In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. II; Berlin New York 2000, S. 356-359.

Hartmut Böhme

Kulturwissenschaft.

Kulturwissenschaft erforscht die von Menschen hervorgebrachten, sozialen wie technischen Einrichtungen, die zwischen Menschen gebildeten Handlungs- und Konfliktformen sowie deren Werte- und Normenhorizonte, insbesondere insoweit diese zu ihrer Konstitution, Tradierung und Entwicklung besonderer Ebenen der symbolischen und medialen Vermittlung bedürfen.

Explikation

Im Plural verwendet bezeichnen Kulturwissenschaften das Ensemble der Fächer der Philosophischen Fakultät; oder sie werden synonym mit den 'Geisteswissenschaften' verwendet. Davon ist das Fach Kulturwissenschaft zu unterscheiden, das eine disziplinäre Identität mit theoretischen Optionen, Fragestellungen, Verfahren sowie eigenem Gegenstandsfeld aufweist.

Die Kulturwissenschaften befassen sich "mit Kultur als dem Inbegriff aller menschlichen Arbeit und Lebensformen, einschließlich naturwissenschaftlicher Entwicklungen" und analysieren, deuten und erklären mithin "die kulturelle Form der Welt" (Frühwald u.a. 1991). Dieser Ensemble-Begriff dient dem Ziel, die Fächer der philosophischen Fakultät aus der geistphilosophischen Tradition deutscher Prägung zu lösen und entsprechend den Anforderungen der Globalisierung und Technisierung der Gesellschaften zu modernisieren.

Das Fach Kulturwissenschaft hat Teil an dem Prozeß, wonach die Kulturwissenschaften insgesamt sich nicht mehr transzendental begründen können, sondern ihre Identität wissenschaftsgeschichtlich gewinnen oder sich sogar als Teilmoment ihner Gegenstandes, des Kulturprozesses nämlich, bestimmen müssen. Die Kultur ist das Objekt einer Wissenschaft, die ihrerseits ein Teil desselben ist. Hieraus entspringt die Figur der Selbstreflexivität, wonach 'die Kultur' die von theoretischen Vorannahmen her konstruierte Objektebene ist und zugleich die letzte Metaebene, innerhalb derer sich die Kulturwissenschaft bestimmt.

Der moderne Begriff von Kultur bezeichnet keine besondere Kultur, sondern ein Verfahren (zweiter Ordnung), durch das die kulturellen Praktiken erster Ordnung beobachtet, analysiert, interpretiert, verglichen, relativiert und reflektiert werden - und die Theoretiker sich selbst reflektieren: diese Rekursivität der Kultur prägt die moderne Kulturwissenschaft, die sie sich seit etwa 1900 ausbildet. Da es nicht die Kultur, sondern nur viele Kulturen gibt, ist die Kulturwissenschaft insbesondere mit der Geschichte und Gegenwart der multi- und interkulturellen Interferenzen konfrontiert.

Die Wissenschaft der Kultur beruht auch auf der historischen Semantik dessen, was in unterschiedlichen Gesellschaften unter 'Kultur' verstanden wurde. Weil der Terminus 'Kultur' die archivierten Momente der Selbstauslegung von Gesellschaften enthält, führt die historische Semantik in die autoreflexiven Momente der Kulturwissenschaft ein, welche selbst eine Form der Selbstreflexion der Gesellschaft darstellt. So nimmt die Kulturwissenschaft die semantischen Potentiale der Kultur ebenso auf wie die historischen Spuren der Kulturkritik. Dies unterscheidet die Kulturwissenschaft von etablierten Geisteswissenschaften, die den Kontakt zu jener Tradition weitgehend verloren haben, die R. Koselleck als den Zusammenhang von "Kritik und Krise" beschrieben hat.

Wort- und Begriffsgeschichte

Kultur' enthält die lateinischen Wurzeln von colere, cultus, cultura, colonia etc. Gemeint sind damit Einrichtungen, Handlungen, Prozesse und symbolischen Formen, welche mithilfe von planmäßigen Techniken die 'vorfindliche Natur' in einen sozialen Lebensraum transformieren, diesen erhalten und meliorisieren, die dazu erforderlichen Fertigkeiten (Kulturtechniken, Wissen) pflegen und entwickeln, sowie das dabei Hochgeschätzte (die Wertebene) in besonderen Riten begehen und befestigen (Religion, Feste, Pädagogik...) und insofern soziale Ordnungen und kommunikative Symbolwelten schaffen, welche kommunitären Gebilden Dauer verschaffen.

Diesem semantischen Grundriß von cultura liegt die griechische Differenzierung dessen zugrunde, was von sich aus da ist und sich erhält (physis), im Gegensatz zu dem, was durch 'technische' Investition sein Dasein verdankt (techné). Es ist dies die Dichotomie von 'Natur' und 'Kultur'. Schon in der Antike ist umstritten, ob 'Natur' dasjenige ist, was von sich aus Ordnung zeigt und darum ein 'Vorbild' für nachahmende Anstrengung abgibt (wie es Platon und die Stoiker sehen), oder ob die Natur das Chaotische und Zufällige darstellt (wie es Hesiod, die Atomisten oder die Epikureer sehen). Kulturtheoretisch ist relevant, daß 'Kultur' ein gemeinschaftsstiftender Ordnungsmechanismus ist, der räumliche Ständigkeit und zeitliche Stetigkeit sichert: dies ist das produktive wie konservative Moment von 'Kultur'. Ihr entgegengesetzt ist das Chaos, die Wildnis, das Unstete und Unständige, das Ephemere, das Gedächtnislose, das Ungebildete und Unbebaute, das Ungehörige und Unzugehörige (Fremde). An diesen Negativa erkennt man die Positiva, welche 'Kultur' ausmachen. Für die antiken wie christlichen Gesellschaften ist der Kultur das 'Barbarische' entgegengesetzt. Davon durch 'Grenzen' getrennt zu sein, stellt einen konstitutiven Akt von Kultivierung dar. Bezogen auf die materielle Kultur hat Plinius d.Ä. diesen Gegensatz als den von terrenus (zum Erdreich gehörig) und factitius (künstlich Hergestelltes) bestimmt. Diesen Gegensatz werthierarchisch oder analytisch zu verwenden, entscheidet darüber, ob Natur und Kultur als Sphären objektiven Wissens oder als Quellen wertbezogener Kritik verstanden werden - letzteres in der doppelten Richtung: 1. Kritik der Natur als bedrohliches Chaos vom Standpunkt höherwertiger Kultur; oder 2. Kritik der Kultur als anomisch, dekadent, ungerecht, repressiv in Namen einer harmonischen, freien Natur. Diese Muster präformieren die spätere Kulturkritik.

Im lateinischen Raum wird über die Agrikultur hinaus cultura auch auf die persönliche Kultur von Individuen oder die Kultur von Zeiten oder Gemeinschaften angewendet. Die wirkungsvolle Formel Ciceros von cultura animi heißt der Sache nach das, was bei den Griechen paideia bezeichnet: die Pflege und das Gepflegte des Menschen. Damit wird neben 'Kultur' als "Sachkultur" bereits die "Kultur der Persönlichkeit" bewußt. Ersteres meint neben Landbau auch Städtebau, Recht, Lebensbequemlichkeiten; letzteres Moralität, Sitten, milde Gesinnung, Lebensart, Gepflegtheit, Bildung. Beides sind Sphären, durch die der Mensch sich von Tieren wie Barbaren unterscheidet. Doch bleibt der Zusammenhang mit Agrikultur lange erhalten, so spricht z. B. Francis Bacon von georgica animi. Der cultura-Begriff wurde von der 'Bearbeitung der äußeren Natur' auf diejenige der 'inneren Natur' übertragen.

Schon im Mittelalter setzte eine Differenzierung ein, an deren Ende Naturwissenschaften und Technik sich als neuer Faktor der Kulturentwicklung etabliert hatten, während die artes liberales in Künsten und Kunstkritik ihre Nachfolger fanden. Diese Trennung in "zwei Kulturen" (C.P. Snow) folgte der Ausdifferenzierung der Wissenskultur, die zur Gründung des modernen Universitätssystems führte. Das Entstehen der "zwei Kulturen" verdeutlicht, daß die Natur nicht als ontologische "Wirklichkeit" gelten kann. Immer sind es kulturelle Konstruktionsformen, welche Zugänge zur Natur eröffnen. Diese Erkenntnis verändert die Sicht auf frühere Epochen, deren essentialistisches Naturverständnis einen Gegenpol zum Kulturkonzept bildete. Doch haben zu keiner Zeit Menschen unmittelbar zur Natur gelebt. Alle Konzepte von Natur und alle praktischen Auseinandersetzungsformen mit ihr sind ein Reflex geschichtlicher Kultur.

Darin spiegelt sich das Reflexivwerden von Kultur und Natur in der Neuzeit: es gibt nur ein Apriori - und das ist das historische Apriori der Kultur. Dies meint die Formel E. Cassirers: "Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur." Mensch sein heißt unter den Bedingungen der Möglichkeit von Kultur leben. Kulturtheoretisch ist 'die Natur' ein Grenzbegriff; hingegen gibt es keine Form der Kultur, welche die 'Natur an sich' präsentieren würde.

Die höhere Komplexität der neuzeitlichen Gesellschaften folgten einer offenen, kompetetiven, ökonomischen und politischen Dynamik, die zwei neuen Formen von Kulturkritik hervorbrachte: die intellektuelle Kulturkritik, wie sie von Rousseau geprägt wurde, und die Kritik der sozialen Bewegungen, vornehmlich des Industrieproletariats seit dem 19. Jahrhundert. Zugleich entstand der bildungsbürgerliche Kulturbegriff, der die 'Kultur' zur Distinktion der eigenen Schicht benutzte, zugleich aber universalisierte.

Auch das wissenschaftliche Verhältnis zur 'Welt' befindet sich nicht außerhalb, sondern innerhalb der kulturellen Welt. Von einer Welt unter Abzug des Menschen haben wir keine Erkenntnisse. Dieses 'Nec-plus-Ultra' der Kultur einzusehen, bedurfte es vieler Jahrhunderte. Auch die "New Sciences" bedurften der Erschütterung ihrer 'Natürlichkeit', der Einsicht nämlich, daß sie Konstruktionen sind. Noch Kant begründete die Naturwissenschaft transzendental, d.h. als geschichtslose Erkenntnisform. Cassirer dagegen analysierte, nach den Erschütterungen der Newtonschen Physik, auch die Naturwissenschaften als "symbolische Form", d.h. als Kultur. Erst im 20. Jahrhundert also, in welchem sich das Problem der Natur verschärfte, nämlich als ökologisches, wurde bewußt, daß 'die Natur' ein Kulturproblem darstellt. Seither gehört die Erforschung der Geschichte der Natur zur Kulturwissenschaft.

Sachgeschichte

In der Aufklärung wurden die Grundlagen der kulturwissenschaftlichen Anthropologie gelegt: das Prinzip "the proper study of man is man" (A. Pope) leitete die Anthropologie an, welche von der Medizin über die Psychologie und Philosophie bis zur Erforschung der Sitten und Gebräuche und zu den Religions- und Ritualformen (Ethnologie) reichte. Hier liegen die Wurzeln der Kulturkomparatistik sowie der Theorien von kulturellen Dynamiken und des Weltbildwandels (G. Vico, J.M. Chladenius und J.G. Herder): dies sind wesentliche Momente der Kulturwissenschaft noch im 20. Jahrhundert. Zwischen Samuel Pufendorf und Herder entwickelte sich die Einsicht, daß 'Kultur' ergologisch (eine Welt künstlicher Objekte), soziativ (eine Welt sozialer Handlungsformen, Normen und Werte), sowie temporal-historisch sei (eine Welt der Kontingenz).

Bereits hundert Jahre vor Herder hatte Pufendorf cultura ohne Genetiv verwendet und damit den Prozeß eingeleitet, der zur Bildung des "Kollektivsingulars" Kultur führte (R. Koselleck). Darin liegt einerseits eine unzulässige Abstraktion, weil von der unhintergehbaren Pluralität der Kulturen abgesehen wird. Andererseits kann man dies eine epochale Wendung zur Moderne nennen, mit der, nach N. Luhmann, erst in vollem Sinn 'Kultur' vorliegt. Kultur bezeichnet nicht mehr nur Gegenstände der Beobachtung, sondern die Formen und Perspektiven, welche eine Gesellschaft zur Beobachtung von Beobachtern (Experten zweiter Stufe) ausgebildet hat. Dieser Prozeß macht einerseits den Begriff der Kultur zunehmend abstrakt, allgemein und universalistisch, andererseits bezeichnet er das Reflexivwerden substantieller Formen von Gesellschaft. Alle essentialistischen Formen von Kultur lösen sich auf - ein Vorgang, der bis heute anhält. Kultur ist der Begriff, durch den alles als kontingent dekonstruiert wird - aber auch alles (re)konstruierbar wird. Dadurch erst wird Kulturwissenschaft möglich.

In der Verwissenschaftlichung der Kultur(en) vollendet sich, was im 18. Jahrhundert mit der Zunahme von Beobachtungshorizonten, der Aufmerksamkeit für Sprache, für Transzendentalität und Konstruktion, für Metatheorie und Ironie (Romantik) auf breiter Front begann. Erst jetzt kann man eigentlich von Kultur sprechen.

Bis dahin war man kultiviert - hatte einen Stil, eine Manier, eine Etikette -; von nun an gilt: man mag noch so kultiviert sein, aber Kultur zu haben, heißt jene Ebene ins Spiel zu bringen, durch die das Kultivierte in reflektierte Vergleichsbeziehungen zu anderen Kultiviertheiten gesetzt wird. Kultur ist dann die Perspektive, die für die Beobachtung von 'Kulturen' im Plural entwickelt wird. Dies definiert Kulturwissenschaft.

Damit ist das Ende des Paragone der Kulturen erreicht. An dessen Stelle setzt sich das Historisierende und Vergleichende - das heißt die Analyse der Verfahren der Kulturerzeugung selbst. Dadurch wird einerseits alles zur Kultur (Verhalten, Autofahren, Religionen, Verfassung, Chemie, Oper, Alltagsriten, Krankheiten) und Kultur unerträglich entgrenzt. Andererseits ist Kultur nicht mehr eine Quiditas, sondern die Metaebene von Beobachtung. Bereits in den Jahren zwischen Kant und der Romantik kommt die Reflexion der Reflexion auf (ästhetisch: die Ironie). Das begleitet den Aufstieg des 'genetivlosen' Kulturbegriffs und seine funktionalistische, komparative Operationalität. Alles geht weiter, das Handeln, Glauben, Ritualisieren, Hochhalten und Wertschätzen, Stilisieren und Inszenieren; doch es geht weiter nur unter den Bedingungen der Selbstreflexion. Das Kultivierte erster Ordnung ist das Kontingente, das in der Kulturwissenschaft (Kultur zweiter Ordnung) reflektiert wird.

Auf der Linie von I. Kant "Anthropologie" ist Kulturwissenschaft die Analyse und Erklärung der historischen, materiellen und symbolischen Standards von Vermögen und Fertigkeiten aller Art. Sie hat keine innere moralische Bestimmung, sondern ist nur deren Bedingung. Kultur ist bei Kant nicht mit der Idee (ethischer) Bildung verbunden, sondern bezeichnet, ähnlich wie der Begriff in England und Frankreich verwendet wird, den Stand von Künsten, Handwerken, Wissenschaften, Praktiken, Einrichtungen - diese wären, nach N. Luhmann, Beobachtungen erster Ordnung. Und Kultur differenziert, ihrem konstruktiven Charakter entsprechend, zugleich eine Reflexionsebene aus: die Beobachtung zweiter Ordnung. Ein Teil derselben stellen, neben den Künsten, die Kulturwisenschaften dar.

Forschungsgeschichte und Gegenstandsfelder

Die aktuelle Diskussion über Kulturwissenschaft ist vielfach dokumentiert; ihre Geschichte seit 1880 wird aufgearbeitet; die Ausdifferenzierung des Kulturbegriffs ist weitgehend rekonstriert worden (s. Bibliographie). Damit sind Voraussetzungen für den Neuaufbau der Kulturwissenschaft geleistet. Sie ist zu trennen vom Rahmenbegriff, der namenspolitisch an die Stelle der Geisteswissenschaft tritt.

In ihr wurden kulturelle Gegenstände als Objektivationen des Geistes hermeneutisch ausgelegt und in einem Prozeß der Selbstentfaltung des Geistes positioniert. Diese Tradition wird mit dem Namen Wilhelm Dilthey verbunden. Sie bestimmt die geisteswissenschaftliche Wende der Philosophischen Fakultät im ersten Jahrhundertdrittel.

Das seit 1980 mobilisierte Konzept der Kulturwissenschaften streift diese geistphilosophischen Traditionen ab, indem kulturelle Gegenstände als materielle und symbolische Praktiken - und nicht als Geistzeugnisse - bestimmt werden. Dadurch wird die Möglichkeit geschaffen, nicht nur schrift- und bildhermeneutische, sondern ebenso faktographische, struktur- und sozialgeschichtliche, funktionalistische und systemische Verfahren zu etablieren. Diese Transformation der Geisteswissenschaften vollzieht 1) methodologische Entwicklungen der Einzeldisziplinen nach, schließt 2) die Fächer der Philosophischen Fakultät an die Internationalisierung des Wissenschaften an (Beendigung des deutschen Sonderwegs der Geisteswissenschaften) und versucht 3) dringliche Modernisierungen der Fächer zu begünstigen, welche sich als Herausforderungen aus der Globalisierung und Interkulturalität, der Medien- und Kommunikationsentwicklung sowie der Informations- und Wissenskulturen ergeben.

Kulturwissenschaft gehört in diesen Prozeß der Reform der Geisteswissenschaften hinein. Zwischen 1980 und 1997 sind vielfältige Versuche unternommen worden, Kulturwissenschaft als Forschungsparadigma, als Einzelwissenschaft oder als Studiengang zu etablieren. Darunter verbirgt sich ein heterogenes Feld von Ansätzen. Auffällig ist, daß an der Begründung der Kulturwissenschaft eine Reihe von Fächern beteiligt sind - wie die Germanistik, Philosophie, Ethnologie, Historie, Kunstgeschichte u.a. Einflußreich sind die internationalen Kontexte wie die französische Annales-Schule, die angloamerikanische Cultural Studies, Cultural Anthropology, Poststrukturalismus, Visual and Performance Studies, Dekonstruktion und der New Historicism.

Neugründungen von Disziplinen sind wissenschaftsgeschichtlich normal und besonders in Gesellschaften mit starkem Dynamisierungsdruck der wahrscheinliche Fall. Die Erstarrung des Fächer-Kanons ist ein Indiz, daß das Wissens-System den Standard von Modernität und Reflexivität, Verzeitlichung und Innovation unterboten hat. Daraus erwächst Kulturwissenschaft als Modernisierungsstrategie. In der Wissenschaftsgeschichte aber gibt es keine Gründungen ohne Vorgeschichten. Im Fall der Kulturwissenschaft sind dies: das 18. Jahrhundert als protowissenschaftliche Phase historischer Kulturforschung sowie die Welle der Disziplinen-Neugründungen zwischen 1870 und 1914, wozu auch die Kulturwissenschaft gehörte. Die spätere Verdrängung der Kulturwissenschaft durch Geistesgeschichte und Nationalsozialismus wird endgültig zurückgenommen und der Anschluß an globale Entwicklungen in den humanities gewonnen.

In der Diskussion besteht Einigkeit darüber, daß Kulturwissenschaft nur interdisziplinär möglich ist. Doch Interdisziplinarität ist an Disziplinarität gebunden, weil sie sonst ohne spezifisches Gegenstandsfeld und ohne charakteristische Fragestellungen, oder nur als Diskurs-Moderator und Lückenfüller an den Rändern der etablierten Fächer operiert.

Die kulturwissenschaftliche "Grenzerweiterung" führt unstrittig zu einer Entprivilegierung der sog. hohen Kultur. Sie hat die radikale Öffnung des Quellenkorpus zur Folge (besonders in New Historicism und Cultural Studies). Kulturwissenschaft schließt die gesamte visuelle Kultur ein. Neben Bild- und Wortquellen aller qualitativen und medialen Ausdifferenzierung werden auch religiöse, ethnische wie soziale Rituale, Lebenstile, habituelle Muster des Agierens, Objekte materieller Kultur etc. als "gleichberechtigt" anerkannt. Sie zusammen ergeben erst den konstruktiven Rahmen und die Erzeugungsweisen einer Kultur.

Den ältesten Kern der Kulturwissenschaft bildet die historische Anthropologie. Sie hat ihre gegenständlichen Wurzeln im 18. Jahrhundert - in der Gesachichte der Reisen und der Expeditonen als Quelle der Ethnographie und der komparatistischen Völkerkunde, in der Geschichte der Medizin als historischem Zweig der Menschenforschung, die mit den europäischen Literaturen und der Psychologie eine enge Verbindung einging. Aus den Zeremonialwissenschaften, der Physiognomik und der Ausdruckskunde entstand die beobachtende, historische Verhaltenswissenschaft. Nach Jahrhunderten der Unklarheit über die Sex/Gender-Differenzierung ist das 18. Jahrhundert auch der forschungsgeschichtliche Ursprung zur Rekonstruktion einer flüssigen, kulturell kodierten Ordnung der Geschlechter - im Gegensatz zur ihrer pseudonatürlichen Physiologie: die Geschlechterforschung arbeitet noch heute an dieser Ent-Essentialisierung der 'Geschlechter'.

Im Zentrum von Kulturforschung stehen ferner die historischen Medien der Erzeugung von kultureller Kommunikation, von Gedächtnis und Weltwahrnehmung. Orale Formen der kulturellen Reflexion werden ebenso als Medien begriffen wie die ausdifferenzierten Techniken der Schriftkultur und schließlich die Medien des Printsektors, der visuellen Massenmedien und der computergestützten Kultur. Die Bildforschung nimmt einen besonderen Status ein. Die Bild-Künste und die modernen visuellen Medien bilden das Archiv "der historischen Psychologie des menschlichen Ausdrucks" (A. Warburg), der Codierung der Gefühle, der Phantasien und Beziehungsformen. 'Bilder' meinen hier nicht nur Zeugnisse der Bildkünste, sondern auch körperliche Bewegungsfiguren, performative soziale, d.h. relativ stabile, obligatorische Rituale und Habitus, codierte Gestalten der Affekte und des Agierens. Sie alle, weil sie eine epochenspezifische visuelle Semantik aufweisen, sind den historischen Bild-Künsten eher 'abzulesen' als den Schriftzeugnissen einer Kultur.

Die Erforschung des kulturellen Gedächtnisses meint weder Rezeptionsgeschichte noch museale Präsentation oder memoriale Speicherung. Mit Gedächtnis ist der Kulturmechanismus der Selbstbeobachtung von Gesellschaften gemeint: einerseits die Macht von Vergangenheiten an Bruchstellen, in denen 'Neues' entsteht (Schwellenzeiten); andererseits die permanente Neucodierung des Erinnerungshorizonts der Gegenwart. Die Prägnanz von Erinnerung heißt nicht, daß aus dem Gedächtnis ein Wissen abgerufen, sondern daß das Vergangene verkörpert wird (embodiment). Kultur ist "das Gedächtnis sozialer Systeme" (Luhmann), aber nicht in der Form räumlicher Speicher, die zu 'betreten' und zu 'verlassen' wären, sondern eines rekursiven Löschens und Vergegenwärtigens bedeutsamer Symbole, durch welche die Kontingenz des Augenblicks reflexiv wird.

Besondere Aufmerksamkeit erfährt die Geschichte des Körpers und körpernaher Praktiken. Das meint nicht nur die Geschichte der Sinne und Wahrnehmungsformen, sondern auch der eloquentia corporis, der Rhetoriken, Semantiken und Topiken körperbezogener Ausdrücke und Habitus. Diese nennt A. Warburg "Pathosformeln". Die Erforschung von Pathosformeln entspricht der Mikrohistorie, deren Gegenstände oft eine extreme Beständigkeit aufweisen. Hierher gehören auch die Geschlechterordnung, die kulturellen Konstruktionen von Lebensaltern sowie die schichten- und regionalspezifischen Handlungsstile.

Kulturwissenschaft muß sich dabei um Psychohistorie, Religionswissenschaft, Mentalitätsgeschichte, Kulturanthropologie, Philologie, Ethnologie erweitern, wenn die "Wanderungsbewegungen" von Memorialformen, von religiösen und moralischen Gebräuchen, von Lebenstilen, Gebräuchen und Wissensstrategien an jeder Stelle eines Kulturraums und in jedem Augenblick einer Epochen erforscht werden soll (vgl. das cultural mapping, das sich besonders für postkoloniale Mischkulturen bewährt hat, Bhaba 1994). Dabei löst sich der Eurozentrismus ebenso auf wie andere kulturalistische Fundamentalismen. Der Synkretismus ist die Form, welche der tatsächlichen Vermischung nahezu aller Kulturen am ehesten gerecht wird.

Der Kultursemiotik zufolge ist 'Kultur' ein symbolischer oder textueller Zusammenhang, ein Textuniversum, in welchem sich einzelne kulturelle Momente, als Texte, immer nur durch ihren Kontexte bzw. eine Fülle von Kontexten erschließen. Die kulturelle Realität wird mithin als ein Gewebe von Zeichen verstanden, die in ihrer topographischen Vernetzung und Struktur, diachron dagegen als ein langwelliger, transsubjektiver Bedeutungszusammenhang aufgefaßt wird. Sprache, Medien, Bilder, Symbolbildungen aller Art, kollektive Imagines, Artefakte, selbst Institutionen werden als unterschiedliche, konfligierende wie ausdifferenzierte, machtgestützte wie subversive Codierungen ausgelegt, die konstitutiv für die gesellschaftlichen Wirklichkeiten sind. Hiernach ist Kulturwissenschaft keine Handlungswissenschaft, sondern ein bedeutungsgenerierendes Verfahren, das signifikante Wahrnehmungs-, Symbolisierungs- und Kognitionsstile in ihrer lebensweltlichen Wirksamkeit analysiert. Im historischen Rückblick erscheint Kultur als ein Prozeß fortschreitender reflexiver Semantisierung, durch welche ununterbrochen Sinnressourcen geschaffen und distribuiert, aber auch subvertiert und zerstört werden. Auf diesem Feld führt die Kulturwissenschaft die Medienforschung und die Kultursemiotik zusammen.

Zur disziplinären Absicherung des Faches Kulturwissenschaft ist die Ausarbeitung einer stets neu zu formulierenden Kulturtheorie unabdingbar. Auch in diesem Feld will die Kulturwissenschaft nicht autark sein. Von selbstverständlichen Referenzen auf die allgemeine Wisenschaftstheorie und die Wissenschaftsgeschichte abgesehen, sind hier besonders die Traditionen der Kulturphilosophie (J. Burckhardt, K. Lamprecht, H. Rickert, G. Simmel, E. Cassirer u.a.) bedeutsam ebenso wie die Theoriedebatten, die sich in der Geschichte ihres engsten Nachbarfaches, nämlich der Ethnologie, gebildet haben (von E. B. Tylor, W. Wundt, J. G. Frazer, M. Mauss, R. Benedict, B. Malinowski bis zu C. Levi-Strauss, C. Geertz, J. Clifford, P. Rabinow u.a.). Erst durch theoretische Abgrenzungen und paradigmatische gegenständliche Forschungen kann sich die Kulturwissenschaft im Konzert der Nachbardisziplinen behaupten.


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