In: Dombrowsky, Wolf R. (Hg.): Wissenschaft, Literatur, Katastrophe. Festschrift für Lars Clausen; Opladen 1995 S. 35-52.

Hartmut Böhme

Phaeton, Prometheus und die Grenzen des Fliegens.

 

Lieber Lars Clausen,

in der zweiten Hälfte der 80er Jahren saßen wir zusammen in einem DFG-Projekt über den Wertwandel der Arbeit. Es waren fast nur Literaturwissenschaftler und Sie der einzige professionelle Soziologe. Und wenn Sie etwa über die Stellung des Romans "Anastasia und das Schachspiel" (1803) von Wilhem Heinse in der Geschichte des Schach referierten, waren Sie diskret genug nicht nachzufragen, welcher der zünftigen Germanisten denn diesen Roman überhaupt kenne, geschweige denn etwas vom kulturgeschichtlich höchst aufschlußreichen Wandel der Schachstrategien verstehe; und ob denn jemand den Zusammenhang eines solchen Romans, des Schach und der Geschichte der Sekundärtugenden der Arbeit, mit denen wir beschäftigt waren, erkenne. Wir hielten uns stille und lernten — Sie kennen und ein vertrautes Problem aus einer ebenso obliquen wie aufschlußreichen Perspektive sehen. Die Pfeife dampfte. Wir staunten. Eigentlich standen Sie dem Teilprojekt vor über die Geschichte des Luftfahrens, das Helmut Reinecke durchführte, auch einer, der sich auf ungewohnte Blicke verstand. Womit ich beim Thema bin.

Denn Ihrem Interesse am Luftmeer und den mannigfachen Schiffern darin möchte ich nachsenden, was zur Vorgeschichte der Montgolfieren, Zeppeline und Flugzeuge gehört, Geschichten von den mythischen Figuren, die lange vor jeder technischen Realisierung das luftige Reich zwischen der schweren Erde und dem göttlichen Äther bereisten. Sie bezeugen den uralten Traum zu fliegen — und lassen bereits all die Zwiespältigkeiten (und literarischen Optionen) erkennen, die mit der Eroberung des Luftraums (und dem Blick hinunter auf die arme Erde) wirklich wurden. Vielleicht, daß der Mythos, der scheinbar hinter uns liegt, von der verdrängten Dimension der säkularisierten Moderne schon erzählt, die ihren Ausdruck auch und gerade fand in der prekären Beherrschung der menschenfremden Elemente — Luft und Feuer. Ich berichte nicht von den "Himmelsreisen der Seele", den Jenseitsreisen der Schamanen, den Himmelfahrten der Heiligen, den Elevationen der Zauberer und nächtlichen Ritten der Hexen (gewiß gehört dies alles dazu). Sondern nur eine kleine Ansicht kann ich bieten von griechischen Jünglingen, die mittels "antigraven" Geräts den Himmel erobern, Prototypen des Piloten, vom flammenden Rausch der Höhe getrieben und gestürzt. Ikaros, Bellephoron, Perseus, Phaeton vor allem und andere mehr.

Ihrer Liebe zur antiken Überlieferung will ich damit ein wenig gut tun. Auch Lukian ist am Rande dabei und schon assoziieren sich Wieland und Arno Schmidt und wir sind bei Ihnen (und Bettina). Und wie es nicht anders sein darf, ist von Katastrophen die Rede und von Politik, freilich des Himmels und der Erde. Der Weg zur Katastrophen-Forschungsstelle an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel scheint weit – doch, so bin ich sicher, nicht für einen, der bei aller harten Empirie, zu der die Soziologie heute gehalten ist, niemals den Blick für die historischen und symbolischen Zusammenhänge verloren hat, in welchen auch die Fakten ihren Ort finden.

* * *

Der Überlieferungen sind viele. Beginnen wir mit Phaeton, dem Ovid, literarisch schon am Ende der mythischen Überlieferung stehend, die längste aller Verwandlungs-Geschichten einräumt (Metamorphosen I, 750 – II,400): der Sohn der irdischen Klymene und des Sonnengottes erbittet von diesem, der durch ein Versprechen diesem die Einlösung eines Wunsches schuldig ist, den Sonnenwagen. Am Himmel gerät der kühne Jüngling angesichts der erhabenen Räume und drohenden Himmelsbilder ins Schwindeln, verliert Kurs und Beherrschung, die Sonnenbahn gerät in Unordnung, wodurch beinahe ein Weltenbrand ausgelöst wird, hätte nicht, auf Klage der brennenden Erde hin, Jupiter den Jüngling vom Himmel geschossen. Die einfache Geschichte birgt komplizierte Konfigurationen: solche der menschlichen und der göttlichen Macht, der tragischen Grenzüberschreitung, der Liebe von Vater und Sohn, des begehrenden und leidenden Menschen, der Rivalität der Götter, der Macht der Elemente und der (prekären, störbaren) Ordnung der Natur. Es ist eine ebenso psychologische wie naturphilosophische Erzählung, und vor allem: eine Einführung in die unheimlichen Beziehungen zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre, die — wie Prometheus gelehrt hatte — radikal getrennt bleiben müssen, wenn es nicht, im Zusammenstoß beider, zu Katastrophen kommen soll.

In den erhaltenen Splittern von Aischylos' Tragödie über die Heliostöchter, welche in Trauer über ihren zerschmetterten Bruder Phaeton in schwarze Pappeln und ihre Tränen in Bernstein verwandelt wurden (vgl. Met. II,240–266), heißt es:

    Zeus ist die Luft, die Erde Zeus, der Himmel Zeus;

    Zeus ist das All und was sich drüber noch erstreckt.

Der Name des Kosmos ist Zeus, der sein Wesen allem mitteilt. Alle Natur ist Gott; doch sie bedeutet auch nichts anderes als Ihn. Der hymnische Doppelvers besiegelt den Sieg des olympischen Himmelskönigs – wie der Sturz Phaetons, des Sohns des älteren Sonnengottes Helios, wie das Leiden des Prometheus auf der älteren Linie der Gaia und des Uranos. Aischylos wußte noch genau um die Zwiespältigkeit des Siegs dieses neuen Weltsteuerers, der nach neuer Satzung ... ohne Fug die Herrschaft ausübt und das, was früher gewaltig war, nun austilgt. (Aischylos: Der gefesselte Prometheus 149–51): wie der Chor der Okeaniden klagt. Zeus ist der Tyrann, gestützt auf Macht und Gewalt (krátos, bía), die als "Funktionär" und als "Scherge" (Jan Kott) das Anschmieden des Prometheus an den Fels überwachen. Die Folter ist Medium des Staates. Wenn jedes Lebewesen und jedes Ding, ebenso wie Götter und Menschen nichts sind als Prädikate des Herrschers, so gilt: Und frei ist niemand, ausgenommen Zeus. (Gefess.Prom.50)

Phaeton ist eine Komplementär-Figur zu Prometheus und zugleich zu Deukalion, dem Sohn des Prometheus und Überlebenden der Sintflut. In Phaeton erscheint ein anderes Naturverhältnis, das seinen Umriß im Vergleich mit jenen erhält. Die Beziehung von Helios zu Phaeton wird von Ovid auf 'menschlicher' Ebene gespiegelt in dem von Daedalus zu Ikaros (Met.VIII, 150–259). Daedalus ähnelt Prometheus darin, schuldiger Erfinder, Technit und Gefangener eines Willkür-Herrschers zu sein. Prometheus gelingt die Rettung seines Sohnes, indem er ihm richtig rät. Den Vätern Helios und Daedalus, ebenfalls das Richtige ratend, mißlingt die Rettung ihrer Söhne, die beide im Begehren, sich zum Himmel zu erheben, den Weg höher hinauf wählen (caelique cupidine tactus altius egit iter, Met.VIII,224/5). So werden die Väter unschuldig schuldig an den Söhnen. Während Prometheus, der Philanthropos, unschuldig schuldig an den Göttern wird. Deukalion gewinnt seine mythische Qualität durch demütiges Vertrauen zur Allmutter Erde. Phaeton und Ikaros werden zu mythischen Gestalten, indem ihr Begehren nach grenzüberschreitender Erhebung ihre Kraft übersteigt und darum sie abstürzen läßt. Prometheus hatte im Umgang mit Feuer das menschliche Maß eingeführt; Daedalus mahnt Ikaros, zwischen verbrennender Glut und ertränkendem Wasser die Mitte (medium) zu halten; Helios hält abmahnend dem Sonnenpiloten die Gefahren des Weltraumflugs vor Augen und schärft ihm den mittleren Kurs ein. Ohne Nutzen; es sterben die Söhne vor den Vätern.Sie sterben, weil in ihnen, den Menschen, etwas Un- und Übermenschliches lodert: das Feuer, das nach Feuer sich sehnt – die Himmelsbegier (cupido caeli) des Ikaros, während Phaeton vom ewig innern Flammenwurf des Herzens, der zum Allerhöchsten treibt, zu seinem Himmelsflug gestachelt wird (wie es Goethe in seiner Rekonstruktion des Phaeton-Fragments von Euripides formuliert). Prometheus indessen ist der Gott, der den Weg vom Himmel zur Erde, absteigend, nimmt und darin die zwischen Leiden und Klugheit, Rebellion und Besonnenheit, Schmerz und Größe gespannte Amplitude des Menschlichen nicht nur durchlebt, sondern ein für allemal bestimmt. Umgekehrt Phaeton und, im verkleinerten Maßstab, Ikaros: aufsteigend zum Licht, sind sie Verblendeteschwarz vor die Augen tritt durch so viel Licht ihm das Dunkel (Met. II,181) –, Strauchelnde der Höhe, Opfer und Täter der übermenschlichen Seite des Feuers, sprich: des inneren Brandes, der sie tödlich trifft. Doch auch Prometheus, freiwillig den Himmel verlassend, stürzt: wird er zu Beginn der Aischylos-Tragödie auf dem Gipfel der Welt, dem Kaukasos, zu ewiger Folter von Hephaistos, der im Philanthropos den Verwandten achtet, widerwillig angeschmiedet, so schleudert ihn Zeus am Ende mit Donnerkeilen und Blitzen, mit Orkan und Erdbeben, Himmel und Meer vermengend, in den Tartaros (Gefess.Prom. 1080–90). Kriegerisch entfesselt der olympische Tyrann, gestützt auf Kraft und Gewalt, die vier Elemente gegen seinen Feind –: welche dieser, Sänftiger des Elements, zu Beginn angerufen hatte zu Zeugen seiner Schmach. Jetzt im Untergang wiederholt er die Apostrophe als Klageecho (Gefess.Prom. 1091–4). Derart endet der Gott, der Mensch wurde, als das, was der Name seines Bruders Menoitios bedeutet: zerstörte Kraft; er endet mithin als Titane, doch 'voraus-wissend' und somit seinen Namen bezeugend. Auch Phaeton wird am Ende, als die Erde vom Taumelflug der Sonne entzündet schon in Flammen steht, durch Zeus vom Himmel abgeschossen, mit wütenden Flammen die Flamme erstickend (Met.II,313). Phaeton indessen trägt seinen Namen, der ursprünglich der des Sonnengottes war, wie ein zu großes Kleid. Es ist, als seien der menschliche Gott und der gottsüchtige Mensch gleichermaßen Provokationen der Ordnung des Kosmos. In diesen Konstellationen ist der Sinn des Phaeton-Mythos zu suchen.

Ovid läßt fort, was bei Euripides, soweit wir sehen, gerade den Plot ausmachte. Bei diesem nämlich verweigert sich Phaeton, zwar königlicher, doch sterblicher Abstammung, der Vermählung mit einer Nymphe, im Vermeinen, dieser nicht ebenbürtig zu sein. Da erst eröffnet ihm die Mutter seine Abkunft von Helios; sofort bricht Phaeton zwecks Beglaubigung zu seinem Vater auf. Er weiß, daß Klymene im Liebesspiel mit Helios einen freien Wunsch für den Sohn ausbedungen hat. Das liegt nah an der Szene zwischen Zeus und Semele (Met. III,260–311). Ovid dagegen eröffnet die Phaeton-Mythe mit einem Geltungskonflikt zwischen Epaphus, Sohn der Io und des Zeus, und Phaeton, der in Wut darüber gerät, daß Epaphus die längst bekannte Tatsache der göttlichen Abstammung Phaetons ins Reich der Einbildung verweist.

Daraus entwickelt Ovid eine gänzlich andere Psychologie, um die zuerst es gehen soll. Phaeton ist bei Ovid der Mensch, der die narzißtische Wunde, 'nur' als Sterblicher zu gelten, nicht ertragen kann und sämtliche Triebenergie darauf setzt, des Göttlichen sich zu bemächtigen. Er ist der erste Fall des "Gottes-Komplexes" (H.E.Richter 1979). Bei Eupides ist die Ausgangslage Phaetons, sich geringer zu wähnen, als er ist. Ovid indessen stellt eine Konstellation her, durch welche der Wunsch, größer sein zu wollen, als er kann, einen Treibsatz darstellt, der Phaeton in atemberaubendem Tempo raketengleich auf den Zenith des Himmels schießt. Das ist ungeheuer: vor 2000 Jahren erkundet ein Dichter in allen Feinheiten eine psychodynamische Figur, die von größter mentalitätsgeschichtlicher Bedeutung ist. Denn wenn wir heute mühsam zu verstehen beginnen, daß kulturelle Reife – in sozialer Interaktion wie im Verhältnis zur Natur – darin besteht, kleiner sein zu wollen, als wir groß sein können –: dann begreifen wir rückwirkend, daß die abendländische Geschichte der imago-dei-Mentalität und der megalomanischen Techno-Phantasmatik als 'phaetonisch' zu charakterisieren ist: größer sein zu wollen, als ertragen und verantworten wir können.

Die cupido caeli Phaetons bildet eine Umkippfigur: der Antrieb, in göttergleicher Souveränität im Weltraum zu fliegen und die Natur zu regieren, schlägt um in Tod und in die Zerstörung der Natur. Es ist von bewegender Klugheit, wenn Ovid diese Frage durchprobiert am Element des Feuers – und zwar so, daß die prometheische Linie, damit 'herdend' umzugehen, qualitativ verlassen wird. Prometheus ist Gaia-Enkel; seine Feuertechnik ist erdbezogen und korrespondiert den Lebensbedürfnissen und der Kulturangewiesenheit des Menschen. Wenn dagegen am Ende von Phaetons Sonnenfahrt die brennende Gaia, welche sich die prometheischen Techniken des Naturumgangs gern gefallen ließ, in Klagen ausbricht (Met. II,280–300), so heißt dies nichts weniger, als daß in der phaetonischen Himmelsbegier eine Dynamik installiert wird, welche die Erde zerstört. Es ist eine der großen Selbsttäuschungen unserer Zivilisation, daß sie sich als prometheisch versteht; in Wahrheit überschreitet sie, phaetonisch, das prometheische Erbe im Verlangen, des Unsterblichen habhaft zu werden und beschleunigt darin ihren Tod. Das ist ihr Großartiges und Fürchterliches – und diese Doppelheit ist an Phaeton immer verstanden worden, von Ovid bis zu Goethe (seinem Phaeton und seinem Faust).

Die Kunst der novellistischen Gestaltung und psychologischen Linienführung im Verhältnis von Vater Sol und Sohn Phaeton ist oft bemerkt, nicht aber angemessen verstanden worden. Niemals in den "Metamorphosen" zeigt Gottvater Jupiter eine ähnliche Besorgnis um etwas anderes, als er selbst ist, wie hier Helios. Das ist auch politisch aufschlußreich – etwa, wenn nach der Beschreibung des Jupiter-Palastes und der Götterversammlung (vor der Sintflut), die ganz im Stil römischer Staatsrepräsentation gehalten ist (Met.I,168ff), jetzt die regia Solis (Met.II,1ff) als erhabene Lichtarchitektur beschrieben wird. Sie enthält, als Kunstwerk, eine Weltlandschaft, den Kosmos noch einmal. Dieses Umfassend-Umfangende des Lichts – man darf an das vorsokratische Periechon denken – kehrt in der Kreisbahn des Sonnenwagens und in den Allegorien des Thronsaals wieder. In diesem bilden der Zodiakus, die Stunden, Tage, Monate, Jahre und Jahrhunderte, die Jahreszeiten und Lebensalter den Hofstaat –: die Ordnungen der Zeit. Sol repräsentiert das Ganze der Natur, die Himmelsbewegungen, die Zeit, den Lichtglanz und die Wärme. Sein Sonnenwagen ist die Energiemaschine und zugleich das Scheinende des Alls. Anders als Jupiter, der den diversen Kompartementen der Natur als König vorsteht, repräsentiert Sol-Helios die Gesetzmäßigkeiten, die Dynamik und die Energie der Natur. Das ist die mythische Form dafür, daß die Philosophen dem Feuer im Kreis der Elemente eine Ausnahmestellung zuerteilen. Ovid spart nicht mit Ausdrücken des Erhabenen – des Majestätisch-Erhabenen bei der regia Solis, des Schrecklich-Erhabenen bei der Schilderung der Weltraumfahrt. Bei Sol, nicht bei Jupiter finden wir die Größe einer ihr Göttliches darstellenden Natur.

So weiß Sol denn auch, daß sein Geschäft nicht nur vom sterblichen Phaeton nicht, sondern auch von keinem anderen Gott bewältigt werden kann – auch nicht von Zeus (Met. II,54–62). Ironisch fügt er an: et quid Iove maius habemus? – Nichts. Außer eben Sol. Gewiß, daß Jupiter gewaltig die Natur durchpoltern kann; doch nicht lenken, führen, ihre Gesetze garantieren. Im Vergleich zu Sol ist Jupiter deus minor.

Das nun wirft Licht auf Phaeton, der nicht nur Übermenschliches, nein, Übergöttliches begehrt. Das gerade, will Ovid sagen, ist menschlich. In keinem Mythos gibt es einen so absolut Begehrenden und einen das Absolute so Begehrenden wie ihn; einzig steht er da. Nein, stürmt er dahin. Denn Ruhe und Betrachtung ist nicht seine Sache, sondern Tempo (in keinem Mythos spielt Geschwindigkeit eine solche Rolle wie hier). Phaeton ist Getriebener der Begierde – so wie des konkurrierenden Epaphus Mutter, die leidende Io, gestachelt von der Bremse der Hera, in rastlosem Taumel jahrelang den Erdkreis umrennt (den der in sich selbst zurückströmende Okeanos ruhig umströmt) –: Io, Inbegriff des getriebenen Fleisches, so wie Phaeton Inbegriff der getriebenen Phantasie ist (Jan Kott 1975, S.36–41). Nicht zufällig hat Ovid Io's Erdkreis-Fluchten unmittelbar vor die rasende Himmelfahrt Phaeton plaziert. Als dieser nämlich die Umlaufbahn erreicht, wird er in dieselbe taumelnd-kopflose Bewegungsdrift gerissen, welche der haltlosen Unruhe Io's eignet. Und eben wie diese in Aischylos' Tragödie zur Gegenfigur des starr an den Felsen geschmiedeten Prometheus wird, bietet auch Phaeton den Kontrapart zum Philanthropos. Unmöglich, daß Ovid, bei der äußersten Raffinesse seiner Kompositionen, nicht daran gedacht hat.

Sich übereilend sieht Phaeton nichts von den himmlischen Zeichen in der regia Solis und kommt erst zu Halt, als seine Augen, vom Strahlen des Gottes geblendet, nichts mehr sehen. Doch Phaeton sieht auch nicht sein Nicht-Sehen im Verhältnis zu den Augen Sols, die alles schauen. Ebenso übergeht er seine aufkeimende Angst (Met.II,31ff), nichts im Sinn als die Beglaubigung seiner Göttlichkeit. Er bemerkt nicht, daß er in seiner Anrede O lux immensi publica mundi (Met.II,35) den Vater als das anspricht, was er nicht sein kann, so sehr er auch dessen Sohn ist. Im nachfolgenden Gespräch prallen alle Mahnworte des Vaters am Sohn ab, weil der Mensch Phaeton, im narzißtischen Taumel, nicht wahrhaben kann, daß er dem Gott so unendlich fern bleibt, wie nah er ihm sein mag. Näher denn als Sohn kann er dem Gott nicht rücken; ferner denn als Mensch sortis mortalis kann er nicht sein. Bevor er fliegt, fliegt er schon hier, Phaeton, immer zu schnell, zu feurig für sein verletzliches Fleisch. Er übereilt alle Differenzen im Verlangen, Gott zu sein. Gar nichts sagt ihm, daß Sol seine Strahlen ablegen muß, damit Phaeton überhaupt sieht (Gott ist unerträglich); nichts sagt ihm, daß der Gott, sein Göttliches ablegend, ihm entgegenkommt, um ihn nicht gleich jetzt zu verbrennen. Semele, welcher Hera in perfider Eifersucht das Verlangen einflüstert, Zeus in der Gestalt sehen zu dürfen, in welcher er Hera entgegentritt – als Gott nämlich –: Semele erleidet den instantiellen Zusammenfall von Augenblick und Feuertod. Verzehrend ist Himmelssehnsucht; in Flammen steht, wer Gott sieht. Nichts davon will, nichts davon kann Phaeton wahrhaben in der Glut seiner Begierde, nicht Stoff des Feuers, sondern Feuer selbst zu sein. So heiß sein Verlangen, daß er die tödliche Flamme nicht spürt, nach der er entflammt ist.

Seine Sterblichkeit schonend, doch dadurch umso weniger Phaeton von seinem Wunsch abhaltend, schwört Sol in töricht-unschuldiger Vaterliebe bei Styx, Götter unwiderruflich bindend, dem Sohn jeden Wunsch zu erfüllen – : als sei dies Ausweis der Vaterschaft! Sein Versprechen bereuend wie Zeus das Semele gegebene, zieht er widerwillens seinen Sohn in eine Umarmung, welche dem Phaeton so tödlich sein muß wie Semele die des Zeus. Liebe der Götter zu Menschen ist für diese zumeist nicht weniger vernichtend als ihr Zorn. Schon ahnt Sol, daß er funesti muneris auctor wird: Urheber eines todbringenden Liebesdienstes (Met.II,88). Der Gott abhängig vom Sterblichen! Ohnmächtiges Flehen: tua corrige vota!

Worte bewirken nichts, wenn unaufhebbare Disproportion zwischen beiden eine Verständigung unmöglich macht. Es herrscht ein seltsamer Chiasmus: gebunden an seinen Schwur, ist der überlegene Gott so abhängig vom Sterblichen wie dieser, entbunden von allen Grenzen des Menschlichen, gleichwohl Fleisch und Blut bleibt. Als Prometheus, vor-bedenkend, die Trennung von Göttern und Menschen endgültig vollzog, tat er dies im Wissen, daß die Liebe eines Gottes zu Menschen, Philanthropie, nur heilsam sein kann, wenn der Gott selbst Mensch wird, ein leidender. Prometheus' Tragik war nicht, daß er litt, sondern daß er nicht ganz Mensch werden konnte, weil der Tod ihm verwehrt blieb. Phaeton, gerade nicht fähig zu leiden, will umgekehrt die Trennung von Göttern und Menschen wieder aufheben, beide in narzißtischem Glanz verschmelzend. Phaetons Tragik ist nicht, daß er fällt, sondern daß er das Streben, Gott zu werden, ekstatisch lebt, im Unverstehen, daß das Göttliche im Menschen 'geherdet' werden muß, damit es ihm nicht tödlich werde.

Kaum daß der Vater sein Versprechen geendigt hat, verlangt Phaeton, in ihm eigenen Tempo niemals eine Sekunde zögernd, den Sonnenwagen zu lenken. Damit schon ist alles entschieden. Vergeblich die vielen Worte, mit denen Sol dem Phaeton das Gefährliche, Überfordernde, Schrecklich-Erhabene seines Verlangens vor Augen und Ohren zu bringen sucht. Nichts kann Phaeton im Prasseln seines Verlangens hören, im Blendenden seines Wunsches nichts sehen: das Erhabene ja ist es, wonach der Sinn ganz ihm steht.

Darum gönnt Ovid ihm den Titel magnanimus Phaeton (Met.II, 111). Denn zur Anthropologie Ovids gehört, daß die Flamme, so tödlich sie ist, im Menschen selbst das Große und Ungeheure ist, ja daß, wie in Goethes Gedicht "Der Gott und die Bajadere", in uns eine Sehnsucht brennt, in den Flammen, den eigenen und den unerträglich anderen, unterzugehen. ...flagratque cupidine currus (und er lodert in Begier nach dem Wagen, Met.II,104). Wenn schon, wie anders als in flagranti getroffen zu werden, lohnt den Mut der falschen Tat.

In seinen abmahnenden Reden hat Sol, nebenher, die Karte des Himmels entwickelt und den Kurs dem Phaeton angegeben, die Formel prägend, die dann wie Daedalus alle besonnenen Vätern ihren Söhnen mitgeben: ja nur die Mitte zu halten (Met.II,137). Zeitlupenhaft verschiebt Ovid den Start, die Not des Vaters dehnend. Doch das All will tagen; Sol selbst, die Notwendigkeit des Gestirnenlaufs achtend, muß das Zeichen des Abflugs erteilen.

Das Ungeheure geschieht. Der Mensch als Herr der Sonne.

Kühnstes, unsinnigstes, ekstatisch größtes, lächerlich törichstes Unterfangen bis heute, noch heute: Souverän im Raum, absoluter Herr der Geschwindigkeit, Dirigent unendlicher Energie, Subjekt äußersten Lichts – Phaeton, erster Heros des anhaltenden Unsterblichkeits-Projekts.

Was kommen muß, kommt. Sol hat es angekündigt: den Sonnenwagen zu hoch steuernd, verbrennt der Himmel, zu tief, die Erde (Met.II,134ff). Alles muß das erste Mal gesagt werden: hier also Weltraumfahrt, Sternenbrand und erstmalig auch der Blick eines Piloten auf den Planeten Erde tief unter ihm (Met.II,178ff).

Ovid benutzt für diesen Blick die Rhetorik des Angstschauder erregenden Erhabenen, wie es auch in modernen Schilderungen des Erhabenen immer wieder begegnet, von den ersten Aerostaten bis zu den Raumfahrern, von frühen Hochgebirgswanderern bis zum Angstthrill der Jahrmarktsmaschinen unserer Tage. Dazu haben Michael Balint (1960) und Hermann Argelander (1972) einschlägige Studien vorgelegt. — Lukian von Somosata (um 120 – um 180 n. Chr.) konnte 150 Jahre nach Ovid die Weltraumreise bereits satirisch einsetzen, in seinem "Ikaromenippus" und der "Wahren Geschichte", worin er den Besuch außerterrestrischer Populationen kreiert mit dem Zweck, 'von außerhalb oben' einen satirischen Blick auf die irdischen Verhältnisse zu werfen: das wird zum literarischen Topos nahezu aller Weltraumreisen der vortechnischen Phase. (Zum Blick 'von oben' auf die Erde und seine wissensoziologischen Folgen vgl. Wolfgang Sachs 1992).

Zur sprachlichen Bewältigung bieten sich dafür von den antiken Techniken und Mythologien her mehrere Möglichkeiten an. Ovid hätte sich etwa auf den Mythos von Bellephoron beziehen können, der, mithilfe des Flügelrosses Pegasus (der Medusa entsprungen), der erste Angriffsflieger und Luftkämpfer der abendländischen Phantasie ist: im Luft-Boden-Kampf besiegt er das weibliche Ungeheuer Chimaira, die Solymer und die Amazonen (auch der Medusa-Bezwinger Perseus setzt seine magischen Flügel-Sandalen zum Luftkampf ein, etwa gegen das Seeungeheuer bei der Befreiung Andromedas, vgl. Met. IV,670ff).

Im Bellephoron-Stoff überschneiden sich – vermutlich sehr alte – märchenhafte und mythische Züge. Verwandtschaften bestehen zur Peleus-Sage, ferner zum Stoff Phaidra-Hippolytes (Potiphars Weib – Moses). Bei Homer, in der Rede des Lykiers Glaukos, ist er der untadelige Heroe, der hinterhältigen Nachstellungen durch Tapferkeit entgeht. Von Pegasos ist nicht die Rede. Daß Bellephoron seine Prüfungen mithilfe des Pegasos besteht, den er durch ein ihm von Athene geschenktes Zaumzeug bändigt –: das ist bei Heiod und Pindar vorausgesetzte Überlieferung. Sein Tod bleibe verhüllt, sagt Pindar in der 13. Olympischen Ode, damit das Bild des redlich gesinnten Bellephoron wahrend. In der 7. Isthmischen Ode hingegen spricht Pindar das Hybride Bellephorons aus: Alle vereint der Tod, ob/ auch Schicksal uns sondert. Doch wie hoch auch/ Einer trachtet, er ist zu klein/ und faßt nicht die eherne Flur,/ der Götter Sitz; und so warf denn der Gefittigte,/ Pegasos, seinen Herrn, der nach des Himmels Saal,/ Nach Zeus und den Seinen strebte, Bellephorontes,/ ab. Bitterstes Ende harrt,/ Wo ein Süßes wrad wider Recht genossen. Deutlich geht es in Pindars Verständnis darum, daß Bellephoron die basale Trennung von Himmel und Erde, Göttern und Menschen provokativ zu überwinden sucht. – Das hat in seiner Abstammung einigen Halt: als Urenkel des Atlas, Enkel des Sisyphos und Himmelsstürmer zeigt der Heros Bellephoron auch Züge des Titanenkampfes. – Euripides im Tragödien–Fragment "Bellephorontes" verleiht ihm geradezu Hamlet-Züge eines reflektierenden Haderns mit dem vergänglichen Los des Menschen; von daher ist wahrscheinlich, daß es im Himmelsritt um die Eroberung der Unsterblichkeit ging. (Euripides: Stheneboia; sowie: Bellephorontes, in: ders.: Werke Bd.III, S.193–196, 201–205; Homer: Ilias VI,145ff; Apollodor: Bibl. I,85; II,30–34; Hygin: Fabulae 57; Hesiod: Theog. 319–325; Pindar: Olymp. Oden XIII, 84ff; Isthm. Oden VII, 60ff; vgl. Behringer/ Ott-Kopschaliski 1991, 81–147).

Sichtlich vermeidet Ovid Konnotationen mit Heroen der magischen Beherrschung des Luftreiches. Bellephoron, hybrid geworden, fliegt schließlich wie ein Gott dem Olymp entgegen und wird durch Zeus hinabgestürzt, während dieser das Musenpferd für sich behält (bis es die Dichter ihm wieder entwenden). Die moralische Pointe, die Pindar, 522/18 – nach 446 v.Chr.) (Isthmische Oden 7,44ff) dieser Erzählung anhängt – wer zu hoch steigt, wird tief fallen –, zeigt eine gewisse Parallele zu Phaeton, die Ovid jedoch ebenfalls meidet. Götter fliegen ohnehin; doch ihr Flug wird nie anschaulich beschrieben. Das Bild geflügelter Rosse, nicht nur des Pegasos, ist topisch. Ebenso ist die Kenntnis von Himmelsreisen der Seele aus mystischen oder schamanistischen Traditionen vorauszusetzen. Doch auch sie verbleiben letztlich im Dunkel, ohne sprachliche Vorstellung, Wunder eben (Vgl. Behringer/ Ott-Koptschalijski 1991, S. 81–147).

Nicht sicher ist, ob Ovid die beiden prominenten Gespann-Bilder der Philosophie-Geschichte kannte: das göttliche, gefiederte Seelen-Gefährt in Platons "Phaidros", das zum himmlischen Ort der Götter führt und das Vorbild abgeben soll für das Gefährt der Liebe, bei der es darauf ankommt, daß durch besonnene Lenkung und Scham das wilde Trieb-Pferd am unbändigen Durchgehen gehindert wird (246a–256e). Scham und Besonnenheit fehlen Phaeton gewiß; die Liebe, die ihn erfüllt, ist nicht mild-idealisierte, geistgeneigte Objektliebe, sondern fessellose Selbstliebe; so könnte Phaeton ein Gegen-Bild zur platonischer 'Auffahrt' zur Sphäre des Geist-Eros sein. – Deutlicher aber sind die Parallelen der Ovidschen Schilderung des Sonnenwagens zum gewaltigen Bild eingangs des Lehrgedichts von Parmenides (um 515 – ? v.Chr.) : der Dichterphilosoph fährt mit einem Gespann, für das der Helios-Wagen den Prototyp bildet, gezogen von vielverständigen Stuten und begleitet von heliadischen Jungfrauen, bis ans Tor der Bahnen von Tag und Nacht, das von Dike geöffnet wird –: zur Epiphanie der Wahrheit des ewig unwandelbaren Seins (Diels/ Kranz 28 B 1). Urszene der Philosophie: eine schamanistische Seelenreise im Schema des morgendlichen Aufgang des göttlichen Lichts, eine rituelle Initiation (auch Hesiod läßt sich von den Musen initiieren, so wie noch Lukrez von der Liebesgöttin). Nimmt man Parmenides als Vorbild des Ovidianischen Phaeton –: dann wäre dies die Erzählung einer malignen schamanistischen Initiation in einen Lichtkult – sei's des göttlichen Sonnenlichts, sei's des Lichts der Wahrheit. – In modernen psychiatrischen terms schlägt die erstrebte "ozeanische Selbstentgrenzung" in eine "angstvolle Ich-Auflösung" um, wodurch die lichtvolle Visionswelt der non-ordinary reality umkippt in eine von Angst diktierte Wahnwelt mit tödlichen Dissoziationen. Die Himmelfahrt wird zum Höllenritt. Was Phaeton widerfährt, ist aus sog. bad trips bekannt (nach A. Dittrich 1985).

Für die Phaeton-Fahrt blieben so für Ovid zwei alltagsnahe und literarisch vorgearbeitete Bildszenen übrig: das Durchgehen des Vierergespanns eines Kampfwagens, wenn der Lenker die Kontrolle verliert; und das steuerlose Geworfensein eines Schiffes im Orkan und der Wut der Wellen. Diese Bilder setzt er in extenso ein. Das ist ein immer und überall wiederkehrendes Verfahren: für etwas Unbekanntes und technisch Unbewältigtes das Sprachmaterial zu verwenden, das aus älteren Techniken her vertraut ist. So bilden bis heute, und verstärkt seit den ersten Aufstiegen der Aerostaten 1783, die 'Wagen-' bzw. 'Schiffsfahrt' die semantischen Kerne des Fliegens: Luft- und Raumschiff, Luft- und Raumfahrt, Aeronautik, Luftschwimmkunst, Raumnavigation, Luftwagen/ -kutsche, Luftmeer, Luftfuhrwerk, Luftreise u.ä.m. (vgl. dazu Helmut Reinecke 1988). Wie auch sollte Ovid anders verfahren? Aufschlußreich jedoch ist, daß er sowohl die semantische Nähe zum Luftkampf meidet (zu Bellephoron, Perseus und damit indirekt zu Zeus) wie zu Daedalus, dem Mimeten des Vogelflugs. Auch die mystische Seelenreise bildet kein Vorbild. Denn im Phaeton-Mythos geht es weder um das Element der Luft, noch um Kampf, noch um religiöse Elevationen. Aufschlußreich sind die Namen der Sonnenpferde: Pyrois, Aethon, Eous, Phlegon. Sie unterbinden die Beziehung auf 'Flügelroß'; es sind Feuer- und Lichtnamen; Sol nennt die Pferde die feuerfüßigen (Met.II,392.). Diese Pferde sind reine Feuerenergie, jene unvorstellbare Kraft, welche die Sonne zieht. Die erste Verbrennungsmaschine.

Mit staunenswerter Genauigkeit schildert Ovid die psychischen und physischen Effekte des Erhabenen: sie sind Wirkungen des immensen Raumes in Höhe und Tiefe, der rasenden Geschwindigkeit, der übermächtigen Energie – dessen also, was Kant das Mathematisch–Erhabene und das Dynamisch-Erhabene nennt. Dabei drohen die äshetische Größenschätzung und/oder die physische Widerstandskraft zusammenzubrechen. Die subjektiven Folgen davon werden von Ovid aufs klarste erfaßt: der berühmte Drehschwindel, die Angst des Höhen- oder Tiefenblicks, Fallangst, Beben des Herzens, Zittern der Knie, Augenschwärze, Verwirrung der Richtungen und Bewegungen, Verlust des Standortgefühls, der räumlichen Orientierung und Koordination, Wahrnehmungsanomie, Sinnenwirbel, überschwemmende Angstvisionen, Panik und schließlich Sturz (Met.II, 63–87, 178–207, 227–234, 319–324). Bedeutsam ist, daß Ovid Phaeton und Sol von diesen Effekten ergriffen schildert, doch Gott und Mensch an genau jener Grenze trennt, wo der eine dem Naturerhabenen standzuhalten vermag, dem anderen über es Herr zu werden nicht gelingt. Mit dieser Scheidung innerhalb der Sphäre des Erhabenen restituiert Ovid die Trennung von Göttern und Menschen, die Ordnung des Kosmos mithin, noch bevor diese, nach der Feuerkatastrophe, real wiederhergestellt wird.

In diesem Zusammenhang ist aufschlußreich, daß Prometheus in Aischylos' Tragödie den Menschen zuerst Zahl und Schrift, Erinnerung und Synthesis, Mantik und Hermeneutik schenkt – mentale Fertigkeiten der kognitiven Distanzherstellung vor überwältigender Natur, dann aber deren praktische Anwendung, wie Zeitmessung, Agrikultur, Wetterkunde, Schiffahrt, Medizin, Metallurgie. Im Verhältnis zu diesen 'prometheischen' Techniken verfügt Phaeton weder über Erkenntnisdistanz noch über praktische Vermögen. Wenn er also weder heliad noch prometheisch noch daedalisch ist – was ist er dann?

Die Antwort liegt in der Rede der Alma Tellus. Als bereits alle Gebirge der bekannten Welt in Flammen stehen, die Städte verbrennen, Menschen, Tiere und Wälder veraschen, alle Flüsse verdampft sind, die Erde bis zum Tartaros aufklafft, das Meer verschwindet – : da erhebt sich, zuletzt, Alma Tellus aus der Tiefe, erdbebenhaft, und läßt ihre heilige Stimme ertönen, Zeus anrufend:

Ist es beschlossen und hab ich's verdient, was zögert dein Blitz,

o höchster der Götter? Laß die durch Feuer zu enden Bestimmte

enden durch Deines, damit des Todes Vollstrecker sie tröste. (Met.II, 279–281)

Damit bestätigt Tellus die stoische wie epikureische Lehre von der Ekpyrosis als universelles Gesetz. Und wünscht sich von Zeus zur Abkürzung des terrestrischen Leidens den schnellen Tod durch Blitz. Ein Blitz, der die Erde vernichtet! Eine Supernova. – Lukrez, vor dem Hintergrund seiner politischen Erfahrungen, faßt die Ekpyrosis als allgemeinen Bürgerkrieg der Natur (De rer.nat. V,380ff). Bei ihm ist nach wogender Schlacht der Elemente das Ende der Natur: Sturz in das Tor des Todes, der ein wüster, unendlicher Schlund ist, ein Schwarzes Loch, in welches nach Verglühen alles Brennbaren schließlich die moenia mundi stürzen (De rer.nat.3364ff). Ist bei Ovid diese Stunde jetzt da? – Tellus klagt, sorgt, (und droht am Ende):

Diesen Ertrag und Lohn meiner Fruchtbarkeit, all meiner Dienste

ernt' ich von dir, daß Wunden ich dulde vom Karst, von des Pfluges

Kralle und durch den Lauf des ganzen Jahres geplagt bin,

daß ich dem Vieh sein Laub, dem Menschengeschlechte zu milder,

Nahrung die Früchte des Feldes und Euch den Weihrauch ich biete?

Sollt' aber ich verschulden mein End, was verschulden die Wellen?

Was der Bruder? Warum versiegen die Fluten, die einst das

Los ihm zum Anteil gab, und sind entfernter vom Äther?

Läßt du dich aber dem Bruder und mir zuliebe nicht rühren,

d e i n e s Himmels erbarme dich dann! Blick hin nach den beiden

Polen - ein jeder raucht! Bringt sie das Feuer zu Schaden,

stürzen auch euere Hallen. Und sieh, wie Atlas sich quält und

kaum auf der Schulter mehr erträgt die glühende Achse.

Geht die Erde, das Meer, die Burg des Himmels zugrunde,

quirlt's uns ins alte Chaos zurück. Entreiße den Flammen,

was da etwa noch blieb. Schaff Rat, hier geht es um alles! (Met. II,285–300)

Obwohl Terra längst nicht mehr Boden chthonischen Aufruhrs, sondern nutrix der Lebewesen ist, duldend die Verletzungen ihres Leibes durch (Agri-)Kultur, glaubt sie zunächst im Hesiodschen Schema die Fortsetzung der alten Kämpfe zu erleiden. Dann spricht sie dem Sinn nach wie Anaximander, wonach das Entstehen und Vergehen im Apeiron nach der Ordnung wechselseitiger Verflechtung von Schuld und Strafe bestimmt seien (Diels/Kranz 12 A9, B1). Wohl akzeptierte sie ihren eigenen Untergang – doch warum muß das Wasser sterben? Jetzt aber, im Blick auf die brennenden Pole und den drohenden Kollaps des axis mundi, warnt sie, daß damit alles – jene Schöpfungstrias Erde, Meer und Himmel (Jupiter selbst!) – zusammenbräche und im Enden der opus distinctionis das Chaos wiederkehrte (W.v.Engelhardt , 1979, S. 161–199; 1970, S.459–475).

Daraufhin schießt Jupiter Phaeton ab, der als schöner Meteor zur Erde stürzt und im Po beerdigt wird. Einen Tag bleibt der Himmel schwarz, weil Sol sich weigert aufzugehen – im Zorn über Jupiter und in Trauer um den Sohn. Ohne Zweifel ist dies eine Kritik daran, daß Jupiter, so wie seine Liebe durchweg vergewaltigend ist, Recht (Ordnung) immer nur herstellen kann durch Unrecht.

In zorniger Trauer demütigt Helios am Ende Jupiter, der übereilt ein Versagen mit dem Tode bestrafe, das Jupiter selbst genauso unvermeidlich widerfahren wäre. – In diesem Kontext ist aufschlußreich, daß Hygin (Fabulae 152a) die Phaeton-Sage mit der Sintflut-Geschichte so verbindet, daß Zeus den Erdbrand dazu ausnutzt, eine riesige Überflutung anzurichten, vorgeblich, um den Brand zu löschen, in Wahrheit, um das Menschengeschlecht auszurotten.

Bemerkenswert ist, daß Terra in ihrer Rede eine Art Grundsolidarität des Kosmos einklagt, ja, sie repräsentiert. Sie erneut leitet die Wende zur Rettung ein. Keineswegs nämlich geht es um das im Unbestimmten (Apeiron) verborgene Fatum von Werden und Vergehen. Es geht nur und allein um Katastrophen der Willkür: das ist die Ovidsche, die moderne Pointe. Und wieder liegt das Rettende auf tellurischer Linie. Vielleicht, daß im kosmologischen Gesamtrahmen das Feuer (die Energie) die geheimnisvolle Mechanik von Werden und Vergehen bestimmt. Ovid aber will sagen: im Meso-Raum des Lebendigen ist die Erde diejenige, auf die hin das Zusammenspiel der Elemente organisiert ist und gewahrt werden muß. Das wiederholt die Lehre der Deukalionischen Flut. Und das schließt eine bestimmte Selbst-Plazierung des Erdvolkes, wie Aischylos sagt, ein.

Ein letztes Mal werden wir damit wir zurückgelenkt auf Phaeton und Prometheus. Repräsentiert dieser die Erde, jener das Feuer, oder auch: dieser die schweren, jener die leichten Elemente, so gilt es abschließend zu verstehen, welche Typologie darin beschlossen ist.

Über Phaeton liegt von Beginn an eine unaufhebbare Einsamkeit. Es ist das Einsame des Narcissus, dessen Mythe Ovid zu einer vollendeten Studie über den Narzißmus werden läßt (Met. III,347–512). Beiden eignet die verzehrende Sehnsucht nach dem, was in höchster Erhebung und vollendeter Verklärung sie selbst sind. Daß Phaeton nichts sieht, liegt daran, daß er nur sich selbst sieht (doch sich nur imaginär): das macht ihn zum Bruder des sich spiegelnden Narcissus. Beide sind radikal selbstbezüglich, ihr Wünschen ist objektlos. Sie sind ekstatisch darin, daß über sich hinaus sie sich in ein grandioses, völlig selbstgenügsames und ambivalenzfreies Ideal-Ich (Größen-Selbst) sehnen. Das ist das Feuer: immer im Überstieg, verzehrt es sich selbst. Was nur Flamme ist, wird ganz Asche. Klassisch erfüllt Phaeton das narzißtische Syndrom: 'Du, Helios, bist das Ganze, Hohe, Unsterbliche. Und ich bin ein Teil von dir. Laß mich sein, was du bist.' Und klassisch erfüllt Prometheus das ödipale Schema: 'Du, Zeus, bist das Ganze. Das Ganze ist das Ungerechte. Ich schließe mich von dir aus. Was du bist, verachte ich. Was ich bin, kannst du nicht sein.' Die Objektbeziehungen des Prometheus sind also aus Rivalitätskonflikten geboren und um Abgrenzung und autonome Selbsterhaltung bemüht. Der eine sucht, der andere haßt den Vater. Zielt Phaetons Sehnsucht auf leidenslose Verschmelzung mit dem Göttlichen, so gilt die Sehnsucht des Prometheus der Gemeinschaft mit dem leidenden Erdvolk. Brennt Phaeton nach Erhebung übers Irdische, geht es Prometheus um die freiwillige Erniedrigung des Göttlichen. Erliegt Phaeton den Phantomen der Einbildungskraft, so Prometheus dem Kalkül seiner Verstandeskraft. Sucht der eine ein entgrenztes Größen-Ich, so der andere ein vergemeindetes Grenz-Ich. Ist Phaeton das Opfer des narzißtischen Glanzes umfassender Einheit, wird Prometheus zum Opfer unaufhebbarer Entzweiung. Will jener das ewige Ganze, so dieser das im Vergänglichen Getrennte. Glüht Phaeton nach dem Unvorstellbaren, so organisiert Prometheus das Überschaubare.

Dieser Gegensatz wiederholt sich auch im Unterschied der 'Technikformen'. Scheitert Phaeton an der Eroberung des Himmels, so Prometheus an der Verheimatung der Erde. Über das Feuer Herr zu werden, heißt die Gesetze der Natur, der Energie, der Zeit, heißt also das Ganze der Natur beherrschen wollen. Darin lodert nach Ovid ein rauschhaft-megalomanisches Verlangen, rücksichtslos, kommunikationsunfähig, absolut, ohne Blick für sich und andere. Die 'Technik' des Phaetons steht im Dienst der Selbsterhöhung. Weil sie ihrer (selbst-)destruktiven Dynamik nicht inne ist, wird sie hybrid und geht in einem entfesselten Rausch der Zerstörung unter. Phaeton ist der "Zauberlehrling" (Goethe), der die Mittel nicht zu beherrschen weiß, die er mobilisiert. Das Ungeheure des Ovidschen Textes ist, daß er die Dynamik des Wunsches, unsterblich, erhaben, göttlich, omnipotent sein zu wollen, aus alltagsnaher Situationen entstehen läßt und bis an die Grenze führt, wo absehbar wird: in einer narzißtisch angetriebenen Technik steckt eine aggressive, ungebändigte Energie, die im Mangel, sich selbst begreifen und begrenzen zu können, die Natur im Größenraum der Erde zu zerstören vermag. Nichts hat dies mit der listigen, bedachten, vorausschauend-planende Art des didáskalos téchnes páses zu tun, der im Lebensinteresse der Gattung die Felder dessen entwirft, was tun man kann, und nicht etwa zu wollen, was tun man nicht kann. Darum benutzt Günther Anders für das richtig erkannte Phänomen der "prometheischen Scham" und des "prometheischen Gefälles" den falschen Ausdruck. Anders meint damit, daß wir uns heute nicht mehr vorstellen, in seinen Folgen übersehen und beurteilen können, was wir technisch realisieren; und daß die Perfektion der Geräte den imperfekten Menschen zunehmend beschämen. Damit ist die Lage Phaetons, nicht des Prometheus beschrieben. Phaeton entgleitet die Steuerung über den Sonnenwagen, wie uns die über die Technientwicklung. In der Phaetonschen Technik brennt der Wille nach Unendlichkeit, Unsterblichkeit, Überschreitung des Menschlichen. Auf dieser Linie entstehen die grandiosen technischen Welten, die den armseligen Menschen beschämen. Und entstehen die erhabenen Energiepotentiale, welche die Ekpyrosis der blinden Natur entreißen und in die Verfügung des Menschen stellen. Das Projekt der prometheischen Technik, insofern sie ein Erzeugnis gerade eines Vorgangs der Ent-Göttlichung ist, hat dagegen seinen Kern im Mythos des Philanthropos, der in freier Anerkenntnis der terrestrischen Grenzen dem entzweiten und leidenden Geschlecht zur Verheimatung der Erde verhelfen möchte. Unversöhnt mit den Göttern, betreibt er die Versöhnung mit einer Erde, die anders als im Medium der Kultur für uns nicht bewohnbar werden kann. Prometheus, der Gaia-Enkel, Themis-Sohn und Feuer-Dieb, ist die mythische Figur der notwendigen Verklammerung zwischen der Erde als Lebensraum, der Rechtsordnung und der technischer Zivilisation.

Es ist Zeichen des Ovid'schen Humanismus, daß er die Phaeton-Mythe nicht wie z.B. nach ihm Nonnos (Dionysiaka Libr. 38, 105–434) moralisiert. Ovid beendet seine Erzählung mit den beschämten Olympiern, dem trauernden Vater, der schmerzvoll das Erdenrund durcheilenden Mutter, die tränenüberströmt aufs endlich gefundene Grab des Sohnes sich wirft, mit ihrer offenen Brust es wärmend, und den in ihrer Trauergebärde verwandelten Schwestern und dem König Cygnus. Noch der Grabspruch qualifiziert Phaeton als groß. Ovid schließt damit den Abgestürzten in eine Trauer ein, die, hiernach, etwa auch den Piloten des Challenger-Absturzes gelten kann, so unsinnig vermutlich ihr Unternehmen war. Dabei geht es nicht um 'Heldengedenktag'. Von Ovid her, seiner Anthropologie, gehört das Feuer zur Natur des Menschen. Das unbändige Verlangen, sich zu erheben, zu fliegen, das Licht und das Göttliche zu erreichen, unsterblich sein zu wollen, die Natur zu regieren –: es findet in der Jugendflamme Phaetons seinen archetypischen Ausdruck, so wie Prometheus die einzigartige Gestalt des leidensfähigen und erfindungsreichen Menschen ist, der um einen freilich fürchterlichen Preis das göttliche Feuer zu vermenschlichen verstand. Den Göttern sich verwandt zu wissen, doch von ihnen getrennt zu sein, ist ein schweres Erbe, das die Religionen uns hinterlassen haben. Die Antike hat darum das, was den Menschen von den übrigen Lebewesen zu unterscheiden scheint, Seele und Geist, mit den Qualitäten des Feuers belegt: denn Tiere sind feuerlos. So ist die Seele Feuerseele, der Geist Licht. Dies nicht sein zu wollen, hieße nicht Mensch zu sein. Nur dies sein zu wollen, hieße Gott. Schwer ist dazwischen die Balance, die Mitte zu halten, wie die Väter Sol und Daedalus wohl wissen. Und weil dies so schwer und vielleicht sogar zu schwer ist, wäre es vermessen, die Phaeton-Mythe zu moralisieren. Zu brüderlich ist er ihm, als daß Ovid nicht die Trauer um Phaeton nähergelegen hätte.

Bibliographische Hinweise:

Hermann Argelander: Der Flieger. Eine charakteranalytische Fallstudie. Frankfurt/M. 1972

Michael Balint: Angstlust und Regression. Ein Beitrag zur psychologischen Typenlehre. Stuttgart 1960.

Wolfgang Behringer/ Constance Ott-Koptschalijski: Der Traum vom Fliegen. Zwischen Mythos und Technik. Frankfurt/M. 1991

A. Dittrich: Ätiologie-unabhängige Strukturen veränderter Wachbewußtseinszustände. Stuttgart 1985

Wolf von Engelhardt: Phaetons Sturz – ein Naturereignis? In: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathemat.-naturwiss. Klasse, Jg. 1979, Berlin Heidelberg New York 1979, S. 161—199.

Wolf von Engelhardt: Der vom Himmel gefallene Stern: Zu Vergil, Aeneis II 692–700.In: FS Wolfgang Schadewaldt. Hg. v. K. Gaiser. Stuttgart Berlin Köln Mainz 1970, S. 459—475.

Jan Kott: Gott Essen. Interpretationen griechischer Tragödien. München 1975.

Horst Eberhard Richter: Der Gottes-Komplex. Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen. Reinbek b. Hamburg 1979.

Helmut Reinecke: Aufstieg und Revolution. Über die Beförderung irdischer Freiheitsneigungen durch Ballonfahrt und Luftschwimmkunst. Berlin 1988.

Wolfgang Sachs: Satellitenblick. Die Visualisierung der Erde im Zuge der Weltraumfahrt. In: Internationale Gesellschaft der bildenden Künste (Hg.): Terre - Erde - Tierra - Earth. [= Textband zur Dokumentation von Arbeiten europäischer bildender Künstler zur Ausschreibung der IGBK, AIAP, IAA im Sommer 1992] Hamburg, 1992.

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