Umgekehrte Vernunft.Dezentrierung des Subjekts bei Marquis de SadeWas dem Liebhaber erotischer Literatur die Lektüre Sades so zwiespältig macht, ist die Disziplin der Orgie. Erotische Literatur lebt von der imaginierten Willkür und Spontaneität sexueller Körper die in der Ordnung des Alltags nicht erscheinen dürfen. In der Welt der Sadeschen Sexualität herrscht jedoch ein solches Maß an Kalkül, Disziplin, Ritualisierung und dramaturgischer Organisa-tion, daß dem Leser gerade im Raum seiner sexuellen Freiheits-träume potenziert der Zwang und die Kontrolle wiederbegegnen denen er entfliehen möchte. "Los, los, alle Ärsche ans Licht" befiehlt Gernande. - "Es muß schon etwas Ordnung in die Sache kommen, Onkel", sagt Bressac. - "Nur zu, meine Freunde, mir scheint, dieses Arrangement ist sehr gelungen. Jetzt arbeitet im Takt!" - Wer in der Gefahr steht, von seiner Leidenschaft überwältigt zu werden, wird von dem Regie führenden Libertin unterbro-chen: "als Verneuil seinen wütigen Sohn unterbrach und ihn um einen Augenblick Ruhe bat, um seine Lust in etwas geordnetere Bahnen zu lenken". - "Ein bißchen Zusammenspiel, meine Freunde", mahnt Dolmance. Und Madame de Saint-Ange (wel-cher Name!) spricht den Grundsatz sadianischer Sexualität aus:"Laßt uns aber bitte ein wenig Ordnung in diese Orgien bringen; es bedarf ihrer selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase und der Schamlosigkeit." Von sexuellem Anarchismus ist keine Rede. Bei Sade wird bewußt, daß dieser nur die Verlängerung der Ideologie spontaner Individualität ist. In einer entfremdeten Welt, damals wie heute, pflegen wir die Einzigkeit und Besonderheit unserer Sexualität als letzten Halt persönlicher Identität, die von unseren Rollen ausgezehrt zu werden droht. Solche Ideologie verfällt dem sadianischen Spott. Die disziplinäre Durchdringung der sexuellen Szene erin-nert an alles, nur nicht an Spontaneität. Man kann statt dessen an die Beherrschung des Körpers im Ritual der höfischen Tänze ebenso denken wie an militärische Exerzitien, an die Verkoppe-lung von Mensch und Maschine im Fabriksystem wie an die Taylo-risierung der Körperarbeit -: Sades Sexualität ist ebenso ein Nachbild höfischer Rationalität wie Vorbild technokratischen Po-sitivismus, nur nicht die Utopie fließender Wunschenergien, aus dem Reservat irgendeiner unberührten Natur sprudelnd. Darum wird die Lektüre Sades zur ständigen Kränkung unseres Anspru-ches auf liebende Verschmelzung der Leiber im Spiel der Lust. Genau dies ist Sades Absicht. In der Sexualität konfrontiert er uns mit eben der Mechanisierung, unter der die kulturkritischen Denker von Rousseau bis Marcuse leiden und gegen die sie den Eros als Gegenkraft berufen. In der sexuellen Szene interessiert die Individualität des Begehrenden sowenig wie die des Begehrten. Sade entsubjektiviert die Sexualität radikal. Er ist es, der zuerst entdeckt und die Wahrheit nutzt, daß der Trieb das Allerunpersönlichste an uns ist. Gerade darum eignet sich der Trieb, zum Medium des triumphierenden Bewußtseins zu werden. Regie führt die Vernunft. Sie funktionali-siert und fragmentiert die Körper und besetzt sie einzig nach Maßgabe ihrer Verkoppelungswertigkeit in einer sexuellen Konfi-guration. Darum müssen die Libertins zuallererst Disziplin ler-nen. Sie ist das Vermögen, sich vom Körper zu emanzipieren und diesen dadurch zu einem Einsatz des Bewußtseins zu verwandeln. Nicht Ich und Du sind in der Orgie verschmolzen, sondern die restlos beherrschten Körper, genauer noch: die sexualisierbaren Körperfragmente werden zu wechselnden Funktionselementen ei-ner umfassenden Konfiguration des regieführenden Bewußtseins. Störungen der Sexualität sind nicht, wie in der Normalpraxis, plötzlich aufkommende Distanzen, interferierende Reflexion, aufblitzendes Bewußtsein, sondern genau umgekehrt. Die Ord-nung des sadianischen Arrangements wird durch nichts so gestört wie durch Vermischung der Leiber, wechselseitige Einfühlung, sympathetische Kommunikation, Liebe. Die absolute Beleuchtung, der die Körper in der sexuellen Szene ausgesetzt werden, erzeugt eine Schamlosigkeit, in der es nicht mehr den geringsten Schatten individueller Reservation geben darf. Was einzig zur Gel-tung kommt, ist das Bewußtsein, das sich im Fleisch der Leiber zur Darstellung bringt und genießt. Daß Sade den Leser erotischer Literatur so befremdet, liegt also daran, daß er nicht den Körper stimuliert. Vielmehr behauptet er, daß Sexualität nur dort zur vollendeten Lust wird, wo sie restlos durchs Bewußtsein angeeignet, vom Körper distanziert und erst dann als kondensierte Energie auf diesen projiziert wird. Sexualität ist ein Aggregat des Bewußtseins: davon wollen wir nichts hören.
Zu den geheimen Ä;ngsten der Aufklärung im 18. Jahrhundert gehört es, daß der Atheismus zu einer von keinen Werten angeleiteten Vernunft führen könnte. Der Verlust theologisch-kosmologischer Ordnungen treibt gewaltigen Anstrengungen hervor, das Instrument der Kritik, nämlich Vernunft, an Ordnungen zu binden, ja diese auf jene zu gründen. Kant wie Rousseau, die beide gleichermaßen den Terror einer von Trieben oder partikularen Sozialinteressen gegängelten Vernunft fürchten, arbeiten rastlos daran, das kostbare Vermögen der Vernunft mit natürlichen oder normativen Ordnungen unauflöslich zu verschweißen. Sade setzt den Kontrapunkt. Er betreibt die Entfesselung der Vernunft, untergräbt die Dreieinigkeit des Guten, Schönen und Wahren und sprengt die Minen vernunftgewirkter Subversion in den heiligen Hallen des europäischen Wertgefüges. Sade zielt auf eine Umkehrung des Verhältnisses von Phantasie und Vernunft: nur so, scheint er zu meinen, befreit sich das Denken von den Fesseln der Werte. Der Aufstieg der europäischen Aufklärung war eins mit dem Abstieg der Einbildungskraft, die zum gefesselten Prometheus des Verstandes degenerierte oder allenfalls im künstlerischen Genie sich ausdrücken durfte (natürlich nur in Übereinstimmung mit natürlichen und sittlichen Ordnungen). Daneben übernahm die Einbildungskraft im Reich der Vernunft die Rolle, die der Satan im Reich Gottes hatte: sie wurde zum Gegenpart, zum gefährlichen Tier im Menschen, zum Dämon der Vernunft. Der beginnende psychologische Diskurs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist voller Beispiele von Wahnsinnigen, deren Vernunft aufgrund einer überbordenden Phantasietätigkeit dissoziiert. So erschien etwa bereits die exzessive Romanlektüre für den phantasmasierbaren Leib der Frauen gefährlich: sie sollten lieber moralische Wochenschriften lesen Sade dagegen reinthronisiert die Phantasie. Sie ist der privilegierte Weg zum Laster, und erst, wo Phantasie herrscht, wird das Denken frei. "Welche Kraft der Phantasie!", begeistert sich Dolmance über die erregten Vorstellungen der Elevin Eugenie. "Sehen Sie, Madame, sehen Sie, schauen Sie dieses wollüstige Geschöpf an, wie es ihr vom Kopf her kommt. . ." Das ist es, worauf Sade zielt: die unmittelbare Umsetzung von Vorstellungskraft in sexuelle Energie. "Die Phantasie ist der Stachel der Lust", doziert Dolmance. "Gelangen wir nicht durch sie zum Genuß ?" - Diesen Umweg muß bei Sade jede Sexualität gehen; es gibt bei Sade nur indirekte Lust. Darum muß jede neue Praktik geplant, entworfen, beredet, in den Rollen verteilt, choreographisch arrangiert und - vor allem durch ein ständiges "Feuer der Rede" belebt werden. Die Sexualität Sades ist zuerst eine Lust des Sprechens. Nicht regt der Körper die Phantasie auf und stimuliert die Sprache, sondern umgekehrt entzündet erst die Wollust der Rede das müde Fleisch. Die Sadesche Welt ist ausschließlich eine der Sprache, deren Endlosigkeit sich den endlosen Ressourcen der Imagination verdankt. Wahrhaft zügellos ist nicht der Körper, sondern die Phantasie. Der Körper erinnert immer an Grenzen und kann niemals das Schauspiel der unendlichen Lust so perfekt aufführen wie die Endlosigkeit der Sprache. Der Überfluß und die totale Verausgabung übersteigt den Körper. Die flüssige Valuta des Spermas, so reichlich die Libertins darüber verfügen, sind nur ein schwaches Abbild des unendlichen Stroms der imaginierten Wünsche in der Sprache. In der sexuellen Welt Sades darf es keine Erfüllung geben, an der die Lust zur Ruhe kommt. Ruhe wäre für Sade Leere und Nichts. Darum muß der erschöpfbare, in sich zurücksinkende Körper ständig überschritten werden durch eine Lustunendlichkeit, die die Transzendenz des Körpers darstellt und einzig im endlosen Sprachfluß des Imaginären Gestalt findet. Die Phantasie ist der symbolische Phallus der Libertins, der Traum ihrer Unerschöpflichkeit, die noch jede der gewaltigen "Maschinen" mit ihrem grandiosen Spermavorrat übersteigt. Phallische Omnipotenz ist nur in der Imagination zu haben. Die Endlosigkeit der sadianischen Schrift verweist ununterbrochen auf das männliche Leiden an Erschöpfbarkeit des realen Phallus. Sade hat dabei genau verstanden, daß die Unendlichkeit nicht nur durch den realen Körper, sondern auch durch die bestehenden kulturellen Konventionen begrenzt wird. Eben darum koaliert die Phantasie mit der Vernunft. Sade eignet sich sämtliche Verfahren der radikalen Ideologiekritik des französischen Materialismus an, um der Einbildungskraft eine tabula rasa zu bescheren. "Die Phantasie", weiß Madame de Saint-Ange, "hilft uns nur, wenn unser Geist von Vorurteilen völlig frei ist: Ein einziges genügt, um sie erkalten zu lassen. Der launenhafte Teil unseres Geistes ist derart ausschweifend, daß er keine Grenzen kennt, seinen größten Triumph, die höchsten Wonnen erfährt er, wenn er alle Schranken zerbricht, die man ihm in den Weg stellt. Die Phantasie ist der Feind der Norm; abgöttisch verehrt sie die Regellosigkeit und alles, was das Flair des Verbrecherischen hat." Und so belehrt, fragt Eugenie zurück: "Nun denn, wenn wir die Phantasie schweifen ließen, wenn wir sie die äußersten Grenzen überschreiten ließen die Religion, Anstand, Menschlichkeit, Tugend, kurz all unsere angeblichen Pflichten uns vorschreiben wollen, müßte sie dann nicht ganz wunderbarer, absonderlicher Einfälle fähig sein" "Zweifellos." - "Wenn das so ist, dann müßten wir unserer Phantasie in Richtung auf die unvorstellbarsten Dinge freien Lauf lassen, je mehr wir erregt werden wollen, je heftigere Reize wir empfinden wollen; je weiter der Kopf zu gehen bereit ist, desto mehr Lust werden wir empfinden . . ." Die Unendlichkeit der Lust ist ein Phantasma des "Kopfes". Die Einbildungskraft triumphiert nur dort, wo die Vernunft sich völlig über "Vorurteile" aufgeklärt hat. Darum tendiert die sexuelle Phantasie Sades zur Philosophie. Mit dieser hat da18. Jahrhundert ein Instrument der Vorurteilskritik geschaffen, dessen sich Sade bemächtigt, weil es das klassische Medium der Überschreitung darstellt. Sade schwebt vor, daß der Verbindung von Phantasie und rationalistischer Kritik eine Energie entspringt, der nichts standhält. Der Kurzschluß von Ratio und Einbildungskraft entzündet die Spannkraft eines Geistes, dessen einzige Aktionsform die Vergewaltigung ist. Die intellektuellen Passagen, die Philosophie Sades sind die gebündelte Energieform eines aggressiven Phallozentrismus. So wie das Monstrum Minski mit seinem Phallus notwendig jeden tötet, so soll jeder Gedanke, jeder Einfall eines Libertin die Zertrümmerung einer Grenze, einer Norm, einer Regel sein. Die hochverdichtete Bündelung imaginärer und rationaler Tätigkeit bei Sade ermöglicht, daß das Denken sich von der normativen Vernunft der Aufklärung verabschiedet und in einen grenzenlosen Rausch der Wut und Zerstörung tritt. Denken und Exzeß sind eins. In ermüdender Insistenz wiederholt Sade, daß es dagegen kein vernünftiges Argument gibt. Wo immer auch gegenüber der phal1ischen Harte und Zerstörungslust des Denkens an Menschlichkeit und Mitleid appelliert wird, weist Sade dies mit einem Spott zurück, der den Nietzsches in der Genealogie der Moral weit übertrifft- jede moralische Norm sei nur das mitleidheischende Gebarme des Schwachen, der den Starken davon abhalten wolle, von seiner Kraft Gebrauch zu machen. Widernatur aber sei es, eine Energie nicht einzusetzen, über die man verfüge. Wie bei Nietzsche, so verbirgt sich hinter dem phallischen Heroismus die Angst vor der eigenen Schwäche und Verletzlichkeit. Das tragische Dilemma Sades besteht darin, daß er, der wirklich Opfer wurde, die Erfahrung der Schwäche immer nur abwehrend durch die Behauptung des Gegenteils verarbeitete. Die unbesiegbare Stärke aber läßt sich einzig aufrechterhalten in der Schrift. Schreibend hält der Vergewaltigte an der Fiktion seines alles vergewaltigenden Phallus fest.
Warum sind bei Sade alle Libertins auch Philosophen? - Sades Romane sind eher philosophische als pornographische. Unendlich, wie eben nicht das Sperma der Libertins, strömt dagegen deren philosophischer Diskurs. Auf den ersten Blick scheint es, daß der Diskurs ideologisch sei: er rechtfertigt die ruchlose Praxis, die Herrschaftssexualität der Libertins, und sucht ständig nach Wegen, alle jene moralischen und sozialen Vorurteile beiseite zu räumen, welche die Entfaltung des Lasters behindern. Auf der Formebene unterscheidet sich das sadianische Denken nicht vom Aufklärungsdiskurs überhaupt: völlig stimmt Sade mit diesem darin überein, daß das Denken die Aufgabe habe, traditionelle und ungerechtfertigte Normativiäten aufzulösen und der Vernunft zur Durchsetzung zu verhelfen. Was Sade von der klassischen Aufklärung trennt, ja diese negiert, ist nicht die Form des Diskurses, sondern dessen energetische Verfassung. Aufgeklärte Rationalität setzt ihren Stolz und ihre Legitimität darin, daß die Stimmen der Affekte und Sinne neutralisiert sind und einzig die Stimme der allgemeinen Vernunft und Moral spricht. Niemand wußte so deutlich wie Kant, daß Vernunft sich mit Askese zu verbinden hat. Als Kampf behauptet sich die Vernunft gegen die Ansprüche der Leidenschaften. Der heimliche Affekt dieser Vernunft ist masochistisch: es ist ihre Lust, sich dem heiligen Sittengesetz zu unterwerfen und am Glanz seiner Idealität teilzuhaben. Hieraus erwächst die "ehrbare Philosophie" (Pierre Klossowski). Die sadianische Vernunft ist deren Gegenzug, ruchlose Philosophie. Der gesamteuropäische Skandal Sades besteht bis heute darin, daß bei ihm Philosophie restlos durchtränkt ist von sexueller Energie. Philosophie ist das Aggregat des Triebs, wie in anderer Weise dies auch der Spermastrom und der gänzlich von Sexualität besetzte Körper ist. Das Denken Sades ist ein radikaler Einspruch gegen das entkörperte Cogito abendländischer Philosophie. Sadianische Vernunft ist Verkörperung des Triebs in der Schrift. Wer mag nach Sade noch länger behaupten, sein Diskurs sei nicht eine Form sexueller Energie? Erst Freud, in harmloser und sozial akzeptabler Weise, verhalf der Sadeschen Wahrheit zu größerer Verbreitung: Daß nämlich Denken, noch das abstrakteste, aus der Libido abgezweigte Energie ist. Die libertine Philosophie ist eine ununterbrochene Schmähung des Descartes, der dem anthropologischen Dualismus im Auseinanderreißen von res cogitans und res extensa, von Geist und Körper die maßgebende Gestalt gegeben hatte.
Die sadianische Philosophie zehrt, wie Maurice Blanchot am klarsten demonstrierte, vom Geist der Negation. Das ist ihr Triumph und ihre Tragik. Denn die Negation bleibt bei Sade auf immer dem Negierten verhaftet. Wenn jede Moral, jede soziale Konvention, wenn vor allem Gott und schließlich noch die bis zuletzt zum Kronzeugen bestellte sinnlose Natur negiert sind, rufen die Libertins sie immer zurück: sie bedürfen ihrer als Objekte der Schmähung und als Widerlager der Überschreitung, auf die allein die sadianische Lust sich gründet. Denn es geht nicht um die Begründung einer Philosophie der Negation. Sondern Sade nutzt diese nur als Medium des Skandals, der Wut, des entfesselten Diskurses der bösen Lust und der Blasphemie. Nachdem die Negationen sich erschöpft haben, fallen sie auf den Negierenden zurück. Und so phantasieren die kühnsten der Sadeschen Helden (z.B. die Prinzessin Borghese in Der Neuen Justine) ihre eigene Hinrichtung als absolute Negation. Dies aber ist ein Paradox. O Juliette, ich möchte, daß meine Verirrungen mir dasselbe Schicksal bereiten, wie ihr Sittenverfall den niedrigsten Kreaturen. Das Schafott selbst wäre für mich der Thron der Wollust, dort würde ich dem Tode trotzen glücklich vor Lust, als Opfer meiner Frevel den Geist aufgeben. Der hingerichtete Körper ist jedoch der Möglichkeit beraubt, diese ultimative Negation als Lust zu besetzen. Dennoch aber: Sades Helden wollen den eigenen Tod als Triumph der Lust am Bösen, der Negation. Wenig zählt dabei, daß, wer seine Hinrichtung als Exzeß ersehnt, das Funktionieren der Instanzen voraussetzt, die den Tod verhängen. Der Wunsch bleibt ungeheuerlich, radikalste Imagination der Verschwisterung von Tod und Lust, die wir, lebend, ablehnen müssen. Triumphiert darin nicht doch die Sadesche Negation: daß wir ihn, um den Preis unseres Lebens, verurteilen müssen? Vielleicht ist dies die kühnste Verkehrung Sades: er, der in Vincennes, in der Bastille, in Charenton eingekerkert ist, zwingt uns als kategorischen Imperativ auf, ihn zu töten. Dagegen sperrt sich die Rezeption: wir wollen nicht wissen, daß es zur Logik unserer Selbstbehauptung gehört, den Tod des Anderen nicht nur billigend in Kauf zu nehmen, sondern zu verlangen. Die Rolle dieses Anderen, unvermittelbar mit dem zur Einzigkeit erhobenen Imperativ der Selbsterhaltung, hat Sade in einer niemals wiederholbaren Radikalität der Schrift gespielt.
Einer postaufgeklärten Vernunft, die den atheistischen Diskurs durchlaufen hat, muß es selbstverständlich sein, daß das Denken sich einzig auf die Praxis beziehen kann. Aufklärungsphilosophie tendiert darum zu Ökonomie und Sozialphilosophie. Tertium non dature? Sade läßt im Boudoir philosophieren. Das Denken, das Gott negiert hat und sich aus der Zitadelle der reinen Vernunft sehnt, stößt nicht zuerst auf den arbeitenden und sozialen Körper, sondern auf den sexuellen Körper und die Lust. Daß Philosophie im Boudoir oder im Serail ihren Ort hat, ist als Provokation der Professoren gemeint, die vom Katheder über die Frage räsonieren: "Was heißt: sich im Denken orientieren?" (so Immanuel Kant). Die Sadesche Philosophie widersetzt sich solcher Verbürgerlichung und trägt mit Bewußtsein auch dann noch die Privilegien des Adels, als Sade während der Französischen Revolution praktisch und theoretisch deren Fürsprecher wird. Für den libertinen Philosophen ist Arbeit ein Tabu wie für den Adligen, moralisches Handeln eine Erniedrigung des explosiven Lustkörpers. Der Denkende hat sich, wie der Adel und der Perverse, von aller Vermischung mit dem blöden Volk, auf dem die Reproduktionslasten liegen, zu reinigen. Der Muff der Moral und die Mühe der Arbeit sind Fesseln des Denkens wie zugleich des Körpers. Wenn, wie bei Sade, Denken und Lust ineinander übergehen sollen, müssen Sozialprivilegien in Anspruch genommen werden. Sade zieht dabei nur einen anderen Schluß daraus, daß alles Denken Produkt einer Klausur ist. In der umgebenden Gesellschaft sind die in weltferne Arkanzonen verlagerten Orte der sadianischen Philosophie nicht weniger "inneres Ausland" (Freud) als die Studierstube Kants. Der Philosoph hat sich durch rituelle Distanzen von der Außenwelt abgeriegelt, gerade damit er seine Kopfgeburten dem Weltrumpf als Haupt aufsetzen kann. So auch läßt Sade in Sperrbezirken denken, Klausuren der Lust: erst die Distanz macht das Denken fürs Nächstliegende frei, nämlich den Lustkörper. Diesen predigt Sade aus seinem Gefängnis nicht weniger endlos als Kant aus der Königsburg der Vernunft sein Sittengesetz . Deutlicher als zunächst bei Kant ist dies bei Sade als Symptom einer Isolation erkennbar. Sades Denken ist ein Gefängnisdiskurs. Er hat das Gefängnis als traumatische Kastration erlebt, als Beraubung freier Praxis des Begehrens. In der Einkerkerung bemächtigt sich das Denken des Einzigen, was ihm bleibt, des Körpers, und macht diesen zu seiner Funktion. Kant - kaum ist er, etwa beim Essen, der Zelle seiner Abstraktionen entkommen - redet von nichts lieber als von seinem Körper. Der hypochondrische Leib Kants ist nicht weniger das Symptom einer Gefangenschaft, als die Philosophie Sades eine Notwehr des gefesselten Körpers ist. Die absolute Souveränität der kantischen Vernunft bezahlt sich mit der im Körper irrlichternden Hypochondrie. Die Souveränität des libertinen Körpers verdankt sich dem ver-rückten Diskurs der Vernunft des gefangenen Sade. Auf der erdabgewandten Seite der Philosophie verkoppeln sich die sadianische und die kantische Schrift. Die Ohnmacht zu handeln, gebiert die Ungeheuer des Lasters wie die Omnipotenz-Träume der Vernunft: beide wollen das Universum in Regie nehmen. Wir schreiben der Natur die Gesetze vor -diese Pointe der kantischen Philosophie ist auch das äußerste Phantasma Sades. Was dem einen Erkenntnis ist, heißt dem anderen Lust. Herrschaft ist beides, unverborgen bei Sade, verhüllt bei Kant.
Das 18. Jahrhundert ist in vielerlei Hinsicht ein Jahrhundert der Familie. Es ist, als läge das junge Bürgertum der europäischen Gesellschaften noch in der Wiege seiner kindlichsten Phantasien und träume den Wachtraum vom seligmachenden, auf Liebe gegründeten Familienglück. Niemals reißt der propagandistische Strom der Familiendiskurse ab. Kein Dichter, kein Philosoph, kein Zeitungsschreiber, der nicht vom Sog dieses Phantasmas ergriffen wäre. In ständiger Selbstermahnung spricht die lesende Öffentlichkeit sich zu: und wenn auch alle Hoffnungen scheitern so wartet dennoch unauslöschlich im Schoß der Familie das Glück des Bescheidenen. Man kann die hierbei waltende Einschreibungsenergie kaum unterschätzen. Ausgehend von den Ideologen des Bürgertums, werden hier die Rollen vernetzt für Väter und Ehefrauen, Töchter und Söhne, Kinder und Adoleszenten, wird ein Gebilde fein verteilter Mächte geschaffen, wird die Sexualität in berechnete Portionen, Positionen, Rhythmen überführt, werden die Gesten und Bedeutungen familiärer Kommunikation festgelegt, werden die Familienmythen ins Unbewußte eingeschrieben und das moralische Bewußtsein gerüstet. In Tausenden von Komödien und Tragödien, Romanen und Novellen, Artikeln und Abhandlungen wird gelernt, daß jeder, der das Skript seiner Familienrolle nicht beherrscht, aus dem Vernunftzusammenhang der Gesellschaft herausfällt. Jenseits der Familiengrenze beginnt sofort die Krankheit, der Wahnsinn, die Asozialität, das Verbrechen. Der Familiendiskurs triumphiert zwar erst im 19, Jahrhundert, in welchem die Familie als Lebensform für alle Klassen gleichermaßen verbindlich wird. Um so wichtiger ist, daß schon in der Frühgeschichte der bürgerlichen Familie im 18. Jahrhundert zumindest literarisch die Bruchstellen, Widersprüche, Gewaltformen und bewußten wie unbewußten Konflikte kleinfamilialer Codifizierungen reflektiert werden. Man lese nur Anton Reiser oder ein Drama des jungen J. M. R. Lenz. Und Goethes skeptische Einschätzung der Familie hält sich vom Werther bis ins Spätwerk, siehe die Wahlverwandtschaften und die Wanderjahre. Doch aufs Ganze geht, wieder einmal, der Marquis de Sade. Seine Romane sind von wildem, antifamiliastischem Geist geprägt. "Unsere Familie", sagt Monsieur de Gernande, "ist die Familie des Ödipus, liebe Justine." Und er erzählt, was er und sein Bruder ihrer dritten Schwester zugedacht haben: "Die dritte siehst du hier. Wir haben sie ihrer vornehmen Herkunft beraubt. Sie ist wie eine Dienstmagd aufgewachsen. Mein Bruder hat sie bei seiner Heirat seiner Frau als Kammerzofe überlassen. Sie wird Marceline gerufen. Die junge Person, die du ebenfalls zu Frau von Verneuils Anhang zählst, ist eine Tochter Marcelines und meines Bruder, was sie zu seiner Nichte und zugleich zu seiner Tochter macht. Sie ist die Mutter der beiden kleinen von dir so bewunderten Kinder, die ebenfalls meinem Bruder ihr Leben verdanken. Die beiden Kleinen sind, wie du dir denken kannst, noch jungfräulich. Und Verneuil will, daß sie hier ihre Unschuld verlieren. Ergötzt er sich an diesem kleinen Mädchen, so vergeht er sich zugleich an einer Tochter, Enkelin und Nichte. Nichts amüsiert ihn so sehr als alle diese hirngespinstigen Bande zu zerreißen." (Neue Justine) Derartige, überaus häufige Passagen in Sades Werk zeigen, welchen Stellenwert die pornographische Praxis eigentlich hat: sie ist nichts als die Pointe eines komplexen anti-familialen Diskurses und eines akribischen Planungskalküls. Dieses wird von den Libertins über Generationen angelegt, um dadurch an eine Stelle zu kommen, an der möglichst viele, man möchte sagen, Gegen Signifikanten sich kreuzen und dadurch eine explosive Kettenreaktion "böser" Bedeutungen ausgelöst wird. Sieht man in die Familienrührstücke und bürgerlichen Trauerspiele des 18. Jahrhunderts, so gilt auf einer verborgenen, im Bühnendiskurs sorgfältig leer gelassenen Ebene sicherlich auch hier, daß alle Familien "Familien des Ödipus" sind. Doch sind sie es aus "Versehen", nämlich unbewußt. Die Rache Sades an der Familie, von der er sich so vielfältig verletzt und enttäuscht fühlt, besteht darin, die unbewußte ödipale Strukturierung der Familie und die exogame Organisation der Generativität in grellste Beleuchtung zu setzen und das komplexe Netz der Verwandtschaft strategisch zu unterlaufen. Was schon ist ein unbewußter Inzest? Was ist eine inzestuöse Phantasie? Sie begründen, wie an den bürgerlichen Tragödien zu sehen, das tragische Szenario der Familie - aber eben, wie Sade sagt, als ein solches von Hirngespinsten und Geisterkämpfen. Sie alle erhalten nur das System Familie, lassen das Schuldkonto der Söhne und Töchter wachsen und machen sie darum um so eher zu manipulierbaren Objekten der heuchlerischen Elternmoral. Was nützt schon Rebellion? - Man sehe auf den kleinen deutschen Bruder der französischen Materialisten, den rasenden Franz Moor (in Schillers Räuber). Er wird eingeholt von der Familienmoral, weil sein Autor eben nicht Sade, sondern ein Mann ist, der die ungeheure, haßerzeugende Unterwerfung unter den Code der Familie nicht mit kältester Vernunft abstreifen kann. Gerade darum ist Schiller realistischer. Verneuil dagegen, der über Generationen hin eine Konstellation plant, in der er Tochter, Enkelin und Nichte zugleich vergewaltigen und sodomieren kann, ist eine absolute Kunstfigur. Nicht eine unbewußte Verkettung von Motiven und Handlungen schafft den tragischen ödipalen Konflikt; sondern der antifamiliale Diskurs schafft rein imaginäre Gleichungen, Operatoren, Potenzen, die das einfache Signifikat "Inzest" mittels einer Art Arithmetrie ins fast Undenkbare vervielfachen sollen. Es gibt bei Sade immer wieder Orgien Szenarios, deren Anlage so kompliziert ist, daß jedes realistische Vorstellungsvermögen überschritten ist. Wenn man so weit ist, hat man verstanden, daß genau darauf es Sade auch nicht ankommt. Die Orgie z. B. des potenzierten Inzests ist ein rein sprachliches Kunstgebilde, ist eine Produktionsmaschine antifamilialer Bedeutungen und meint nichts auf der Ebene, auf der wir uns real in ödipale Dramen verstricken mögen. Sade will damit demonstrieren, daß jedes Sich Verstricken in ödipale Dramen auf der Ebene der Handlung unausweichlich zur Unterwerfung unter die Ordnung der Familie führt. Darum schreibt Sade surrealistisch. Nicht das mindeste Interesse nimmt er an den Dramen des Subjekts, er schreibt nicht dessen Geschichte von Begehren und Schuld, in der es eine Subjektivität gerade als Einschreibung, als Signatur des Ödipus erleidet. Sades Welt ist eine Welt ohne Subjekte, weil niemand wie Sade begriffen hat, daß das Subjekt ein Produkt einer unbewußt verlaufenden Einschreibungsenergie ist, die man Sozialisation nennt. Sade verweigert seinen Figuren konsequent jede Lebensgeschichte. Dadurch kann er sie zu taktischen Positionen in einem Diskurs machen, der strategisch gegen die Familie gerichtet ist. Damit gerät Sade an die Grenze von Literatur. Denn es ist nahezu unmöglich, Romane ohne Subjekte zu schreiben. Doch bei Sade sind selbst die differenziertesten Figuren, die Libertins, kaum Subjekte von Handlungen, sie sind vor allem Sprecher, extrem locker geschürzte, gewissermaßen poröse Subjekte des Diskurses, der niemals ihrer ist - selbst wenn das Sprechen, wie Roland Barthes sagt, das höchste Privileg in den Sadeschen Gesellschaften ist. Aber dieses Sprechen geht durch die Libertins hindurch, der Diskurs bedient sich ihrer, er verknüpft sich über die Figuren, ja über die Werke hinweg. Sade versucht die ungeheure Paradoxie zu lösen, Figuren zu schaffen, die, noch während sie sich als Sprechende zu Subjekten bilden, sich als diese dementieren. Jede Literatur ist sprachlich konstituierte Welt; bei Sade aber entsteht zum ersten Mal eine Literatur, die nicht eine Welt durch Sprache sondern durch diese wieder nur ein Sprechen konstituieren will. Und dies liegt entscheidend daran, daß Sade eine radikale Subversion des Subjekts betreibt, dessen Urgeschichte immer vom Ödipus-Drama geschrieben ist und von diesem gefangen bleibt. Für Sade ist Subjekt- Sein eine Figur der Kastration, einer Geschichte der Unterwerfung unter die Familie. Darum tilgt Sade in allen Figuren das ödipale Begehren. Er weiß, daß dieses Begehren geweckt wird in der Familie, um über seine Codifizierung das Subjekt der Familie zu unterwerfen. Bei Sade - man sehe sich die Statuten der "Gesellschaft der Freunde des Verbrechens" an - ist der Inzest kein Begehren, sondern ein Gebot. Dies ist eine Ungeheuerlichkeit. Sie verlangt von jedem Novizen dieses Geheimbundes nichts weniger, als sich als Subjekt zu negieren, die eigene Geschichte zu überschreiten und zu verabschieden. Das Inzestgebot ist die strategische Position, jenseits derer erst das eigentliche Schreiben Sades anheben kann, nämlich das Durchdenken des Verbrechens, also der Diskurs als die Sprachmaschine zur Erzeugung gegenfamilialer Signifikanten. Natürlich strotzt der Sadesche Roman dennoch von Obszönitäten, die gewissermaßen ganz schlicht unser Moralempfinden und unsere familiengebundene Subjektivität provozieren sollen. Die eigentliche antifamiliale Provokation Sades aber liegt in der Form seiner Literatur, die in dem Maße, wie sie den Figuren ihre Subjektivität radikal verweigert und sie zu Transistoren einer Obszönität macht, die nur im subjektlosen Rinnen des Diskurses sich entfaltet, uns als Leser negiert: nämlich als Subjekte, die die eigene Geschichte ödipaler Strukturierung in die Literatur hineintragen und hier abarbeiten wollen.
Sade ist sadistisch genug, ausgerechnet der Frauenbewegung ihre Forderungen vorzubuchstabieren. "Dein Körper gehört dir, allein; und du allein auf der Welt hast das Recht, ihn zu genießen und genießen zu lassen, wen du willst." So erzieht Madame de Saint-Ange die junge Eugenie. Niemand vor Sade hat so radikal die familiale Codifizierung der Töchter in der Familie kritisiert. Er reißt den Schleier der Liebe von der Töchtererziehung und demonstriert, daß Väter wie Mütter, aus handfesten materiellen und psychologischen Interessen, die Mädchen zur Unselbständigkeit modeln, um sie als Ware auf dem Heiratsmarkt zu verhökern, sie auf die Rolle als gedemütigte Ehefrau und auf ihre Fortpflanzungsfunktionen festzulegen. Natürlich plädiert Sade für die Freigabe der Abtreibung allein in der Verantwortung der Frau; natürlich weiß Sade, daß Empfängnisverhütung und Frauenemanzipation sich bedingen. Aufs genaueste wird den Mädchen erklärt, wie sie ihrer Zurichtung zur Gebärmaschine entkommen, die Ehe unter laufen und der familialen Einschreibung begegnen können. Bei Kant hat die Frau den Rechtsstatus von Dingen und Tieren in der Eigentumszone des Ehemannes. Bürgerrechte kommen Frauen sowenig zu wie Kindern oder Hühnern. Sade dagegen geißelt eine Familienordnung, in der die Töchter "Sklaven ihrer Familie" sind, Willkürobjekte "der Habgier und des Ehrgeizes der Väter". Gegenüber den Frauenbildern des 18. Jahrhunderts, die die weibliche Sozialisation auch ikonographisch in die Pole der unentblätterten Rose (der ätherischen Jungfrau) und der passiven Wurzelerde der Fortpflanzung (der tugendhaften Ehefrau) spannt: gegen solche Frauenbilder mobilisiert Sade eine lange Reihe von Frauenfiguren, die mit ihrer sexuellen und verbrecherischen Energie an die Heroen der Libertinage heranreichen, wenn sie diese nicht sogar übertreffen: Madame de Saint-Ange, Juliette, die Tribadin Clairwil, die Giftmischerin La Durand, die Prinzessin Borghese. Als Kontrast sehe man auf die tugendhafte Justine oder die demütige Ehefrau des Monsieur de Gernande: an ihnen, die völlig in den moralischen Normen des 18. Jahrhunderts aufgehen, demonstriert Sade mit Genuß, daß solche Frauen zu nichts anderem als zu Opfern taugen. Und ist das nicht wahr? Dagegen setzt Sade seinen Kategorischen Imperativ: "Ficke also, Eugenie, ficke, mein Engel! " Natürlich hätte Sade für die Frauenbewegung nichts übrig. Wie ihr zum Spott läßt er die emanzipierte Juliette sagen: "Ich atme einzig und allein für den heiligen Schwanz....!" Die Kehrseite der libertären Grundsätze der Frauenerziehung ist die vollständige Vergesellschaftung der Frau. Unermüdlich wiederholt Sade seine These, daß die Natur der Frau das Ficken sei Frauen sind sexuelles Gemeineigentum. Die universelle Prostitution (Klossowski) schwebt ihm als integraler Bestandteil seiner Gesellschaftsutopie vor. Die sexuelle Befreiung ist bei Sade mit rigoroser Objektivierung verknüpft. Nichts verbindet das Begehren mit dem begehrten Objekt. Der Genuß vollends macht das Objekt so gleichgültig wie ein Stück Fleisch, das uns das Wasser im Munde zusammenlaufen läßt, als Verschlungenes jedoch glanzlose, nichtige Materie ist. Kant kaute Fleisch nur aus und legte es dann auf den Tellerrand zurück. So wird bei Sade die genossene Frau ausgespien und zum Gegenstand des Ekels. Das Begehren leiht dem Objekt vorübergehenden Glanz, der in Verachtung um schlägt, hat das Begehren sich gesättigt. Natürlich ist das frauenfeindlich und, da dieser Grundsatz bei Sade für beide Geschlechter gilt, menschenverachtend. Freilich das wußte Sade selbst. Und doch folgt Sade darin der Logik des Triebs. Nur die Liebe kann mildern, daß das Begehrte nach gesättigter Begierde gleichgültig wird. In der Liebe allein bleibt auch post coitum die Subjektivität des Anderen gewahrt. Die universelle Prostitution aber, die den Anderen nur als Objekt totaler Verfügung und bloßes Komplement des eigenen Triebs zuläßt, ist bei Sade als Subversion eben dieser Subjektivität gemeint. Das Jahrhundert der Entdeckung des Subjekts mündet bei Sade in dessen rigoroser Dementierung. Der Sadesche Diskurs zielt auf die Enteignung des Identitätsbewußtseins, das sich noch gegen und im sexuellen Körper behaupten will. Eben diese Errungenschaft aus Tausenden von empfindsamen Romanen und Dramen des 18. Jahrhunderts, nämlich in der sogenannten partnerschaftlichen Liebe und sogar in der Sexualität das Modell der Respektierung der Anderen erfunden zu haben, will Sade provozieren und unterlaufen: darum die universelle Prostitution. Sade insistiert auf der Subjektlosigkeit der Sexualität, um den Ideologiecharakter der empfindsamen Liebe zu erweisen. Immerhin dies bliebe von Sade zu lernen: es gibt keine Frauenbefreiung ohne das radikale Durchdenken der Prostitution. Die Liebe mit ihrem zerstreuend subjektiven Glanz kann ebenso eine Falle sein wie der libertäre Schein sexueller Revolution. Zu Recht setzt Sade hinter jede Form von Sexualmoral das "Cui bono?" Die Liebe, so Sade, nützt nur der Herrschaft der Familie und dem ideologischen Schein der Subjektivität; und die libertine Emanzipation begründet die Herrschaft einer Zwangsunmoral auf der Grundlage zynischer Degradierung aller Anderen zu verächtlichen Objekten der Begierde. Durch die Heillosigkeit dieser Alternative hat allererst Sade das Dilemma trans-familialer Moral in der Postmoderne formuliert. Von einer Lösung sind wir weit entfernt.
Im Werk Sades gibt es immer wieder Figuren, die die sadianischen Phantasien aufs äußerste verdichten. Es sind Ausgeburten des Höllischen, Monstren, das heißt: vorzuzeigende Exponate der Einbildungskraft. Zum Beispiel der Moskovit Minski, der "Eremit des Apennin". Durch Ermordung seiner Familie und eine Unzahl weiterer Verbrechen hat Minski sich unermeßliche Reichtümer angeeignet, die ihn, wie immer bei Sade, des Titels der Einzigartigkeit lasterhafter Gesinnung würdig erscheinen lassen. Freilich läßt Sade hier alle Grenzen hinter sich, die selbst dem Verbrechen im Ancien regime gesetzt sind. Minski ist eine reine Kunstfigur: 3,10 Meter groß, mit einem ständig erigierten fünfundvierzig Zentimeter langen und zweiundvierzig Zentimeter umfänglichen Schwanz, der jeden Coitus zum Mord macht. Sadianischer Urtraum - der Phallus als tödliche Waffe. Minski hat sich an einen gänzlich unzugänglichen Ort zurückgezogen, der alle topographischen Merkmale des exterritorialen Lasters bei Sade trägt. Wie im zeitgenössischen Schauerroman müssen Juliette und ihre Begleiter stundenlang durch öde, menschenleere Gebirgs- und Waldzonen wandern, bis sie an einen 3800 Meter tiefen Abgrund kommen, in den sie hinabklettern, auf einen See stoßen und zu einer Insel übersetzen. Auf dieser liegt eine von riesigen Mauern umgebene und durch Wassergräben geschützte Festung inmitten einer undurchdringlichen dschungelartigen Natur: dies ist der Serail Minskis, in den dieser seine Gäste durch einen unterirdischen Gang mit gefängnisartigen, skelettverzierten Gewölben führt. Nichts an dieser Szenerie ist realistisch, alles ist Imagination. Der Leser folgt einer literarisch klischierten Topographie, die ihn auf das Grauen einstellen soll. Der Weg, den der Leser beschreitet, führt aber direkt aus einer mimetischen Literatur heraus und hinein in die Schluchten und Enklaven absoluter Phantasie. Minski führt seine Gäste nicht zu irgendeinem Raum in dieser Welt, sondern in die Kammern der Imagination Sades. Die exterritorialen Orte des Lasters bei Sade wollen durch nichts an eine vorhandene Welt erinnern (wenn das doch ginge!) sondern einzig hineinführen in die absolute Poesie des Gehirns. Im Inneren dieses surrealen Reichs entfaltet Sade dann die Ordnung des Verbrechens, hier auf die Spitze getrieben. Das Minskische Schloß - Blaubarts Burg ist nichts dagegen enthält eine große Population von Sexualobjekten (4oo Mädchen und Frauen), unabsehbaren Mengen von Dienern, erfahrenen alten Frauen mit Hilfsfunktionen, Lustknaben und einem beamtenhaften Apparat der Organisation und Ressourcensicherung. Minski lebt nur von Menschenfleisch - er ißt die zu Tode coitierten Mädchen, die freilich zu erlesenen Menüs verarbeitet werden, zu denen Minski beiläufig 60 Flaschen Wein trinkt. Das Meublement ist aus lebenden Menschenleibern zusammengesetzt: man sitzt auf Sesseln und ißt von Tischen, die aus nackten Frauenkörpern zusammengeflochten sind. Mindestens zehnmal am Tag muß Minski entladen, wofür die Opfer auf kunstreiche technische Apparate geschnallt werden. Vom Bett aus kann Minski einen Mechanismus I bedienen, der zugleich 16 Frauen auf raffinierteste und variantenreiche Weise zu Tode foltert. Derartige Szenarien in Sades Werk erinnern nachhaltig daran daß zwischen sozialer Welt und Literatur keine Referenz bestehen soll. Sades Welt ist eine Welt des Sprechens über das Begehren, also eine imaginäre Welt, die vollkommen quer steht zur europäischen Erzähltradition, die dem Mimesis und Realismuskonzept verpflichtet ist. Mimetische Literatur setzt eine Welt sozial differenzierter Handlungen und Subjekte voraus, deren interne Logik den 2 Regeln der erzählerischen Organisation vorgeordnet ist. Es ist das Strukturnetz der sozialen und symbolischen Ordnungen, das normativ vorgibt, wie weit narrative Phantasie den Bereich des als wirklich Geltenden überschreiten darf, um nicht als unrealistisch durchzufallen. Roland Barthes hat zuerst eingesehen, daß die Romane Sades den Geltungsanspruch des Realismus radikal zerstören und der Kombinatorik, den Operationen und Strukturen des Imaginären, der "Semiosis und nicht der Mimesi" (Barthes) folgen. Warum dies so ist, geht aus der Barthesschen Beschreibung der Sadeschen Semiosis freilich nicht hervor. "Das Universum selbst schien mir für das Ausmaß meiner Wünsche noch nicht groß genug, es setzte mir Grenzen: die wollte ich nicht", erklärt Minski. Hier ist das Geheimnis des Imaginären benannt: es ist der Traum grenzenloser Omnipotenz. Minskis Serail objektiviert die Phantasie eines grenzenlos alles erfüllenden Begehrens. Dies muß zur Imagination des Mordes führen. Der Mord des begehrten Objekts erst erfüllt, daß es nichts als das Begehren selbst gibt. Wo dieses sich grenzenlos setzt, ist der Tod des Objekts beschlossen. Die gesamte Welt Minskis hat nicht eigentlich den Charakter von "Welt" - sie ist nicht von Minski unterschieden, hat keine Selbständigkeit und keine eigene Dynamik. Die Naturenklave, das Schloß und alle Bewohner sind erweitertes Ich Minskis. Die zu Möbeln verkoppelten Frauenleiber sind so wesenlos wie die zu bedeutungsloser Materie verdauten Mädchenkörper, die in Minskis Lust wahrhaft verzehrt werden. Das Ich Minskis ist Alles und: alles Andere ist Nichts. "Ich habe hier alle Rechte eines Herrschers", untertreibt Minski. Es ist mehr: es ist die Despotie absoluter Phantasie, die Sade hier Gestalt werden läßt. Das Begehren, das alles verzehrend sich aneignet, muß notwendig mit der Vorstellung einer Sexualität verbunden sein, bei welcher erst der Tod des Objekts den Orgasmus auslöst. Nur die restlose Extinktion des Anderen bewahrheitet, daß das Begehren Eins und Alles ist, ein grenzenloses Universum darstellt. Darum darf nichts in der Minskischen Welt an ein Draußen erinnern. Die Exterritorialität des Serails nämlich heißt: noch das Dingliche und Figürliche in ihm ist Innenwelt des Libertin. Oder auch: der Serail ist nach außen gestülpte Innenwelt, er bringt nichts als die in diese eingeschlossenen Phantasien zur Darstellung -als absolute Poesie. Das Semiotische bzw. Nicht-Mimetische der Sadeschen Literatur, von dem Roland Barthes spricht, ist also Ergebnis einer narzißtischen Wut. Nicht nur, daß jeder Wunsch im Imaginären sich die Zone seiner unumschränkten Despotie schafft. Sondern vor allem, daß die Widerständigkeit der Objekte die ungeheure Wut dessen weckt, der alles seinem Universum einverleiben will, treibt den Sadeschen Diskurs hervor. Das Semiotische ist die narzißtische Rache der Imagination dafür, daß die Welt unnachgiebig das Ich partikularisiert - in die Endlichkeit seiner Vermögen einsperrt -oder gar, wie Sade im Gefängnis, wirklich einsperrt. Minskis Kannibalismus verweist darauf, daß das Semiotische der Sadeschen Literatur eine grandiose Einverleibung darstellt - ein Verschlingen und Vernichten der Objekte -, die zu Nichts, zu Scheiße werden sollen: auf daß gilt, was Minski von sich sagt: "Ich bin einzig in meiner Art." Und schließlich ist das Semiotische ein Indikator absoluter Einsamkeit - ein Sprechen des verlassenen, von Todesängsten erfüllten kleinen Kindes, das in trotziger Wut grausige Rachepläne ausbrütet: "O ja, ich kenne alle Schmähungen, mit denen man mich überhäuft, aber da ich mächtig genug bin, um auf niemanden angewiesen zu sein, klug genug, um mich an meiner Einsamkeit zu erfreuen, um alle Menschen zu verachten, um ihrem Urteil zu trotzen und mich über ihre Gefühle für mich lustig zu machen, genug unterrichtet, um auf alle Kulte zu verzichten, um alle Religionen zu verhöhnen und mich von allen Göttern am Arsch lecken zu lassen, stolz genug, um alle Regierungen zu verabscheuen, mich keinen Zügeln, keinen Ketten, keinen moralischen Prinzipien zu unterwerfen, bin ich glücklich in meinem kleinen Reich. "- Dies ist die Rede von den Sandkasten-burgen, die aufgebaut werden, um in ihnen mit gnadenloser Wut und einzigartiger Omnipotenz zu toben. Daß es sich bei der Sadeschen Literatur auch um diese Kläglichkeit handelt, die eine tiefere Trauer und Verletztheit larviert, hat Roland Barthes vergessen zu sagen.
In der Binnenerzählung des Jeronimus (Neue Justine) berichtet dieser von seiner Begegnung mit dem Chemiker Almani auf dem Ä;tna. Der Vulkan weckt in Jeronimus den spontanen Wunsch, "selbst der berühmte Höllenschlund" zu sein, um die eigene Zerstörungsenergie zu vervielfachen. Almani geht solchem Verlangen als Naturwissenschaftler systematisch nach. "Ich habe mein Le-ben damit zugebracht, die Natur zu studieren und ihr ihre Geheimnisse zu entreißen. Und auf Unsterblichkeit bedacht, widme ich meine Entdeckungen seit zwanzig Jahren ausschließlich dem Unheil der Menschen." - Zuviel wußte Sade von der neuzeitlichen " Wissenschaft, um in ihr nicht etwas ihm Verwandtes zu entdecken, nämlich das böse Wissen. Seit Platon war das Wissen immer als Wissen des Guten bestimmt, noch die Renaissance-Naturwissenschaft läßt sich derart platonisch verstehen. Die historische Etablierung der Naturwissenschaft in einem außermoralischen Raum dann gab Sade die Chance, die Idee einer "bösen Naturwissen-schaft" seinem Universum des Lasters einzufügen. Sade hat als einer der ersten begriffen: in dem Typ der Naturwissenschaft, der ihm durch die Aufklärung vorgegeben war, gibt es keine internen normativen Bestimmungen, welche die Wissensproduktion auf das Gute hin regulieren. So konzipiert Sade in Almani den ersten Naturwissenschaftler, der mit Bewußtsein "böses Wissen" produ-ziert. Er trifft damit eine Tabuzone der modernen Naturwissen-schaft überhaupt. Offiziell versteht diese sich zwar als Bedingung: gesellschaftlichen Fortschritts, doch insgeheim unterhält sie die besseren Beziehungen zum Zerstörungswissen. Ist das sadianische Programm des Lasters ohnehin einem technisch durchrationali-sierten Arrangement kompatibel, so verschmelzen Technik und Laster bei Almani vollends: keine Lust, die nicht technisch vermit-telt und vervielfacht wäre. Sexualität hat eine Apparat-Struktur. Wissenschaft ist die Lust des Bösen. Daß dies so ist, hängt aufs engste mit den Tiefenschichten des Sadeschen Naturbegriffs zusammen. Wie viele Libertins ist Almani voller Haß auf die Natur. "Das Motiv, dem Bösen zu huldi-gen", leitet Almani "aus einem gründlichen Studium der Natur" ab. Ihm sei aufgegangen, daß die Natur "nichts als gefräßig, zer-störerisch und bösartig" sei. Ihren Mechanismen liege eine "mör-derische Kunst" zugrunde, die alles nur erhalte, um es zu zerstö-ren, und alles verheere, um es ihrer Gefräßigkeit einzuverleiben. Almani, wie viele von Sades Helden, denunziert die Rousseausche Naturgläubigkeit als eine illusionäre Philosophie, der er seine definition noire von Natur entgegenhält. Natürlich bezieht sich Sade hier auf seine bewunderten Vorbilder Hobbes, d'Holbach oder LaMettrie. Doch radikalisiert er sie in einem Maße, welches das sadi-anische Denken nicht mehr als bloße Fortsetzung des frühmateri-alistischen Diskurses verstehbar macht. Merkwürdigerweise spricht Sade in der Widmung der Philoso-phie im Boudoir von dem "unglücklichen Individuum, das unter dem Namen Mensch bekannt ist und das wider seinen Willen in dieses traurige Universum geworfen wurde". Diese depressive Ä;ußerung korrespondiert mit dem Satz Almanis im Anblick der verheerenden Naturkraft des Vulkans: "Was hat es für einen Sinn, uns zu erschaffen, wenn man uns so unglücklich macht?" - Es gibt eine Unzahl von Stellen, die noch in den verruchtesten Libertins einen depressiven Kern durchschimmern lassen. Der sadianische Mensch ist einem sinnlosen Universum ausgesetzt - das Böse ist eine Strategie der Selbstbehauptung derer, denen die Evidenz sinnvoller kosmischer Ordnungen, der Liebe und des Guten in einer traumatischen Katastrophe entglitten ist. Die Denkanstrengung aller Sadeschen Helden gilt dem Ziel, die wilde Zerstörungslust der Natur zu beweisen. Das Denken entspringt enttäuschter Liebe: "Die barbarische Hand der Natur vermag demnach nur das Böse zu formen: also hat sie am Bösen Freude? Und eine solche Mutter sollte ich fähig sein zu lieben?" - Und wütend, verletzt, trotzig schleudert Almani ihr sein "Nein!" entgegen. Als dann aus dem Inneren der Erde glühende Lavaströme über den Rand des Ä;tnakessels brodeln, richtet Almani masturbierend seinen Phallus gegen die glühenden Sekrete aus dem "Schoß des Vulkans", der "unentwegt in den Tiefen seiner Gebärmutter kochende Materie" ausbrütet (so Clairwil später über den Vesuv, in den sie und Juliette ihre Freundin Olympe wie ein magisches Naturopfer stoßen). "Es kommt mir vor, als befände ich mich in der Hölle", ruft der masturbierende Almani, "als entlüde ich mich direkt ins Höllenfeuer." Und: "Er flucht, lästert und tobt, und sein herausspritzender Samen löscht die Lava im Nu". So soll es sein: Der Spermastrom ist mächtiger als der uterine Lavastrom der Natur. Diesem grandiosen Phantasma des gegen den Glutstrom der Erdvagina sich behauptenden Phallus liegt die unsägliche Wut über die kosmische Verlassenheit durch die Mutter Natur und der Versuch zugrunde, sich an ihr, sie in ihren phanta-sierten Zerstörungspotenzen überbietend, zu rächen. Eben dies motiviert das naturwissenschaftliche Studium Almanis: "Ich verabscheue die Natur, und zwar deshalb, weil ich sie gut kenne, eingeweiht in ihre schrecklichen Geheimnisse, habe ich über mich selbst nachgedacht und ich habe (...) eine unsägliche Lust verspürt, ihre Untaten zu kopieren. (. . .) Kaum bin ich der Wiege dieses Ungeheuers entwachsen, da lockt es mich zu den gleichen Abscheulichkeiten, die es selber ergötzen (...) Versuchen wir wenn es möglich ist, sie masturbierend in ihren eigenen Netzen zu fangen. Umgarnen wir sie mit ihren eigenen Werken, um sie noch schwerer zu beleidigen.". Die definition noire der Natur macht deren Mimesis zur Untat. Naturwissenschaft als Nachahmung der Wlrkungen einer gräßlichen Natur schenkt Almani die Lust einer Rache, auf Natur so grausam und so beherrschend zurückzuschlagen, wie er insgeheim sich von ihr beherrscht und verlassen fühlt. Naturwissenschaft gerät bei Almani zum mörderischen Kampf gegen die Natur. Und doch weiß Almani - wie die meisten der eingeweihten Helden Sades -, daß er diesen Kampf verlieren wird: "Unser Kampf ist allzu ungleich." Durch eine barbarische Tech-nik gelingt es Almani zwar, mittels einer raffinierten Mimesis des Ä;tnas 2500 Einwohner Messinas auf einmal zu töten. Das ist der Wunsch -: der Natur an höllischer Omnipotenz gleich sein; "die ganze Erde in Trümmer sinken" lassen, wie es sich Verneuil wünscht; "einen Tag des Universums mit Schrecken zu erfüllen", wie die Prinzessin Borghese es sich ersehnt; im gehärteten Stolz des einzigartigen Verbrechens sagen zu können "Wir sind Götter", wie Saint-Font mit kältestem Bewußtsein dekrediert -: dies ist der in die Unendlichkeit getriebene Traum der absoluten Souveräni-tät. Aber auch dessen Vergeblichkeit. Denn genau an dieser Stelle bricht der phallische Heroismus der Libertins regelmäßig zusam-men. Sie, die Tausende von Morden begehen, die die gesamte Zivilisation zu vernichten bereit sind, die Gott zu Tode geschun-den haben und Wutorkane der Vernichtung in die Welt entlassen -: .sie vermögen nicht der gehaßten Natur zu entkommen. Im Ge-genteil werden die Sadeschen Helden zu Gefangenen ihres Natur-konzepts, und zwar so, daß auf dem Höhepunkt ihrer Autarkie sie in die tiefste Abhängigkeit fallen. Dolmance erläutert es Eugenie im Boudoir; Madame Delbene klärt Juliette darüber auf, Saint-Font erklärt es während einer Or-gie noch einmal Juliette, und schließlich entwickelt der Papst in den Gemächern des Vatikans die Philosophie der Natur als das Gesetz einer barbarischen Muttergottheit: "Der größte Schurke der Erde", sagt der Papst und trifft damit vernichtend auch Al-mani, "der abscheulichste, grausamste, barbarischste Mörder ist also nur ein Organ ihrer Gesetze, nur die Triebkraft ihrer Launen und der sicherste Anstoß ihrer Ausschweifungen." "Was geschieht hier? Maurice Blanchot, der den sadianischen Haß auf die große Autorität Natur sehr schön herausgearbeitet hat meint dazu, daß die "Souveränität aus dem Geist der Negation" dort umschlägt, wo die Libertins sich als Teil, ja als Instrument einer viel umfassenderen Negation begreifen lernen, die zur Dia-lektik der Natur gehört. In der Tat gehört es - und hier erinnert Sade mehr an Giordano Bruno als an d'Holbach oder La Mettrie- zu den Überzeugungen der Sadeschen Naturphilosophie, daß Natur ein gleichgültiger Rhythmus aus verschlingenden und gebärenden Kräften ist. Tod und Zerstörung sind in diesem Konzept nur Transformationen der Materiebewegung, die durch den Tod der Individuen hindurchgeht, ja, sie im Tod wieder anschließt an den ewigen Strom materieller Produktionen. Selbst der sadianische Verbrecher, der eine Konstruktion zur Vernichtung des Universums erfindet, muß erkennen, daß er damit der Natur nur neue Anstöße zur Hervorbringung alternativer Welten gegeben hat. Er, der in nicht überbietbarer Selbstüberhebung sich zum Souverän über das lebendige Universum aufwirft, ist durch die Natur hinterrücks entmächtigt zum subjektlosen Instrument. Grausam deutlich erfahren die Libertins darin ihre Grenzen. Sie können Gott sich gewachsen zeigen, ja, ihn vernichten - und bleiben Teil der Natur. Das steigert ihren Haß ins Unbändige. Sie begründen ihr Selbstbe-wußtsein auf dem Verbrechen - und erfahren, daß es in der Natur, der jedes Individuum nur eine transitorische Materiefigur ist, kein Verbrechen gibt. Die radikalste Negation der Libertins, der Mord, ist nicht, was er verspricht: er konstituiert nicht das souveräne Subjekt, sondern den Menschen als bloßes Moment der Natur. Sade wollte durch die Kraft der Negation die kosmische Sonderstellung des Menschen retten Manisch entfaltet er, der Verlassene und Eingesperrte, die Negation als die Energieform, die dem gesamten Universum standhalten soll. Niemals aber kann der Libertin das Gesetz aufheben, daß selbst der Untergang der Menschheit der Natur völlig gleichgültig ist. So erklärt der Papst: "Es gibt letzten Endes keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem ersten Leben, das wir erhalten, und dem zweiten, das mit dem gleichbedeutend ist, was wir Tod nennen. Denn das eine entsteht durch die Gestaltung der Materie, die sich in der Gebärmutter der Frau organisiert, und das andere entsteht gleichfalls aus dieser Materie, die sich im Innern der Erde erneuert und reorganisiert." - Es ist die Macht der ins Kosmologische projizierten Weiblichkeit, an deren Produktivität das sadianische Denken zerbricht. Die Kraft der Negation, die im Phallus symbolisch resümiert ist, hält der kosmischen Kontinuität des Materialflusses nicht stand. Die Konstellation zwischen Almani und dem Ä;tna gilt allgemein: dessen gegen die Lavaflut aufgebäumter Phallus muß der gewaltigen Vagina der Erde unterliegen. Es scheint, daß Sade unbewußt die Selbstbehauptung des Subjekts an den Phallus geknüpft hat. Wenn er dagegen den gleichgültigen Fluß der Materie als das Weibliche identifiziert, das jedes noch so heroisch gepanzerte Subjekt in sich hineinzieht, so heißt dies, daß eine tödliche Angst von dieser gefräßigen Gleichgültig-keit und Leere ausgeht. Die Wirklichkeit der Natur ist das Böse schlechthin. Das Böse des Libertins ist nichts als der zugleich nachahmende wie ohnmächtige Versuch der Selbstbehauptung gegen die kosmische Omnipotenz einer barbarischen Muttergott-heit. Ihre Gesetze, nämlich die Gesetze der Natur brechen zu können, wäre höchstes Ziel des sadianischen Menschen: er kann es nicht. Zwar sind Verbrechen und - wie im Fall Almanis - die Naturwissenschaft gewaltige Verstärkungen der phallischen Ener-gie männlicher Selbstkonstitutierung. Ihr Ziel aber, Natur gänz-lich niederzukämpfen, ist unerreichbar, der Haß fällt ohnmächtig auf den phallischen Ritter zurück. Büßen müssen es die Frauen, insbesondere die Mütter. Als Dolmance seine erste lange Rede über die allmächtige Unberührbarkeit der Natur hält, entsteht in der Elevin Eugenie die Idee der Mutterschändung, die am Ende der Philosophie im Boudoir durchgeführt wird. Die Mutter Euge-nies wird zugenäht -: nichts könnte den von Sade immer wieder beschworenen Makel der Frauen, daß ihr Geschlecht durch eine vaginale Höhle gekennzeichnet ist, deutlicher ausdrücken. Angela Carter hat dieses Zunähen der mütterlichen Vagina aus der sexuel-len Feindschaft zwischen Mutter und Tochter abgeleitet. Doch scheint es, daß Roland Barthes dem sadianischen Sinn näher- kommt. Für ihn zielt das Vernähen der Mutter darauf, "dieses Leere, nicht indem man es erfüllt, sondern indem man es ein- grenzt, zunäht, zu verleugnen". Für Barthes ist dies die gemeinste aller Kastrationen, "denn sie läßt den Körper in die Gestaltlosigkeit des Außergeschlechtlichen zurückfallen". Dieses Zunähen ist ebenso symbolisch, ja, es hat dieselbe magische Kultbedeutung wie das Löschen des Lavastroms durch das Sperma Almanis. Das Weibliche, das als die Negation der Negation des Phallus erfahren wurde, soll darin verschlossen, vernichtet, aus der Welt geschafft werden. Der gelöschte Vulkan - die verschlossene Vagina: dies wäre der Traum einer Welt, in der es nur den Phallus gibt - die kosmische Leere der furchtbaren Mutternatur wäre geschlossen. Erst die eingeschlechtliche Welt würde die sadianischen Helden von ihrem geheimen Schrecken vor dem Weiblichen befreien und noch tiefer von der Angst, in der unendlichen Leere des Kosmos sinnlos und verlassen zu sein, beraubt der mütterlichen Liebe, die den Mangel des Libertins, nämlich die Endlichkeit der phallischen Macht, besänftigen würde. Daß dies nicht so ist, haben die Frauen als Schuld zu tragen. Der wütende Exzeß übertönt den Schmerz "in dieses traurige Universum geworfen zu sein", geboren zu sein von diesem Organ, das seine Schuld damit büßt, zugenäht und damit zu Nichts zu werden.
Es gibt bei Sade einen seltsamen Positivismus. Bei einer gerichtlichen Vernehmung gibt eine Zeugin, die den Marquis zu peitschen hatte, zu Protokoll, daß Sade nach jedem zehnten Schlag aufgesprungen sei, um dies auf dem Kaminsims zu markieren. Nur gezählte Lust ist Lust? Noch das Böse überbietenBei allen Sadeschen Helden gibt es ähnliches. Juliette und Clairwil: "Man wiederholte das Ganze noch einmal, so daß wir nach der ersten Runde jede einhundertachtundzwanzigmal im Hintern gefickt worden waren, was zusammen zweihundertsechsundfünfzigmal macht." Sade ist zu klug, um uns mit Grundschul-Mathematik befriedigen zu wollen. Vielmehr scheint Sade darauf zu zielen, die naturwüchsig böse Tat - die läßliche Sünde - in eine kalkulierte Verausgabung sexueller Energie zu verwandeln. Darum die Magie der Zahl bei Sade. Erst das Kalkül des Lasters läßt dieses zum System werden. Dies gilt nicht nur für die Einführung der Zahl, die Quantifizierung der Lust, nicht nur für die Geometrisierung der Körper in den Arrangements der sexuellen Verkoppelungen, sondern auch qualitativ: es geht Sade um die Akkumulation symbolischer Regelverletzungen in einer einzigen Handlung. Die sexuellen Verkoppelungen werden so inszeniert, daß möglichst viele kulturelle Normen auf einmal verletzt werden: "werden von unreinem, sodomitischem und inzestuösem sperma spritzen dem absichtlich zur Schändung dort aufgestellten Standbild des Ewigen von allen Seiten ins Angesicht." (Neue Justine) Am Ende ihrer Erziehung ruft Eugenie begeistert aus: "Ich bin also Blutschänderin und Sodomitin zugleich, und das alles bei einem Mädchen, das erst heute entjungfert ist!" (Philosophie im Boudoir) Damit hat sie verstanden, was ihr Lehrmeister Dolmance demonstriert hat: "Schau, mein Liebes, schau, was ich alles auf einmal tue: Skandal, Verführung, schlechtes Beispiel, Inzest, Ehebruch, Sodomie!" - Dies also ist das Ziel der Disziplin, die Funktion des Apathie-Ideals der Sadeschen Hel-den: in äußerster Beherrschung der Leidenschaften Handlungs-szenen zu entwerfen, die ein Maximum an Regelverletzung "auf einmal" enthalten. Juliette und der Papst arrangieren im Vatikan eine Satansmesse - schon dies scheint der Blasphemie genug. Das Böse aber muß, mit angespanntem Leistungswillen, überboten werden: "vom Papst sodomiert, den Leib Christi im Hintern, oh, meine Freunde, welche Köstlichkeit!" - In einem Irrenhaus su-chen sich Juliette und ihre Begleiter drei Wahnsinnige, die sich für Gott, die Mutter Maria und Jesus Christus halten. Die Szene wird so arrangiert, daß symbolisch das Heiligste geschändet wird. "Um so besser", entgegnet Juliette einem Vorschlag. "Aber ich hoffe, daß du bei deinen Massakern weder Gott noch die Jungfrau ver-gißt. Ich gestehe, daß ich mich köstlich entleeren werde, wenn ich dich den lieben Gott mit der einen Hand, und seine Schwieger-mutter mit der anderen umbringen sehe."- "Ich muß, wenn das so sein soll, während dieser Zeit Jesus Christus in den Hintern kom-men", antwortet Vespoli. Sade hat begriffen, daß alles Obszöne auf der Ebene des Symbo-lischen, nicht des Realen liegt. Handlungen des Fleisches sind bedeutungslos. Sie werden mit obszöner Energie aufgeladen erst dadurch, daß sie in symbolische Konfigurationen gestellt werden. Diese zu planen und zu arrangieren, ist die Aufgabe des Kalküls und der apathischen Rationalität der Libertins, welche jede Spontanregung des Fleisches restlos beherrschen, um sie in der Mitte der symbolischen Ordnung der Kultur explodieren zu lassen. Als ob es den Unzurechnungsfähigkeits-Paragraphen schon gäbe, de-kretiert Sade energisch, daß das Verbrechen nur da ist, wo es kaltem Bewußtsein entspringt. Über die noch unvollkommen ge-bildete Juliette sagt Clairwill: "Ich finde bei ihr immer noch denselben Fehler. Sie begeht das Verbrechen nur in Erregung, sie muß sich dabei abreagieren. Und man soll sich ihm doch nur ganz kaltblütig hingeben. Dem Verbrechen muß die wollüstige Leiden-schaft folgen, bei ihr ist es aber umgekehrt: sie begeht das Verbre-chen im Zustand der Leidenschaft." Und Noirceuil (ein Name!) wendet sich bestätigend an Juliette: "Man muß die Sensibilität, die Sie behindert, verringern." Der Peitschenhiebe zählende Marquis de Sade, die Ficks zäh-lende Juliette sind Eleven des Lasters . Sie üben sich in Apathie und Kalkül. Sade hat klar erkannt, daß die Sensibilität, die Empfindsamkeit, welche zu entwickeln das 18. Jahrhundert so viel Anstrengung unternimmt, zu einer Moralisierung der Leidenschaft führt. Das Laster bedarf des Verstandes als seiner Agentur. Im einfachen Zähler immerhin ist schon ein erster Schritt getan: der Subjektstatus des sexuellen Partners ist dementiert, wenn er in der großen Zahl verschwindet. Kunstreicher aber ist die rhetorische inventio - die Planung einer Szene so, daß in ihr das Fleisch mit möglichst vielen Werten kurzgeschlossen wird: dem Inzesttabu, der Ehrfurcht vor dem Heiligen und so weiter. Das Obszöne ist Kopfgeburt und wird vom Fleisch nur geschauspielert. Der Libertin bedarf also des Bestandes von Werten, weil nur ihre Durchbrechung Lust freisetzt. Die tugendhafte Justine glaubt sich in einer Orgie überflüssig. Sie wird belehrt: "Nein, nein, deine süße Tugend ist unentbehrlich. Nur die Verschmelzung dieser reizenden Eigenschaft mit unserer Lasterhaftigkeit läßt unsere Sinneslust wachsen." Die Sadeschen Helden sind von sich aus lustlos: "Alles was nicht kriminell ist, das ist fade." - "Und je respektierlicher die gesprengten Bande sind, desto stärker wird die Wollust." So bekämpfen die Libertins ihre Langeweile und sexuelle Spannungslosigkeit mit dem aufgeladenen Bösen, das sie wie unter einem Zwang ständig überbieten müssen. Sie fürchten das Auftauchen menschlicher Gefühle in sich selbst, weil sie glauben, daß damit. ihre Lustfähigkeit besiegelt wäre. Sogar das Monstrum Minski ist von dieser Angst gejagt: "Der Anschein (. . .) ja, nur der Gedanke an eine Tugend jagt mir Schrecken ein. Ich mußte diese Rechte verletzen . . . " Die heimliche Lustlosigkeit und Langweile der Sadeschen Romane ist darin begründet, daß jede Lust erzwungen werden muß. Die Subversion aller kultureller Ordnungen ist schließlich für die Libertins selbst eine folterartige Anstrengung des Verstandes da gegen, das Selbstgefühl nicht in Depression und das Fleisch nicht in Langeweile versinken zu lassen.
Wunderbar die Poesie der Einsamkeit in der Literatur des 18. Jahrhunderts - die Rousseauschen Spaziergänge in Ermenonville, die süße Wehmut Anton Reisers in freier Natur; die sympathetische Nähe von Gräsern, Insekten und Werther unter dem Himmel spinozistischer Naturganzheit; die großartig weiten Gefühle Fausts im Hochgebirge. Man ergeht sich in Natur, das Bürgertum entdeckt den Spaziergang, den Frieden heiterfreier Landschaften in sicherer Distanz zum beengenden Druck der Stadt mit ihren beklemmenden politischen Verhältnissen. Einsamkeit wird zum Wunschraum, der die ungelebten Sehnsüchte auf Befreiung und Glück in versöhnendem Schein aufnimmt. Fühlt man sich im Getriebe der Zivilisation (der "Welt", wie man sagt) schnell entfremdet, kommt man in der Einsamkeit zu sich . Man schafft Lauben und stille Plätze, Winkel der Betrachtung und des Kunstgenusses . Lesen wird zum weltentrückenden Dialog mit sich selbst. In der Stille eines Abends, dem frühen Licht der aufziehenden Sonne fühlt sich das Herz weit werden. Selig ist, wer dem Menschengewimmel entflohen ist, o Waldbruder und Eremit. Komm, güldener Friede, du Traum eines aggressionsfreien Lebens, Bruder des sanften Mondes und des feinen Dunstes über lichterfüllten Hügeln - erst einsam fühl' ich mich allem verbunden, zurückgekehrt aus ekler Welt in die unbedürftige Ruhe des Ich und des Seins der Dinge. Stählern, erschreckend und schließlich tragisch dagegen die Einsamkeit der Sadeschen Helden. Lange vor der bitteren Einsamkeit des Büchnerschen Dantons, der weiß, daß wir unsere Schädeldecken aufmeißeln müßten, um unsere Gedanken wechselseitig zu kennen - also können wir sie, um den Preis des Todes, gar nicht kennen -, lange vorher ist dies das Grundgefühl aller Sadeschen Libertins. "Denn zwischen dem, was uns", erklärt Madame Dubois der empfindsame Justine, "und dem, was die anderen berührt, besteht keinerlei vernünftige Beziehung." Weil es in der Sadeschen Welt nicht die geringste Aussicht über das monadisch verkapselte solus ipse hinaus gibt, gehört es zum souveränen Menschen, die unüberschreitbare Einsamkeit zur Grundlage eines heroischen Stolzes zu machen, nämlich des Verbrechens als des einzigen Akkords unseres Seins. Die Tatsache und die Kunst des Verbrechens sind Beweis und Stolz des einsamen Menschen. Das Verbrechen besiegelt, daß es zwischen Menschen keine wirkliche Verbindung gibt. Würde nicht sonst das Opfer den Täter anrühren in irgendeiner Grundsolidarität alles Lebendigen? - In äußerster Verhärtung behauptet Sade, daß die Leere zwischen zwei Sternen nicht größer sein kann als die Fremdheit zwischen dir und mir. Vorbei ist es mit der Poesie der Einsamkeit des zärtlichen 18. Jahrhunderts. Aus Sades Werk weht die Kälte einer zum kosmischen Gesetz erhobenen Einsamkeit. Simone de Beauvoir hat bereits darauf hingewiesen, daß der Orgasmus bei Sade fast durchgehend etwas wütend Gequältes und paroxystisch Auslöschendes hat. Der Orgasmus ist, wie der Mord ein Moment der radikalsten Trennung zwischen begehrendem Subjekt und begehrtem Objekt, weswegen - wie z. B. bei Minski beides, Mord und Orgasmus, idealiter zusammenfallen. "Was man gefickt hat, kann man unmöglich lieben", stellt der junge Jeronimus fest. "Vor der Befriedigung begehre ich nach dem Objekt. Ich verabscheue es, wenn der Same vergossen ist. " Er spricht damit die Wahrheit dessen aus, den nichts als der Trieb mit dem Objekt verbindet. Er bleibt in der Enklave seiner Kontaktlosigkeit eingeschlossen und macht die ziemlich alltägliche Erfahrung des "post coitum omnis triste". Dieser Punkt der Desillusionierung des Begehrens, die regelhaft in Verachtung oder Vernichtung des Objekts umschlägt, wird immer wieder von den Libertins reflektiert: "Es gibt viele Leute", räsoniert der Herzog von Blangis in den 120 Tagen von Sodom, "die den Augenblick des Entschwindens ihrer Illusion absolut nicht vertragen können, es scheint, daß der Stolz darunter leidet, daß ein Weib uns in einem solchen Zustand der Schwäche gesehen hat, und daß der Ekel aus Scham entspringt, die sie dann empfinden." - "Nein", antwortet Cirval, (...), "nein, mein Freund, von Stolz ist da nichts drin, aber das Objekt, das im Grunde keinen anderen Wert hat als den, welchen unsere Geilheit ihm verleiht, das Objekt zeigt sich, wenn diese Geilheit erloschen ist, in seiner ganzen Wertlosigkeit. Je heftiger die Aufregung war, desto entwerteter ist das Objekt, wenn es von dieser Aufregung nicht mehr unterstützt wird." - Und Domance doziert: "Solange der Koitus dauert, mag ich zweifellos dieses Wesens bedürfen, das daran teilnehmen muß; aber ich bitte Sie, was bleibt zwischen ihm und mir, sobald er vollzogen ist?" - Noirceuil analysiert: "Versuchen Sie, das Objekt genießen zu lassen, das Ihren Freuden dient. Sie werden sofort erkennen, daß dies nur zu Ihren Lasten geschieht. Es gibt keine Leidenschaft, die egoistischer ist als die Geilheit, keine, die ernster genommen werden will. Man muß sich nur mit sich selbst beschäftigen, wenn man erregt ist" - hier formuliert Noirceuil den kategorischen Imperativ der Lust -, "und darf nie an das Objekt denken, das uns dient wie ein Opfer, das für den Höhepunkt der Lust bestimmt ist." Zweifellos hat Sade lange vor Freuds zaghaften Formulierungen über die Allgemeinste Erniedrigung im Geschlechtsleben (1912) den Zusammenhang von Lust und Objektverachtung erkannt. Freud leitet die Bevorzugung erniedrigter Objekte in der männlichen Sexualität daraus ab, daß der Mann die Assoziation von Begehren und idealisierter Mutter vermeiden muß. Die Erniedrigung entstammt also aus dem ödipalen Dilemma. Ungleich härter insistiert Sade darauf, daß es die Struktur des Triebes selbst ist, die die Erniedrigung des Objekts verlangt. "Es gibt keinen Mann, der nicht Tyrann sein wollte, wenn er spannt", heißt es apodiktisch. Und diesen "Despotismus der Leidenschaft" begründet Sade aus der Einsamkeit des Menschen, die ihn essentiell zum einzigen Mittelpunkt seines jeweiligen Universums macht - aber auch verurteilt. Die radikale Egozentrizität des Triebes reflektiert die kosmische Kälte zwischen den Menschen: "Was wünscht man sich im Genuß? Daß alles, was uns umgibt, sich nur mit uns beschäftigt, nur an uns denkt, sich nur um uns kümmert." Freud würde in solchen Ä;ußerungen die Wunschstruktur von "Seiner Majestät, dem Baby" identifizieren - und damit die Sadesche Triebtheorie als Reflex früher narzißtischer Strukturierungen deuten. Zweifellos ist das richtig, aber auch eine Verharmlosung. Sade bewegt sich in einem anderen Diskurs, der unnachgiebig auf der Isolation der Menschen und dem unüberschreitbaren Egoismus des Triebes insistiert. Dies nämlich ist Folge der materialistischen Anthropologie, die das Sadesche Werk durchgehend beherrscht. Aus Hobbes und dem Physiologismus der französischen Frühmaterialisten zieht Sade die Konsequenz, "daß die Tugend keineswegs dem allgemeinen Gefühl der Menschen entspricht, sondern daß sie nur das erzwungene Opfer darstellt, das er der Gemeinschaft bringen muß, in der er lebt." Sades Antihumanismus geht damit weit über Freuds Skepsis, ob eine Humanisierung der Gesellschaft möglich sei, hinaus. Freud bleibt noch in seiner Skepsis Vertreter aufgeklärter Moral, die Sade als bloße Ideologie, als "Scheinwelt der Tugend" destruiert. Die individuelle Selbsterhaltung, die die sadianischen Libertins ununterbrochen predigen, ist ihnen der philosophische Fels, an denen jedes moralische Argument, das uns zu Rücksicht, Mitleid und Nächstenliebe nötigt, zerschellen soll. ""Wir müssen der Natur gehorchen, und ihre Ordnung lehrt uns keineswegs gegenseitige Hilfeleistungen. Sie gibt uns nur das Bestreben ein, für uns allein und zu unserem eigenen Wohl die Kraft zu erwerben, die nötig ist, all die Übel durchzustehen, die sie für uns vorgesehen hat." Die Natur, diese böse "Mutter des Menschengeschlechts" zwingt dem Sadeschen Menschen im Interesse der Selbsterhaltung den Imperativ völliger Gefühlskälte auf. Die Apathie der Vernunft ist darum der Stolz aller Libertins, die nicht den Täuschungen des Herzens erliegen. Sade spürt wie Nietzsche sehr genau, daß jede Moral nur eine andere Form der Selbsterhaltung, also auch Egoismus ist, nämlich dem Schutz des Schwachen dienen soll: "Die Schönheit, die Tugend, die Unschuld, die Aufrichtigkeit, das Unglück", polemisiert er dagegen, "nichts von alledem soll demnach als Schutz für das von uns begehrte Objekt dienen." Zweifellos hat Sade recht: Moral ist der Schutz unserer Schwäche. Diese Schwäche ist es, die die Libertins fürchten. Nichts macht ihnen mehr Angst als Teilnahme und Sympathie. Unnachgiebig zensieren sie unter dem Diktat stählerner Selbsterhaltung die Sehnsucht nach Verbindung und Nachgiebigkeit. Die Sadesche Anthropologie enthält eine verpanzerte Konzentration des Selbst, den Zwang zu einer permanenten phallischen Verhärtung, die zur Intention macht, was eigentlich Leiden ist: nämlich die Unfähigkeit zu zärtlichem Verschmelzen und sympathetischer Teilnahme. Sade bedient sich des frühmaterialistischen Diskurses und der zweifellos richtigen Beobachtung der Egozentrizität des Triebes, um daraus die Kraft zu einer grandiosen Umkehrung zu gewinnen. Es sind Enttäuschungen und Traumata ursprünglicher Liebe, die die Libertins das Verbrechen und die Apathie als Panzerung des Selbst suchen lassen. Als der Chevalier de Saint-Ange ein Plädoyer für die sozialen Gefühle hält, antwortet ihm Dolmance, an dieser Stelle authentisches Medium Sades: "Ihnen fehlt die Erfahrung; wir sprechen uns wieder, wenn Sie durch Erfahrung gereift sein werden; dann, mein Lieber, werden Sie nicht mehr so gut von den Menschen sprechen, weil Sie sie kennengelernt haben werden Ihre Undankbarkeit war es, die mein Herz austrocknete, ihre Falschheit, die in mir diese unheilvollen Tugenden zerstörte, für die ich vielleicht wie Sie geschaffen war. Und wenn nun die Laster der einen die Tugenden für die anderen gefährlich werden lassen erweist man dann nicht der Jugend einen Dienst, wenn man sie frühzeitig in ihr erstickt?" - Es ist dies eine kostbare Stelle in Sades Werk, wo ein Libertin etwas von seiner enttäuschten Liebe und gekränkten Hoffnung durchscheinen läßt. Die Einsamkeit der Sadeschen Menschen rührt daher, daß er um jeden Preis der Rolle des Opfers entkommen will - und dies geht nur, wenn man konsequent auf die Seite der Täter überwechselt. Ein Mensch aber, der den Mord als "ein bißchen durcheinander geratene Materie" bezeichnet und ihn aus der kosmischen Gleichgültigkeit der Natur gegenüber dem einzelnen Leben rechtfertigt, verweist auf den Mangel an Geliebtsein, gegen den er sich mit solchem Zynismus wappnet. Die Einsamkeit ist das Gefängnis, das die Sadeschen Libertins in eine heroische Entscheidung und zur Tathandlung des Selbstbewußtseins umstilisieren. Georges Bataille hat mit tiefem Verständnis für Sade darauf aufmerksam gemacht, daß ein wirklicher Täter schweigt. Gewalt und Schweigen gehören zusammen. Der jahrzehntelange Gewalt-Diskurs des Marquis steht in eigenartigem Widerspruch dazu, daß der, welcher Orgien der Gewalt veranstaltet, diese mit Arkanität umgibt. Die Täterideologie Sades, seine prätendierte Gnadenlosigkeit, die angestrengte Permanenz des Verbrechens - sind sie vielleicht ein verzweifeltes Abwehrmanöver eines Menschen, der Opfer geworden ist an unserer Hartherzigkeit? Die Einsamkeit Sades ist nicht die des Täters, sondern eines Menschen, der in den Bekenntnissen seiner Abscheulichkeit und in seiner ruchlosen Geschwätzigkeit sich in ein wirkliches Schweigen hüllt: seine Schwäche, seine Verlassenheit und seine Trauer. Diese haben Sade wirklich Angst gemacht, weil sie ihn auszuliefern drohten den eigentlichen Tätern, dem Staat, der Justiz, seiner Schwiegermutter, dem König. Die Maßlosigkeit der Sadeschen Schrift ist als Verschweigen zu lesen, als Verweis auf ein Unsagbares, das sich dem Leser erst erschließt, wenn er jenseits der obszönen Provokation bereit wird, Sades Werke zu lieben. Nicht weniger hat der schreibende Sade von uns Lesern gewünscht.
Vorab entstand Verwunderung und auch Empörung über die Wende, Sade den Wunsch zu unterstellen, von uns geliebt zu werden. In der Tat: scheint es nicht, als würde dem radikalen Destruktor des Subjekts und dessen familiengezeugten Gefühlen die alte Sucht nach Liebe aufgedrückt, um ihn ins (psychoanalytisch) Vertraute zu ziehen? Nimmt man Sade damit nicht jene Waffe, durch die einzig er sich behauptet, die Provokation, und ruft zur Empathie mit Texten zurück, die sich unwiderruflich verabschiedet haben aus der (Schein )Welt sich wechselseitig verständigender, sympathetisch verbundener Subjekte? Wäre die Liebe zu Sade nicht auch dessen Vereinnahmung durch den Leidensdiskurs der Familie und der humanistischen Aufklärung, Entschärfung mithin und Schwächung der Kritik? Scheint es nicht samtener Imperialismus, die leidenschaftliche Einsamkeit des Libertins in eine Sehnsucht nach Nähe zu stilisieren? Ist nicht, wieder einmal, Hermeneutik die Kunst, die verwerfenden und abstoßenden Momente der Literatur zu verharmlosen, ihre Gegen-Signifikanten ins kulturell Unanstößige zu integrieren? Es gibt heute den verbreiteten Wunsch, die Last Subjekt-zu--sein loszuwerden, und es gibt Theorien, die die Abschaffung des Subjekts feiern und ein Leben ohne die Schmerzen, unter denen wir nicht nur geboren, sondern auch gebildet werden, in Aussicht stellen. Spielte das Leben wirklich nur in den Wunschmaschinen und nicht auch und vielleicht sogar zuerst im Schmerz und der Angst, in denen leiblich - wie politisch -wir uns gewahr werden, dann wären die heutigen Philosophien der Subjektsubversion nicht nur ein luxurierender Antihumanismus, sondern die Schwächung des politischen Widerstandes gegen die in der Tat subjektlos arbeitenden Unterwerfungsapparate der Macht. Sade ist kein Kronzeuge des Antihumanismus, sondern des Widerstands dagegen, den er nicht anders denn als "poetisches Subjekt" (J. Kristeva) hat aufrechterhalten können. Es wäre nur zynisch, hierfür keine Liebe zu empfinden: jedoch verständlich aus unserer Geschichte, eine solche Liebe nicht empfinden zu können. Zu oft ist die Liebe die Falle der Unterwerfung gewesen.
Die Sade-Zitate folgen der Ausgabe: D. A. F. Marquis de Sade: Ausgewählte Werke in drei Bänden, hg. v. Marion Luckow, Hamburg 1962-65. Ders.: Die Philosophie im Boudoir, Hamburg 1970. Marquis de Sade: Der Henker und sein Opfer, hg. v. D . Hoffmann (Nachwort F. Benseler). Darmstadt und Neuwied 1983. In Deutschland ist zu Sade wenig Nennenswertes erschienen außer: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Juliette oder Aufklärung und Moral, in; dies.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1969. Vgl. ferner: Arno Baruzzi, Mensch und Maschine, und: Apathie des Denkens, München 1973. Michael Siegert, De Sade und wir. Zur sexual-ökonomischen Pathologie des Imperialismus, Frankfurt/M. 1971. Michael Franz: De Sade et cetera, in: Unter dem Pflaster liegt der Sand, H .8 (1981). Otto Flake: Marquis de Sade (1930), Frankfurt/M. 1976. Von der zum Teil ganz außerordentlich hochstehenden Diskussion über Sade in Frankreich nenne ich die in Deutschland gut erreichbaren Titel: Roland Barthes: Sade-Fourier Loyola, Frankfurt 1974. Georges Bataille: Der heilige Eros, Frankfurt/Berlin/Wien 1964. Simone de Beauvoir: Soll man de Sade verbrennen ? München 1964. Maurice Blanchot: Sade, in: das neue lot, H.10, Berlin 1963. Das Denken von Sade, hg. v. Tel Quel, München 1969 (Beiträge von Pierre Klossowski, Roland Barthes, Philippe Sollers, Hubert Damisch, Michel Tort). Lektüre zu de Sade, hg. von B. Dieckmann/F. Pescatore, Basel und Frank-furt 1981 (Beiträge von Chantal Thomas, Philippe Roger, Pierre Klos-sowski, Philippe Sollers, Marcel Henaff, Maurice Blanchot, Jean Joseph Goux, Marcelin Pleynet, Jean Pierre Faye, Alain Robbe-Grillet, Gilles Deleuze, Marcel Moreau). Jacques Lacan, Kant mit Sade, in: ders., Schriften II, Frankfurt 1975.
Angela Carter: Sexualität ist Macht. Die Frau bei de Sade, Reinbek bei Hamburg 1981. Nach Fertigstellung dieses Essays erschien u. a. die wichtige Arbeit von Monika Treut: Die grausame Frau. Zum Frauenbild bei der Sade und Sacher-Masoch, Basel/Frankfurt/M. 1984 - Michael Farin und Hans Ulrich Seifert edierten eine vorzügliche Neuausgabe des Justine-Romans, versehen mit einer reichen Bibliographie (Nördlingen 1987). - Ferner dies.: D.A.F Marquis de Sade. Materialien zu Sade in Deutschland, Bonn 1988. [mit 3200 Titeln der Sade-Bibliograhie]. - Hubert Fichte: Der blutige Mann. Sade, in: ders.: Homosexualität und Literatur, hg. v. T. Teichert, Frankfurt/M. 1987, S. 23-123. |