In: Der Architekt 3 (2001), S. 16-23.

Hartmut Böhme

"Auch die Gottlosen brauchen Räume, in denen sie ihre
Gedanken denken können."

Nietzsches Phantasien über Architektur im postreligiösen Zeitalter

1. Metaphysische Architektur und das Heilige [1]

Das Titelzitat entstammt, nicht ganz wörtlich, der Nr. 280 aus Nietzsches "Fröhlicher Wissenschaft" von 1882. "Architektur der Erkennenden. – Es bedarf einmal und wahrscheinlich bald einmal der Einsicht, was vor Allem unseren grossen Städten fehlt: stille und weite, weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengängen für schlechtes oder allzu sonniges Wetter, wohin kein Geräusch der Wagen und der Ausrufer dringt und wo ein feinerer Anstand selbst dem Priester das laute Beten untersagen würde: Bauwerke und Anlagen, welche als Ganzes die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Bei-Seitegehens ausdrücken. Die Zeit ist vorbei, wo die Kirche das Monopol des Nachdenkens besass, wo die vita contemplativa immer zuerst vita religiosa sein musste: und Alles, was die Kirche gebaut hat, drückt diesen Gedanken aus. Ich wüsste nicht, wie wir uns mit ihren Bauwerken, selbst wenn sie ihrer kirchlichen Bestimmung entkleidet würden, genügen lassen könnten; diese Bauwerke reden eine viel zu pathetische und befangene Sprache, als Häuser Gottes und Prunkstätten eines überweltlichen Verkehrs, als dass wir Gottlosen hier unsere Gedanken denken könnten. Wir wollen uns in Stein und Pflanze übersetzt haben, wir wollen in uns spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln. " (KSA III, 524/5) [2]

Nietzsche spricht nicht von Architektur allgemein, sondern von einem nicht vollzogenen, aber wünschbaren Paradigmenwechsel, nämlich demjenigen von der christlichen Sakralarchitektur zu einer Reflexionsarchitektur. Letztere gab und gibt es nicht. Sakralarchitekturen hingegen sind im Diesseits Wohnstätten der Götter, allgemeiner: sie sind Erscheinungsräume des Heiligen. Sie werden konstruiert wie andere Bauwerke auch, durch Ingenieurskunst der Architekten und die Materialfertigkeit der Gewerke. Auch Gotteshäuser sind technische Objekte. Ihre Gestaltung und Ästhetik tragen historische Indizes: wir erkennen sofort ihre historische Imprägnierung als frühromanisch, hochgotisch, spätbarock, etc. Wie jedes Ding haben heilige Räume ihr Hier und Jetzt. Sie gehören der profanen Welt an, müssen unterhalten werden und können, obwohl Orte des Ewigen, ruinieren. Sie unterliegen also der Zeit der Natur durch Verwitterung und Alterung. Mit Natur hängen Sakralbauten auch durch ihre Materialien zusammen, die größtenteils bearbeitete Naturstoffe sind.

Religionsphänomenologen von Rudolf Otto über Gerardus van der Leeuw und Mircea Eliade bis zu Hermann Schmitz [3] haben die Trennung von Heiligem und Profanem als die Differenz eingeführt, die allererst die Möglichkeit von Religionen begründet, und zwar in allen Kulturen. Diese Differenz wird wesentlich über Raumdistinktionen vermittelt: heilige Zonen werden universal von profanen Räumen unterschieden. Stätten des Heiligen sind räumliche Brückenköpfe des Jenseits. Sie gehören zum mundus sensibilis, insofern sie mit allen Sinnen wahrnehmbar sind, und sie werden zugleich durch bestimmte Prozeduren aus dem profanen Raum herausgeschnitten. Oft geschieht dies durch Riten der Konsekration: Heilige Stätten werden geweiht – insbesondere, wenn sie von den Baumeistern in die Verwaltung von Priestern übergehen. Weihung bedeutet, daß der gesamte Baukörper transfiguriert wird in eine andere Sphäre. Dies entspricht dem Abendmahl, wo durch Konsekration die Transsubstantiation von Brot und Wein in Leib und Blut Christi erfolgt. Wenn ein Gebäude geheiligt wird, dann geschieht diese Transsubstantiation von profaner Materie in einen Zeichenkörper. Kirchen oder Tempel sind dann nicht mehr nur technische Objekte, sondern sie verkörpern eine heiligen Semantik. Sie sind fortan diaphan, [4] durchscheinend für ein wesenhaft Anästhetisches, weil Transzendentes. Diaphane Gebäude sind also der Durchschein des Scheinlosen. Oder sie sind epiphan, eine auf allen Ebenen der Sinne spürbare Präsenz des Heiligen, mithin das Erscheinen des Scheinlosen.

Sakrale Gebäude gehören immer zwei Registern zugleich an. Sie zeigen in einem Züge des Materiellen und des Immateriellen. Ihre Ineinanderblendung wird von zwei Seiten vorbereitet. Die Architektur sorgt für charakteristische Atmosphären, z.B. durch Elemente des Erhabenen und Monumentalen, des Überwältigenden und Herrlichen, des Weiten und Prächtigen. Die Weihung und der habituelle liturgische Gebrauch wiederum sorgen dafür, daß diese architektonischen Potentiale mit einer Semantik des Heiligen verbunden werden. Dabei wird eine Balance zwischen Präsenz und Absenz der metaphysischen Bedeutung, nämlich Gottes selbst, gewahrt. Nietzsche redet gelegentlich vom "Ambraduft der Bedeutung" (KSA II, 178), womit er sehr schön das Sinnliche, das Raumatmosphärische und das intelligible Signifikat trifft, so, als könne sich das Signifikat einem Dufte gleich in räumlichen Atmosphären ausbreiten. Genau dies ist ein Kennzeichen gelungener Sakralarchitektur: sie macht das prinzipiell Abwesende atmosphärisch spürbar. Sakralräume zeigen darum eine eigentümlich anwesende Abwesenheit.

Dieses 'Wunder' fertigzubringen, gelingt der Architektur in Kooperation mit den Verwaltern des Heiligen, den Priestern. Ein drittes muß hinzutreten, nämlich das Publikum, das eingetaucht in mächtige Atmosphären und mitspielend in theatralen Choreographien (der Liturgie) zur Gemeinde wird. Diese drei Pole – Architekten, Priester, Gemeinde – wirken zusammen, damit Heilige Räume 'da' sind, also nicht nur gedacht werden, sondern in die Präsenz eines Ereignisses treten.

Dazu bedarf es eines Paktes. [5] Man kann ihn den metaphysischen Pakt nennen, den Nietzsche für unwiederbringlich verloren erklärt. Der metaphysische Pakt ist nie und nirgends formell geschlossen. Sondern er besteht in der kulturellen Selbstverständlichkeit, mit der Kulturen sich in die Sphären des Heiligen und Profanen ausdifferenzieren. Darum gibt es Götter, gibt es ein Jenseits, gibt es Metaphysik, gibt es einen außerweltlichen Ursprung der Welt und jedes Individuums und gibt es einen außerweltlichen Abschluß des Welt und jedes Einzelwesens. Wer gläubig ist, sieht es genau umgekehrt: weil es Götter gibt, darum gibt es in der Welt Sphären des Heiligen. Hier wurzelt die Redensart, wonach Götter sich niederlassen in einem Gebäude, oder diesem einwohnen, daß sie in ein Ding oder Lebewesen einfahren oder es besitzen, wodurch es besessen wird. Kurzum: die objektive Mächtigkeit der Götter schafft sich in der Welt Raum – nicht nur, aber vor allem in Architekturen. Darum ist zuletzt das Bauen selbst ein heiliger, heiligender Akt, eine andere Art von Liturgie. Sakrales Bauen ist Gottesdienst. Es schafft ein materiales Medium für die Erscheinung, die Einschreibung, die Repräsentation von intelligiblen Bedeutungen. In diesem Sinn sind Architekten Medienkünstler: sie vermitteln in ihrem Medium das Heilige. Aber sie sind selbst auch Medien: durch sie vermittelt sich das Heilige. Götter führen ihnen die Hand. Das macht ihr ingenium aus, wovon ihre Ingenieurskunst nur eine profane Ableitung ist. [6] Darum ist das Gotteshaus nicht  einfach ein Raum, worin man, in subjektiver Einstellung, das Heilige irgendwie spüren mag; sondern das Heilige ist anwesend als objektive Atmosphäre, als Macht, die die vielen Subjektivitäten zu einem Gemeinschaftskörper, einem Corpus Christi, eben zur Gemeinde zusammenschließt. Dieser subjektiv-objektive Doppelstatus ist ein durchgängiges Merkmal von Sakralarchitektur.

2. Mimikry ans Erhabene noch im Sturz der Götter

Nach Rudolf Otto bilden Sakralarchitekturen Raumatmosphären, die durch die Kontrastharmonie von Tremendum und Faszinosum gekennzeichnet sind. In ihnen teilt sich ein Strahlend-Prächtiges, das Augustum mit; Erhabenheit wird spürbar, ein geheimnisvoller Bann liegt im und über dem Raum, ein Bann, der ergreift und der sich doch entzieht, der vernehmlich spricht, dies aber schweigend. Die Maiestas des Überirdischen schafft sich Raum, so daß man selbst sich klein, abhängig, schutzbedürftig vorkommt. [7] Es ist sicher, daß Nietzsche gewaltige katholische Sakralbauten mit ihrem theatralen Prunken vor Augen hatte, keineswegs die gereinigten, kargen Kirchenräume des ausgedünnten Protestantismus, der für ihn schon eine Stufe des europäischen Nihilismus darstellt, ein "Bauernaufstand" gegen die imponierende Architektur des mediterranen Katholizismus in geistig-theologischem wie baulichem Sinn. Eben diese physisch-metaphysische Architektur liegt nach Nietzsche in Trümmern, wie er im Aphorismus 358 "Der Bauernaufstand des Geistes" aus der "Fröhlichen Wissenschaft" ausführt: "Wir Europäer befinden uns im Anblick einer ungeheueren Trümmerwelt, wo Einiges noch hoch ragt, wo Vieles morsch und unheimlich dasteht, das Meiste aber schon am Boden liegt, malerisch genug – wo gab es je schönere Ruinen? – und überwachsen mit grossem und kleinem Unkraute. Die Kirche ist diese Stadt des Untergangs: wir sehen die religiöse Gesellschaft des Christenthums bis in die untersten Fundamente erschüttert, – der Glaube an Gott ist umgestürzt, der Glaube an das christlich-asketische Ideal kämpft eben noch seinen letzten Kampf. Ein solches lang und gründlich gebautes Werk wie das Christenthum – es war der letzte Römerbau! – konnte freilich nicht mit einem Male zerstört werden; alle Art Erdbeben hat da rütteln, alle Art Geist, die anbohrt, gräbt, nagt, feuchtet, hat da helfen müssen." (KSA III, 602).

Man erkennt den metaphorischen Gebrauch, den Nietzsche von der Architektur macht. Denn was hier als Ruinen-Landschaft vor Augen liegt, ist die Trümmerstätte der Metaphysik und der Religion, nicht der Kirchen, Tempel, Residenzen, die Gott oder gottgleiche Herrscher verkörperten. Doch die Gesten des metaphysikkritischen Geistes sind eben dem geschuldet, was er dekonstruiert: es ist das Pathos des Ikonoklasmus, die Ungeheuerlichkeit des Göttersturzes, die Erhabenheits-Ästhetik der großen Untergänge und Naturkatastrophen, das Faszinierend-Unheimliche gewaltiger Ruinen. All dies sind Pathosformeln der christlich-antiken Kultur, die Nietzsche noch in ihrem Sturz beerbt und aneignet. [8] In keiner Weise ist er frei von dem, wovon er sich abstößt. In keiner Weise erfindet er eine neue architekturale Geste, um nicht im mimetischen Bann dessen zu bleiben, dessen Untergang er befördert.

Diese Einsicht läßt uns den Aphorismus 280 neu lesen. Die postreligiöse Architektur, die Nietzsche hier visioniert, soll "als Ganze die Erhabenheit" ausdrücken. Sie hat so imponierend zu sein, daß ein Priester nicht zu beten wagte. Die neue Architektur soll gebauter Gedanke, Gestalt gewordene Reflexion sein – also genau dieselbe Doppelmatrix von Materie und Bedeutung aufweisen, die er der überwundenen Sakralarchitektur abliest. Das Pathos der Reflexion ist so groß, der Überschuß an Ausdruckswillen so drängend, daß wie in einer Selbstverkultung das angerufene "Wir" der Erkennenden "in Stein und Pflanze übersetzt" zu werden beansprucht. Eine radikalere Objektwerdung der Innenwelt des Denkens ist unvorstellbar. Sie ist der Souveränität geschuldet, mit der Gott sich in den Kirchen das steinerne Andere seiner selbst geschaffen hatte. Ja, Nietzsche überbietet dies noch. Er verlangt eine Architektur, die den "Erkennenden" einen narzißtischen Doppelgenuß beschert: sie spazieren in ihrem objektiven Denken, in ihren Denk-Gebäuden; sie wandeln in sich selbst. Das hatte sogar Gott in seinen Kirchen nicht geschafft. Nur Stellvertreter wandelten leibhaft in den "Prunkstätten des überweltlichen Verkehrs". [9]

Durchaus erweist sich Nietzsche hier als Nachfolger von Immanuel Kants Theorie des Erhabenen. [10] Dieser sah die religiöse Erhabenheit abgelöst von einem modernen Erhabenen, dem sich das Ich ausgesetzt empfindet – angesichts des mathematisch Unendlichen oder einer übergewaltigen Natur. Die Angst vor Vernichtung, der Schauder über die eigene Winzigkeit und Endlichkeit wird im erhabenen Effekt umgewendet in eine triumphale Steigerungsgeste des Ich, das sich, als denkend, dem gesamten Sein als überlegen erfährt. Das Ich ist damit der einzige Punkt im Universum, an welchem das Erhabene sich manifestiert. Das ist seine intellektuelle Lust. 'Ich' ist Spaziergänger unter Sternen, wandelnd auf den Höhen des Weltalls (Giordano Bruno), sich versenkend ins Allerkleinste, denkend das Unendliche und selbst durch noch so wütende Kräfte der Natur nicht zerstörbar, weil das Denken unzerstörbar ist. So affirmiert sich das moderne Cogito in seiner Souveränität, die bei Nietzsche ihren grandiosen, architekturalen Ausdruck verlangt. [11]

3. Bauen auf Augenhöhe der Macht oder das Versagen der zeitgenössischen Architektur

Dieses antimetaphysische und doch der Religion abgelauschte Erhabenheits-Pathos der "Architektur der Erkennenden" findet sich auch in der Schrift "Menschliches, Allzumenschliches" unter dem Titel "Der Stein ist mehr Stein als früher":

"– Wir verstehen im Allgemeinen Architektur nicht mehr, wenigstens lange nicht in der Weise, wie wir Musik verstehen. Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren herausgewachsen, wie wir der Klangwirkungen der Rhetorik entwöhnt sind, und haben diese Art von Muttermilch der Bildung nicht mehr vom ersten Augenblick unseres Lebens an eingesogen. An einem griechischen oder christlichen Gebäude bedeutet ursprünglich Alles Etwas, und zwar in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer unausschöpflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem zauberhaften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das System hinein, ohne die Grundempfindung des Unheimlich-Erhabenen, des durch Götternähe und Magie Geweihten, wesentlich zu beeinträchtigen; Schönheit milderte höchstens das Grauen, – aber dieses Grauen war überall die Voraussetzung. – Was ist uns jetzt die Schönheit eine Gebäudes? Das Selbe wie ein schöne Gesicht einer geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes." (KSA II, 178/9 = Nr. 218)

Man spürt den Neid auf die metaphysische Architektur und ihr Vermögen, in gewaltigen Atmosphären in den Raum der Erscheinungen zu treten. Es ist eine Sehnsucht nach dem "Grauen", das als die Wurzel des Erhabenen ausgemacht wird. Nach Rilke gilt: "Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören" [12] . Im Schrecken ist man sich, pathisch zwar, so doch gegeben und ist gestellt in authentischer Unmittelbarkeit zum Absoluten. Dies ist das Tremendum des Heiligen. [13] Es bestimmte die Rhetorik der alten Architektur – und sie zum Maßstab nehmend, ist das heutige Bauen für Nietzsche heruntergekommen auf das Niveau des zutiefst Verächtlichen: der geistlosen Frau, die bloße Prätention, bloß Maske ihres Nichts ist. So ist die Architektur der Gegenwart bloße Fassade, Maskierung ihrer eigenen Leere, ihres metaphysischen Nichts. [14]

Entsprechend harsch fällt in der "Götzendämmerung" (im Aphorismus Nr 11) sein Urteil über den Architekten aus: "[...] Der Architekt stellt weder einen apollinischen, noch einen dionysischen Zustand dar: hier ist es der grosse Willensakt, der Wille, der Berge  versetzt, der Rausch des grossen Willens, der zur Kunst verlangt. Die mächtigsten Menschen haben immer die Architekten inspiriert; der Architekt war stets unter der Suggestion der Macht. Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren; Architektur ist eine Art Macht-Beredtsamkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloss befehlend. Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck, was grossen Stil hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nöthig hat; die es verschmäht, zu gefallen; die schwer antwortet; die keinen Zeugen um sich fühlt; die ohne Bewusstsein davon lebt, dass es Widerspruch gegen sie giebt; die in sich ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen: Das redet als grosser Stil von sich." (KSA VI) [15]

Übermaßstäblich groß ist der Entwurf, an dem der Architekt gemessen – und für zu leicht befunden wird. Was Nietzsche vermißt, ist der Wille zur Macht, den er in vergangenen Bauwerken herrschen sieht. Macht und Bau sind siamesische Zwillinge, sie sind Bau-Macht und Macht-Bau in einem, verschrieben dem "grossen Stil", will sagen, der souveränen Macht, im Verhältnis zu der alles andere heteronom ist. [16] Denn dies ist das Geheimnis des Souveräns: daß dessen bloßes Sein alles andere zum Bestimmten, zum Gesetzten macht. So arbeitet Gesetzeskraft. Die Macht unterliegt keinem Gesetz, weil sie selbst für alles andere Gesetz ist (Setzung und Satzung, Gesetz der Gesetze). Die Macht kann sich nicht selbst unterliegen. Ihr Dynamisches besteht darin, sich selbst zu generieren. Sie wuchert mit sich selbst. Sie hat keinen Inhalt und kein Ziel als sich selbst. Sie ist absolut selbstreferentiell. Ihr Sieg über die Schwere des Materials, in dem sie arbeitet – die Schwere des Steins und die Trägheit der Leiber –, macht ihre eigene Schwerelosigkeit aus. Denn die Schwere ist in den zur Dienerschaft gepreßten Stein verlagert: er trägt die Macht. Die Leichtigkeit des Souveräns beruht auf der Schwere, die auf dem Untergebenen als dessen Fremdbestimmung liegt. Die Gravitas, die den Herrscher und seine Architektur ausmachen soll, gehört eigentlich nicht ihnen an, sondern ist das, was den Untertanen auferlegt ist.

Die Kritik Nietzsches an der zeitgenössischen Architektur ist der Reflex einer hintergründigen Faszination durch die göttliche Souveränität, die er haßt und verehrt. Architektur nach Nietzsches Façon: dies wäre die steinerne Kleidung des modernen Ich, auf Augenhöhe mit dem Gott, den es zu stürzen unternimmt. Nichts könnte mythischer sein als eine solche Architektur. Sie wäre von pharaonischer Dimension, von der tragischen Größe der Titanen, vom erhabenen Stolz Luzifers. Die grandiosen Architekturen hätten das Ich vor dem Bewußtsein seiner Schwäche zu schützen.

"Nimmt nun der Glaube", so heißt es in "Das Jenseits der Kunst" ("Menschliches, Allzumenschliches" Nr. 220), "an eine solche Wahrheit überhaupt ab, verblassen die Regenbogenfarben um die äussersten Enden des menschlichen Erkennens und Wähnens: so kann jene Gattung von Kunst nie wieder aufblühen, welche, wie die divina commedia, die Bilder Rafael's, die Fresken Michelangelo's, die gothischen Münster, nicht nur eine kosmische, sondern auch eine metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte voraussetzt. Es wird eine rührende Sage daraus werden, dass es eine solche Kunst, einen solchen Künstlerglauben gegeben habe." (KSA II, 180)

Die "rührende Sage": das ist, zu Nietzsches Zeit, die Architektur des Historismus. Sie ist eine sentimentale Maskerade großen Stils, bloßes Zitat und Schauspielerei. Denn, gegenüber dem verlorenen "Künstlerglauben" sind heute "die 'Schauspieler', alle Arten Schauspieler, die eigentlichen Herren" (KSA III, 596). Dies ist eine Epoche der geliehenen Gesten, sei's in der Literatur, der Philosophie, der Kunst oder der Architektur. "Jetzt erlahmt", so fügt Nietzsche an, "die bauende Kraft; der Muth, auf lange Fernen hin Pläne zu machen, wird entmuthigt; die organisatorischen Genies fangen an zu fehlen: – wer wagt es nunmehr noch, Werke zu unternehmen, zu deren Vollendung man auf Jahrtausende rechnen müsste? Es stirbt eben jener Grundglaube aus, auf welchen hin Einer dergestalt rechnen, versprechen, die Zukunft im Plane vorwegnehmen, seinem Plane zum Opfer bringen kann, dass nämlich der Mensch nur insofern Werth hat, Sinn hat, als er ein Stein in einem grossen Baue ist: wozu er zuallererst fest sein muss, 'Stein' sein muss [...] Vor Allem nicht – Schauspieler! Kurz gesagt – ach, es wird lang genug noch verschwiegen werden! – was von nun an nicht mehr gebaut wird, nicht mehr gebaut werden kann, das ist – eine Gesellschaft im alten Verstande des Wortes; um diesen Bau zu bauen, fehlt alles, voran das Material. Wir alle sind kein Material mehr für eine Gesellschaft: das ist eine Wahrheit, die an der Zeit ist!" (KSA III, 596/7)

Nun, das ist die bekannte Verfallsgeschichte, die große Erzählung von der Asthenie und Dekadenz Europas. Nietzsche braucht sie, um dem Phantasma des Gesunden, der Starken und der großen Architektur den verfaulenden Grund der Abstoßung zu geben. Das heroische Bauen ist ein Herr-Werden über die Zeit, ein Be-Herrschen der Zeit, über deren Jahrtausende verfügt wird. Zeit ist, was zerbröckeln, verfallen, schwächer werden läßt, was absinken und müde macht. Zeit ist die Vordämmerung des Todes. Und ein Bauwille, der die Millennien in Regie nimmt – es fällt schwer, hier nicht an Albert Speer zu denken –, bringt die Zeit unter sich. Er ist ein Triumphieren über Natur, mehr noch, er ist ein Entreißen des göttlichen Privilegs, das in dem Geheimnis besteht, daß Gott ein Gott nur ist, weil er der Zeit nicht untersteht, sondern sie beherrscht. Den Tod Gottes kann Nietzsche nur ertragen durch die Selbstvergottung des Menschen in Medium des Steins. Nicht zufällig kommt hier "das Opfer" ins Spiel, das ein jeder als Stein am großem Bau zu bringen hat. Im Opfer wird das Göttliche geboren. [17] Die fleischernen Menschen werden insgesamt der uralten Logik des Bauopfers unterstellt: sie werden zum Stein im Monumentalkorpus der kommenden Gesellschaft. "Werth" und "Sinn" hat jeder nur, insofern er "Opfer", nämlich "Stein" wird. Es ist, als ob der Architekt über ein Gorgoneion verfügt, dessen Anblick alle versteinert, zu Baumaterial macht, auf daß darin sich der Bauwille verkörpere. Architektur mit Medusenblick: das vielleicht steht im Hintergrund der Stelle, wo Nietzsche vom "Unheimlich-Erhabenen" und vom "Grauen" spricht, das die Nähe zu sakralen Architekturen und zu Göttern auslöst.

4. Nietzsches Bau-Phantasmen

Gewiß betont Nietzsche, daß 'wir heute' zu solcher Architektur nicht fähig seien. Doch eben das ist der Grund seiner Verachtung der Gegenwart. Die Geste des Gottesmordes wird aufgeboten, um dem erschlafften Bauwillen wieder jene Größe zu geben, die den divinen Architekturen eignete. Die "Architektur der Erkennenden" ist nur umgekehrte Metaphysik, nicht deren Abschied. Niemals geht es um ein historischen Sich-Einfinden beim endlichen Maß, beim Maß überhaupt des Bauens. Des Bauens Maß hat bei Nietzsche einzig im Maßlosen sein Recht. Nichts wird der großen Stadt abgewonnen, wie es Baudelaire tat, als er den Flaneur schuf, der den temporeichen Rhythmen der Metropole, den zerklüfteten Straßenzügen, den Hinterwelten der Häuser, den Gängen der Ware, dem Gleißen des Verkehrs oder den Strudeln der Masse eine neue Sinneskultur ablistete, die von Franz Hessel oder Walter Benjamin auf den Stand der Dinge und der Ästhetik in den 20er Jahren gebracht wurde. Nicht im entferntesten ist es Nietzsche darum zu tun. Sein Architektur-Ideal ist nicht einmal griechisch, eher ägyptisch in dem Sinn, wie Jan Assmann die Baukultur der Ägypter unter die Formel "Stein und Zeit" brachte. [18] Entsprechend möchte Nietzsche die Gesellschaft zu einem überzeitlichen, steinernen Kollektivkörper gerinnen lassen – wenn er denn könnte.

Man wird nicht übersehen, daß zwei weitere Parallelen die Nietzscheanische "Architektur der Erkennenden" unbeerbbar machen. Der im steinernen Kollektivkörper sedimentierte Bauwille erinnert deutlich genug an das Frontispiz des "Leviathan" von Thomas Hobbes:

 

(Abb. 1). Abraham Bosse: Leviathan. Frontispiz von: Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, LW XI, 1 (Ausschnitt).

 

Über dem Horizont einer Kulturlandschaft erhebt sich ein gewaltiger Körper, der aus Myriaden von kleinen Körpern, den Staatsbürgern, zusammengesetzt ist, die alle auf das gekrönte Staatshaupt ausgerichtet sind. Das Schwert in der Rechten, den Bischofsstab in der Linken trägt der Gigant die Insignien der weltlichen und geistlichen Macht, die er resümiert. [19] Das Resümé des Staates ist die Zwangskörperschaft der zu Elementen degradierten Untertanen, die, ganz wie in Nietzsches Bild des Stein-Körpers, "Sinn" und "Wert" nur haben als "Opfer" und "Stein" im "großen Bau". Das ist, bei Hobbes wie Nietzsche, "Macht-Beredtsamkeit in Formen", Idolisierung eines Gesamtwillens, der sich in die Formierung der vielen Einzelwillen zu einem Kollektivkörper zugleich entäußert und verdichtet.

Die zweite Parallele ist im deus geometra (Friedrich Ohly) zu sehen. [20] Es ist eine große, bis auf die Antike zurückgehende und im Mittelalter gepflegte Tradition, die Schöpfung Gottes als das Werk eines Baumeisters, eines Geometers, ja, eines Mathematikers zu sehen. Die Schöpfung ist ein Weltgebäude, Ergebnis eines grandiosen architekturalen Entwurfes. Das christliche Bauen, insbesondere von Kirchen, stand in dieser Tradition: es war Nachahmung des göttlichen Handwerkers. Architektur war Mimesis der Schöpfung, deren Grundcode die Zahl, das geometrische Maß und der Gebäuderiß ist. Dieser schöpfungstheologische Hintergrund ließ die Sakralarchitektur, wie Nietzsche erkannte, zu einem metaphysischen Akt werden, zu einer Umsetzung heiliger Bedeutungen in architektonischer Form und steinernem Ausdruck. Seit der biblischen Apokalypse wurde diese Idee komplementiert davon, daß nach Untergang dieser Welt im Endgericht eine neue Schöpfung entsteht, und zwar als Stadt. Das Neue Jerusalem. Es ist die Urform der Bau-Utopien, reinste geometrische Form, höchste Materialreinheit, größte Kostbarkeit, vollendeter Raum des Friedens. Das Neue Jerusalem ist der vollständige in Architektur umgesetzte deus geometra – Vorbild für jeden Kirchenbau, der nicht nur Nachahmung der Schöpfung sondern auch Vor-Ahmung des himmlischen Jerusalems ist. Mit keinem geringeren Architektur-Modell konkurrieren die Bau-Phantasien Nietzsches.

Man wird auch nicht vergessen, daß die Philosophen ihre Systementwürfe nicht ungern als Denk-Architekturen bezeichnen. Nietzsches "Architektur der Erkennenden" nimmt diese Metaphorik auf. So spricht er von den "philosophischen Baumeistern seit Platon" (KSA III, 13). [21] Gute Philosophie weist eine Architektur auf, d.h. sie folgt einem Entwurf, legt feste Fundamente und bringt die Stockwerke in gemessener Gliederung und Reihenfolge zustande, um das Denk-Gebäudes mit einem stabilen Dach zu überwölben. Der Philosoph baut. Er imitiert den Architekten, der Gott imitiert. Von dieser doppelten Imitation zehrt die philosophia perennis. Nichts wäre Nietzsche lieber gewesen, ein solcher Architekt des Denkens zu sein. Dafür mußte das Alte abgerissen werden. Mit dem Hammer philosophieren, sollte heißen, mit der Abrißbirne denken. [22] Dies ist keineswegs banal, sondern entspringt der tiefen Einsicht, der unlängst Horst Bredekamp am Beispiel der Baugeschichte von Sankt Peter in Rom nachgegangen ist, nämlich dem Prinzip der "produktiven Zerstörung". [23] Hiervon zehrt der Wille zur Macht, wie ihn Nietzsche baumetaphorisch phantasiert: der Gottesmord ist die kürzeste Formel für eine Zerstörung, die Raum für neue Produktionen geben soll. Nietzsche ist kein Archäologe und kein Spurenleser. Sondern er ist ein radikaler Architekt darin, daß er die bewunderte und insgeheim beneidete Architektur der Metaphysik rigoros abriß, um tabula rasa, um Raum und freie Flächen, unbeschriebene Seiten und unbebautes Gelände zu gewinnen, auf dem er seine Entwürfe aufführen könnte. Seine tragische Selbstüberhebung bestand aber darin, daß die abgerissene Metaphysik und die sakrale Architektur die überdimensionalen Maßstäbe dessen hergaben, was auf ihrem leergeräumten Gelände errichtet werden sollte. So bleibt die Geste der Kritik bis ins letzte vom Kritisierten bestimmt. Das macht das Pathos und die Vergeblichkeit der Nietzscheschen Architektur-Phantasien aus.

Nietzsche verfehlt das Projekt einer postreligiösen Architektur gründlich. Diese bestünde darin, die Trennung von Heiligem und Profanem aufzuheben. Nietzsche aber träumt von Kult-Architekturen des Denkens. Auch den metaphysischen Pakt von Architekt, Priester und Gemeinde hat er nicht aufgehoben. Sondern im Gegenteil versucht er dessen Erneuerung, indem der Priester vom philosophischen Weisheitslehrer abgelöst und die Gemeinde von der Jüngerschaft ersetzt wird. Dies wird in "Also sprach Zarathustra" zelebriert. Die "Architektur der Erkennenden" tritt dienend hinzu, sie räumt den Raum ein, der dem neuen Kult des Erhabenen seine Stätte gibt. Aufgegeben wird nicht, daß die Architektur unter den "Suggestionen der Macht" steht. Es wird nur betrauert, daß dem nicht mehr so ist. Architektur, die Nietzsche träumt, soll das Medium grandioser Bedeutungen sein, "Macht-Beredtsamkeit" im "großen Stil". Bei aller Verachtung des 19. Jahrhunderts, die Nietzsche immer wieder zeigt: gerade darin bleibt er ihm verhaftet.

5. Obdachlose Architektur: Nietzsche mit Heidegger gelesen

Wenn von Nietzsche architektural zu lernen wäre, dann am wenigsten von seinen Äußerungen zur erhabenen Architektur, sondern von der Form seines Philosophierens selbst. Die Form seiner Philosophie ist das Fragment. Das Fragment ist die Form eines Denkens unter den Bedingungen dessen, was der junge Georg Lukáçs als "transzendentale Obdachlosigkeit" [24] bezeichnet hat. Obdachlosigkeit denken oder unter ihrer Bedingung denken, heißt ohne Hut und Behütung zu denken, heißt denken, ohne zu wohnen. Das Denken ohne Wohnstatt ist not-gedrungen Stückwerk. Das Fragment ist die Tugend aus der Not gemacht. [25] Es ist Form, aber sie bietet nicht Obhut. Darin wird eine wesentliche Erfahrung der Moderne zur Gestalt gebracht. Das obdachlose Denken in Fragmenten bringt im Fehlen der Obhut und des Wohnen-Könnens erst hervor, was diese sein können. Das Entwurzelte des Denkens im Fragment bringt die Wurzel an den Tag und läßt, ex negativo, begreifen, was Verwurzelung bedeutet.

Wohnen, so hat Heidegger mit Recht betont, – Wohnen ist der Sinn des Bauens, um welche Bauwerke auch immer es sich handeln mag. [26] Unbehaust ist nicht nur der wirkliche Obdachlose, sondern das Wohnen im Obdachlosen der Moderne schlechthin. Um diesen Gedanken zu erläutern, braucht es einen kleinen Umweg.

Architektur ist die arché, der Ursprung und Anfang des Tektonischen. Dieses stammt von griechisch tíkto ab [= empfangen, gebären, hervorbringen], das in der techné [= Technik/ Kunstfertigkeit/ Gewandtheit / Kunstgriff und Kunstwerk (opus)], ebenso steckt wie in der Tektonik, der Aufbaustruktur der Erde etwa oder eines Gebäudes. Tektaímonai meint das Verfertigen, Zimmern, Bauen und zugleich: etwas zu etwas machen, es also im Herstellen zu seinem Wesen bringen. Ein tékton ist ein Verfertiger in Holz-, Metall- oder anderen Materialien, ein Erzeuger und Urheber. Nicht uninteressant ist, daß teknóo = Kinder zeugen oder gebären bedeutet. Viele dieser Bedeutungen gehen im Lateinischen in colere, cultus, cultura über, worin das Bauen und Anbauen, Pflegen und Hüten, Einfrieden und Pflanzen als Kern steckt. Zugleich sind die damit verbundenen Fähigkeiten und Werte, Einstellungen und Habitus gemeint. Es gibt mithin einen in der Antike ursprünglichen Zusammenhang von (An-)Bau, Wohnen und Kultur. Die Architektur ist das Komplement der Agrikultur, insofern die Architektur das zur Kultur notwendige Hervorbringen des Wohnens und die Agrikultur das zum Wohnenkönnen notwendige Anbauen der Erde bedeutet. Beide, Architektur und Agrikultur, sind wesensverwandte Urakte der Kultur. Aus ihnen geht die Kultiviertheit, die cultura animi, erst hervor, die das gepflegte und kunstfertige Vermögen, das kultivierte Sich-Einwohnen in den Behausungen der Architektur und in den Gefilden der Agrikultur meint. Wir brechen hier ab und ziehen Schlüsse. [27]

Architektur heißt, sich im Sein einrichten, sich bauend auf der Erde gründen, eine colonia, sprich: eine Statt/Stadt pflanzen (colonia = Pflanzstadt). Das ist: Kultur erzeugen. Heidegger hat das mit dem Wohnen nahezu synonyme Bauen als den "Grundzug des Seins" [28] bezeichnet. Wenn dem so ist, dann müssen wir einräumen, daß in der Moderne nicht nur die Metaphysik von Sakralarchitektur, nicht nur die übermaßstäbliche Erhabenheit der Reflexionsarchitektur Nietzsches, sondern auch das "Geviert" zusammengebrochen ist, in welchem Heidegger das Bauen verortete. Was ist das "Geviert"? Heidegger meint, daß das Bauen in der Vierung von Erde und Himmel, den Göttlichen und den Sterblichen ausgespannt sei. Menschsein gründet 1) darin, im Bauen und Wohnen die Erde als Erde zu retten; retten meint: die Erde durchs Bauwerk erst in ihrem Wesen als Erde hervortreten zu lassen. Bauen und Wohnen heißt 2), unterm Himmel und seinen unstet wettrigen und beständig kosmischen Bewegungen sich zu schirmen und doch auf ihn sich zu beziehen. Bauen und Wohnen, heißt 3) im hoffenden Erwarten der Göttlichen zu leben. Und heißt schließlich 4), als Sterbliche, den Sterblichen ein Geleit zum Tode zu bieten. [29]

Wie sollen diese Bestimmungen unter der Bedingung transzendentaler Obdachlosigkeit von der armen Architektur eingelöst werden? Die Baugeschichte der Moderne hat den Abstand zur Erde ständig vergrößert. Sie hat bis auf die Ebene der Materialien herab und vor allem durch die hochentwickelten Technologien versucht, die Architektur autonom werden zu lassen. Sie hat die Erde zur Fläche freigeräumt, um die Naturbeherrschung auch in den Bauwerken sich ausbreiten zu lassen. Das Bauen in der Moderne hat zum Himmel entweder babylonische, also idolatrische Bezüge oder es hat solche überhaupt gekappt, weil es zwischen Bauen und Kosmos keinerlei Korrespondenz mehr gibt. Das Elementische der Luft, das Wetterhafte, wurde als Baubezug minimiert, wenn nicht ausgeschlossen (oder nur technisch zugelassen, z.B. als Klimaanalage). Kein Bauwerk der Moderne, es sei denn als leere Geste oder ironisches Spiel, steht in der Erwartung des Unverhofften ausstehender Götter. Nirgends ist das Geleit zum Tod zu einem Gestaltungsmoment von Handlungen oder Bauwerken geworden; der Tod ist in der Moderne exiliert, eine ausgegrenzte Negativität. Nichts blieb von ars moriendi als Lebensweisheit [30] und Bauprinzip.

Das ist nicht kulturkritisch zu betrauern. Das Ende der Metaphysik ist auch nicht, wie bei Heidegger, gleichsam bau-ontologisch zu kompensieren. Das, was Heidegger mit Nietzsche den europäischen Nihilismus nennt [31] , ist längst in die Städte und und ins Bauen gedrungen. Das bedeutet nicht, daß es technisch und ästhetisch kreatives oder auch gelungen synkretistisches Bauen nicht gäbe. Man erinnere Hegels Satz vom "Ende der Kunst": auch er bedeutete niemals, daß die Künste aufhörten, sondern daß sie nicht länger der paradigmatische Ausdruck der Epoche sind. In diesem Sinn kann es eine Architektur, die  das Geviert oder die Epoché einer Kultur figuriert, nicht länger geben. Dies von der Architektur zu verlangen, hieße sie unter einen Anspruch stellen, der von keiner Religion, keiner Philosophie, keiner Kunst, erst recht keiner Politik oder Technik eingelöst wird.

Gleichwohl bleibt wahr, daß man sich weigern kann, zu lesen, Musik zu hören; man muß nicht fernsehen, kann sogar dem Computer Adieu sagen, kann sich vom Konsum abwenden oder dem Flirren der Großstädte: doch Architektur ist schlechthin unausweichlich. Dies hängt mit dem von Heidegger als "Grundzug des Seins" herausgestellten Bauen und Wohnen zusammen. Doch diese sind ebenso fragmentiert wie die Lebensverhältnisse überhaupt. Niemand lebt mehr eine Identität, kein Stadt hat mehr ein Gesicht, keine Gesellschaft hat eine Einheit. Das Heterogene, Vielfältige, Widersprüchliche, aber auch das Ludische und Experimentelle, das Ephemere und Nomadische, und natürlich das Multikulturelle und Heterotope bestimmen die Gestalten unseres Lebens und der Städte. Hinzukommt, daß die Nanotechnologien und der Cyberspace eine zweite Welt geschaffen haben, deren Immaterielles und Anästhetisches der Sphäre der Architektur radikal entgegengesetzt ist. Dieser kulturelle Trend ist gnadenlos – also das Gegenteil dessen, was Heidegger an der Architektur als ihr Wesen herausstellen wollte: die Schonung, wodurch ein Ding, ein Bau, ein Tier, ein Mensch den Raum seines Wesen eingeräumt bekommt. Das mag gelegentlich gelingen, eher zufällig. Doch mit den Systemen der Gesellschaft, deren eines Subsystem die Architektur darstellt, hat dies nichts mehr zu tun. Die Architektur ist selbst zum Fragment geworden und bringt anderes als Fragmente nicht mehr hervor, die dem Ephemeren und der Kontingenz in der Lebenswelt, in der Kunst, in der Politik, doch sogar in der Wissenschaft entsprechen. Sich dieser veränderten Wirklichkeit zu stellen, also Fragmente zu bauen, wäre der wirkliche Abschied von Metaphysik und die Entlastung des Architektonischen von Ontologie. Die Erschütterungen, die das in Jahrtausenden gebildete anthropologische Gerüst des Menschen gegenwärtig auf allen Fronten erfährt, von der Architektur aufgenommen zu sehen, ohne daß darauf totalisierende Antworten gegeben würden, wäre allemal genug und für das notwendige Einrichten im Obdachlosen hilfreich.



[1] Zu Nietzsche und die Architektur gibt es fast gar keine Forschung: einen Anfang macht der verdienstvolle Band von Kostka, Alexandre / Wohlfarth, Irving (Hg.): Nietzsche and 'an Architecture of Our Minds'; The Getty Research Institute Publications Los Angeles 1999. – Der Kunsthistoriker Tilmann Buddensieg bereitet eine große Monographie zum völlig vernachlässigten Thema vor. Vgl. vorläufig: Buddensieg, Tilman: "Leere Form" und "grosser Stil" – Nietzsche und die italiensiche Baukunst. in: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunsthistorischen Instituts der Universität Zürich, Bd. 6, Zürich 1999, S. 253-268. Im folgenden geht es nicht um Beobachtungen, Deutungen und Auseinandersetzungen Nietzsches mit konkreten Architekturen, sondern um die grundlegenden Fragmente, die Umrisse eine Bau-Philosophie ahnen lassen.

[2] Die Nietzsche-Zitate werden nachgewiesen nach Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe; 15 Bde. hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München/Berlin New York 1988, im fortlaufenden Text zitiert als KSA + Bandziffer römisch + Seitenangabe arabisch.

[3] Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen; 26.–28. Aufl. München 1947 (zuerst 1917). – Leeuw, Gerardus van der: Phänomenologie der Religion; 4. Aufl. Tübingen 1977 (zuerst 1933). – Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen; Hamburg 1957. – Eliade, Mircea: Die Religion und das Heilige; Frankfurt am Main 1986. – Schmitz, Hermann: System der Philosophie. III/4: Das Göttliche und der Raum; 2. Aufl. Bonn 1995. – Vgl. ferner Caillois, Roger: Der Mensch und das Heilige; München 1988 (zuerst 1939). – Girard, René: Das Heilige und die Gewalt; Frankfurt am Main 1994 (zuerst 1972). – Zur kritischen Diskussion um das Konzept des Heiligen vgl. – Colpe, Carsten Hg.): Die Diskussion um das Heilige; Darmstadt 1997. – Colpe, Carsten: Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen; Frankfurt am Main 1990. – Kamper, Dieter / Wulf, Christoph: Das Heilige. Seine Spur in der Moderne; Frankfurt am Main 1995.

[4] Den Terminus des Diaphanen hat man in der Kunstgeschichte als Charakteristikum für die bauliche Licht-Regie in gotischen Kathedralen eingeführt: Hans Jantzen: Über den gotischen Kirchenraum (1928). In: ders.: Über den gotischen Kirchenraum und andere Aufsätze. Berlin 1951, S. 7ff.

[5] 'Pakt' ist hier nicht im Sinne des faustischen Paktes gemeint, sondern wie Philippe Lejeune den Ausdruck versteht: Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt; Frankfurt am Main 1994.

[6] Zu erinnern ist hier nun daran, daß besonders in Mittelalter und früher Neuzeit Gott gern als Architekt des Weltgebäudes vorgestellt wurde.

[7] All diese Charakteristika des Heiligen, wenn man ihm begegnet, arbeitet Rudolf Otto heraus (wie Anm. 3).

[8] Allenfalls die Metaphern des subversiv erodierenden Geistes gehorchen nicht der Ästhetik des Erhabenen.

[9] Es ist eine krasse Unterschätzung des Textes, wenn man im Aphorismus nur die Profanierung sakraler Bauten und eine ausgenüchterte, sozusagen prämoderne Architektur der Denkenden erkennt und das Erhabenheits-Pathos übersieht (Buddensieg, wie Anm. 1, hier: S. 256 u.ö).

[10] Vgl. Kant, Immanuel: Bemerkungen in den "Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" (1764). Neu hg. v. Marie Rischmüller; Hamburg 1991, besonders aber von Kant: Kritik der Urteilskraft (1793): Analytik des Erhabenen, § 23-29. Dazu: Böhme, Hartmut: Das Steinerne. Anmerkungen zur Theorie des Erhabenen aus dem Blick des "Menschenfremdesten". In: Pries, Christine (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989, S.160-192. – Pries, Christiane: Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik; Berlin 1996. – Lyotard, Jean-Francois: Die Analytik des Erhabenen – Kant-Lektionen. Kritik der Urteilskraft §§ 23-29; München 1995.

[11] Buddensieg führt eine Stelle Nietzsches über die Genueser Profan-Bauten der Renaissance an, um zu beweisen, daß es Nietzsche um einen Abschied von der Metaphysik der Sakralbauten und eine Hinwendung zu einer sensuellen Ästhetik des weltlichen Bauens gegangen wäre; doch gerade die Stelle, die Buddensieg aus der "Fröhlichen Wissenschaft" (dem Aphorismus über "Genua") anführt, belegt etwas anderes, nämlich eine neue Erhabenheits-Geste, die zwar profan, aber in ihrem Machtanspruch, ihrer Souveränität, ihrem Panoptismus eben nur die Modifikation dessen ist, wovon sie sich abstößt, sei's die Erhabenheit Gottes oder das Pathos der Wagnerschen Musik, aber sich wie diese unendlich überlegen weiß über die "feige Welt" der deutschen Städte: "[...] ich sehe Gesichter aus vergangenen Geschlechtern, – diese Gegend ist mit den Abbildern kühner und selbstherrlicher Menschen übersäet. Sie haben gelebt und haben fortleben wollen – das sagen sie mir mit ihren Häusern, gebaut und geschmückt für Jahrhunderte und nicht für die flüchtige Stunde [...] Ich sehe immer den Bauenden, wie er mit seinen Blicken auf allem fern und nah um ihn her Gebauten ruht und ebenso auf Stadt, Meer und Gebirgslinien, wie er mit diesem Blick Gewalt und Eroberung ausübt: Alles diess will er seinem Plane einfügen und zuletzt zu seinem Eigenthum machen, dadurch dass es ein Stück desselben wird. Diese ganze Gegend ist mit dieser prachtvollen unersättlichen Selbstsucht der Besiz- und Beutelust überwachsen [...]" (KSA III, 531/2)  Diese Form erhabener Bau-Ästhetik der Renaissance-Stadt, die ins Titanische und eine "Neue Welt" erobernd stilisiert wird, kann wahrlich nicht zum Zeugen der Architektur-Moderne erhoben werden. Vgl Buddensieg (wie Anm. 1), S. 255f.

[12] Rilke, Rainer Maria: Duineser Elegien, Die erste Elegie (1923).

[13] Vgl. zum Tremendum R. Otto (wie Anm. 3). Ferner zum Schrecken: Zelle, Carsten: Pysiognomik des Schreckens im achtzehnten Jahrhundert. Zu Johann Caspar Lavater und Charles Lebrun. In: Lessing Yearbook 21 (1989), S. 89-102. – Gendolla, Peter / Zelle Carsten (Hg.): Schönheit und Schrecken. Entsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuen Medien; Heidelberg 1990. – Bohrer, Karl Heinz: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Jüngers Frühwerk; München Wien 1978.

[14] Mir ist schwer nachvollziehbar, wie Buddensieg aus diesem Aphorismus eine Ästhetik der leeren Form und der Materialhaftigkeit des Steins macht – es sei denn, es gelte unbedingt, Nietzsche zum Theoretiker der ornamentlosen Form und Materialität der Moderne zu machen, der er in seinen Bau-Aphorismen nun wirklich nicht ist. (Buddensieg, wie Anm. 1, S. 256)

[15] Möglicherweise sollte es heißen "ein Gesetz unter Gesetzten".

[16] Den absoluten Willen zur Macht im "grossen Stil" kann man wohl kaum übersehen. Diesen von politisch zumindest problematischen Implikationen frei zu halten, ist kaum möglich, auch nicht und gerade nicht durch die Referenz auf den Palazzo Pitti in Florenz (vgl. Buddensieg, wie Anm. 1, S. 263-266).

[17]   Diese Logik wird freigelegt von Burkert, Walter: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen; Berlin 1990 – Burkert, Walter: Anthropologie des religiösen Opfers. Die Sakralisierung der Gewalt; München 1983. – R. Girard (wie Anm. 3).

[18] Assmann, Jan: Stein und Zeit. Mensch und Gesellschaft im alten Ägypten; München 1991.

[19] Zum Frontispiz des Hobbesschen Werkes vgl. Bredekamp, Horst: Thomas Hobbes visuelle Strategien: Der Leviathan: Urbild des modernen Staates; Berlin 1999.

[20] Ohly, Friedrich: Deus Geometra. Skizzen zur Geschichte einer Vorstellung von Gott. In: Kamp, Norbert / Wollasch, Joachim (Hg.): Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des frühen Mittelalters; Berlin New York 1982, S. 1-42.

[21] Nietzsche behandelt in diesem Teil der Vorrede zur "Morgenröte" vor allem Kant als philosophischen Baumeister. Tatsächlich liebt Kant Architektur-Metaphern zur Verbildlichung des philosophischen Geschäfts.

[22] Die Notwendigkeit des Zerstörens sieht auch Buddensieg (wie Anm. 1), S. 261-262.

[23] Bredekamp, Horst: Sankt Peter und das Prinzip der produktiven Zerstörung; Berlin 2000.

[24] Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik; 9. Aufl. Darmstadt Neuwied 1984, S. 35.

[25] Dällenbach, Lucien / Hart Nibbrig, Christiaan L. (Hg.): Fragment und Totalität; Frankfurt am Main 1984. – Althöfer, Heinz: Fragmente und Ruine. In: Kunstforum International 1 (1977), S. 57-169.

[26] Heidegger, Martin: Bauen Wohnen Denken. In: ders.: Vorträge und Aufsätze. 7. Aufl. Pfullingen 1994, S. 139-156.

[27] Zum Sinn von colere und cultura vgl. das immer noch grundlegende Buch von Niedermann, Joseph: Kultur. Werden und Wandlungen eines Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder; Firenze 1941 sowie Böhme, Hartmut: Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft). Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs. In: Glaser, Renate, / Luserke, Matthias (Hg.): Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven; Opladen 1996, S. 48-69.

[28] Heidegger (wie Anm. 21), S. 155.

[29] Vgl. Heidegger (wie Anm. 21).

[30] Imhof, Arthur E.: Ars moriendi – Die Kunst des Sterbens einst und heute; Wien 1991.

[31] Heidegger, Martin: Nietzsche; 2 Bde. Pfullingen 1961.

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