie - das wäre eine lohnende Untersuchung.

[ 50 ]
Daß für Goethe (wie für die Romantik), den Renaissance-Hermetismus wie für die vorneuzeitlichen Auffassungen die Natur weiblich ist, steht außer Frage. Es fehlen aber immer noch außer etwa bei C. Merchant dazu systematische und historische Untersuchungen. Die Gesteinsfühlerin in den Wanderjahren hat deutliche Bezüge zur Pendel-Szene in den Wahlverwandtschaften, worin Goethe die Untersuchungen des romantischen Physikers par excellence, Johann Wilhelm Ritter, über einen südtirolischen Gesteinsfühler aufnimmt. Vgl. Otto Brahm, Eine Episode in Goethes Wahlverwandtschaften, in: Zs. f. dt. Altertum, 26 (1882), S. 194÷198.

[ 51 ]
Zur Kunst und Festtradition des Bergbaus vgl. z. B. H. Winkelmann (Hg.), Der Bergbau in der Kunst, Essen 1958. Bernhard Heilfurth, Der Bergbau und seine Kultur, Zürich I981. Georg Schreiber, Der Bergbau in Geschichte, Ethos und Sakralkultur, Köln/Opladen 1962. Klaus Tenfelde, Das Fest der Bergleute, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Arbeiterkultur, Königstein/Ts. 1979, S. 209-245. Charakteristisch ist, daß H. Schlaffer diese Kontexte außer acht läßt.

[ 52 ]
Die Bedeutung von Paracelsus für Goethe ist nicht gut erforscht; vgl. einleitend, aber unzureichend Karl Sudhoff, Paracelsus und Goethe, in: Medizinische Welt, 6, II (1932), S. 1409-1412. Umfassender Agnes Bartscherer, Paracelsus, Paracelsische Medizin und Goethes Faust: Eine Quellenstudie, Dortmund 1911.

[ 53 ]
Klaus Röhring in Klaus M. Meyer-Abich (Hg.), Fneden mit der Natur, Freiburg/Br. 1979, S. 39.

[ 54 ]
Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, S. 107.