In: Honold, Alexander / Köppen, Manuel (Hg.): "Die andere Stimme". Das Fremde in der Kultur der Moderne. Festschrift für Klaus Scherpe; Köln 1999, S. 353-369.

Hartmut Böhme

Video, ergo intineror. -

Reisen ins Imaginäre in der Videokunst von Bill Viola.

Im Frühjahr 1998 lief in New York eine Retrospektive des 47jährigen, amerikanischen Videokünstlers Bill Viola. Die Ausstellung wurde zuvor in Los Angeles gezeigt. 1999 ist sei in Europa zu sehen (Amsterdam, Frankfurt/M.), sodann in San Francisco und Chicago: ein Programm bis zum Jahr 2000. Bill Viola soll zum Klassiker werden. In New York hatte das Whitney Museum of American Art seine beiden oberen Stockwerke freigeräumt, um siebzehn Videoinstallationen Raum zu schaffen. Man betrat vollständig abgedunkelte Stockwerke, in welche die Installationsräume labyrinthisch eingebaut waren. Es gab kein anderes Licht als dasjenige, das von den Installationen selbst ausging. Man konnte sich auch von den Tönen der Installationen leiten lassen. Das Aufsichtspersonal war von Viola geschult worden, mit etwaigen Verirrten und Verwirrten im Dunkel helfend umzugehen. Die Irritationen des Orientierungssinnes waren beabsichtigt. Man sollte in eine andere Welt eintreten. Der Gang durch die siebzehn Zellen sollte zu einer Initiation in die Welt Violas, einer Reise in die kunstvollen Phantasmen eines Gehirns. Durchaus drängte sich der Eindruck auf, daß der Gang durch die labyrinthischen Installationsräumen als eine Reise durch die inneren Kammern der Imagination Violas selbst inszeniert war. Zwar richten alle Kameras ihr Objektiv immer auf irgendein Ensemble der Außenwelt und insofern ist ihnen Referenzialität technisch eingebaut. Die Ausstellungsfolge der 'Bildkammern' Violas jedoch schien so arrangiert, daß man diese Referenz zunehmend verlor. Man tauchte in eine Bilderwelt, welche nicht die Außenwelt wiedergab, sondern direkt aus dem Bildgedächtnis und der Einbildungskraft des Gehirns zu erwachsen schien. Das machte den Besuch der Ausstellung zu einem Abenteuer, aber auch zu einer Art Intimität: es war eine Art visueller Beiwohnung der Innenwelt eines anderen Menschen, ebenso aufregend wie gelegentlich auch Scham oder das Gefühl wachrufend, man sei jemandem zu nahe getreten. Beides, Abenteuer wie Intimität, hat mit Grenzen und ihrer Überschreitung zu tun. Tatsächlich sollten die Besucher diesen Eindruck gewinnen: daß sie Grenzen überschritten, die gewöhnlich von Tabus und Verboten, von Scham oder Angst besetzt sind. Das einer Initiation ähnliche Arrangement diente einer solchen Grenzüberschreitung und Passage.

In einem Kino-Saal, ein Stockwerk tiefer, wurden Video Tapes gezeigt, die Viola zwischen 1972 und 1994 produziert hatte. Der Besucherstrom war gewaltig. Erfolg kann gnadenlos sein. Am Ende dieser Ausstellungsfolge wird Viola nicht mehr derselbe sei. Aus dem Pionier einer am Rande improvisiernden Kunstform wird Viola, längst ein international geachteter Künstler, zur Ikone einer Kunstgattung geworden sein, die endgültig die Museen erobert hat. Vielleicht, daß amerikanische Kunstmacher Viola auf die Höhe Nam June Paiks puschen wollten.

"The Theatre of Memory"

Die Ausstellungs-Regie entspricht der bereits 1981 formulierten Bild-Auffassung Violas, der bewußt Anleihen an "various image systems of the cultures of the world" macht, in der Absicht einer "search of the image that is not an image": "I am interested not so much in the image whose source lies in the phenomenal world, but rather the image as artifact, or result, or imprint, or even wholly determined by some inner realization. It is the image of that inner state and as such must be considered completely accurate and realistic."

Diese ästhetische Intention findet man vielleicht nirgend konzentrierter als in der Klang/Video-Installation "The Theatre of Memory" von 1985. Sie wurde in New York nicht gezeigt, war aber z.B. auf der MEDIALE in Hamburg 1993 zu sehen. "The Theatre of Memory" ist ein Schlüsselwerk Violas. Er hat sich verschiedentlich mit der alteuropäischen Mnemonik seit der griechischen Antike beschäftigt, das Standardwerk von Frances Yates gelesen und ist dabei nicht nur auf Thomas von Aquin, Jacobus Publicus, Giordano Bruno, sondern auch auf Giulio Camillo gestoßen. Dessen Theatro della Memoria war eponym für die Installation "The Theatre of Memory". Entsprechend der bei Viola häufigen synkretistischen Verknüpfung von europäischen künstlerischen und religiösen Elementen mit solchen der indianischen, japanischen, indischen, tibetanischen, orientalischen Kulturen, mit denen er bei seinen Reisen in Berührung kam, setzt Viola auch in dieser Installation einzelne Motive europäischer Mnemonik in Beziehung zu buddhistischen und tantrischen Memorialpraktiken, aber auch zur Kognitions- und Computerwissenschaft und zu Fragen der zerebralen Repräsentation von Wahrnehmungsakten. In "The Theatre of Memory" betritt man keinen äußeren Raum, sondern die innere Bühne des unwillkürlichen Gedächtnisses. Man befindet sich im Inneren des Hirns, oder genauer: in einer allegorischen Szenerie desselben. Der gewaltige, blätterlose, quer im Raum gelagerte Baum mit freigelegten Wurzeln, in welchem fünfzig elektrische Laternen unregelmäßig blinken, symbolisiert für Viola das neuronale Feuern der Hirntätigkeit. Doch ist der Baum auch der interiorisierte "Tree of Life", dem er bereits 1977 eine Installation gewidmet hatte und der immer wieder in seinen Videofilmen, oft nur als augenblickslanger Shot, zitiert wird. Hinter dem Baum erscheinen auf einem Screen Serien von Bildern. Sie gelangen niemals zu endgültiger Sichtbarkeit und sinnhafter Gliederung. Es ist, als wohne man einem unbewußten Arbeiten des Bildgedächtnisses bei, das aus seinem Fundus heraus Bilderfolgen generiert, die auftauchen und plötzlich abreißen, so daß tiefes Dunkel herrscht, durchbrochen nur vom Flackern der Laternen, sprich: der neuronalen Schaltungen. Sofern die Bilder überhaupt zu identifizieren sind, wirken sie wie erodierte Bildruinen der TV-Kultur. Überlaute Geräuschkaskaden brechen aus den Lautsprechern und reißen ab: und in der Stille vernimmt man nur den zarten Klang eines vom Wind getriebenen Glockenspiels, das in den Ästen des Baumes aufgehängt ist.

Viola setzt dieses von einem Zufallsgenerator gesteuerte Bersten von überwältigenden Bild- und Klangserien in Beziehung zum leisen und zarten Klingen und Blinken von Glockenspiel und Laternen im Baum inmitten einer schwarzen Leere. Es geht ihm um die Getrenntheit zwischen jeder dieser Aktivitäten im Hirninneren: aus den 'Lücken', aus dem 'Nichts' zwischen den Signalen heraus entstehen die Repräsentationen, die wir 'Denken' nennen. Exemplarisch macht diese Installation deutlich, daß die 'Reise', die Viola mit seinen Videoinstallationen unternimmt, uns nicht in die äußere, sondern in die innere Welt führen soll.

Man darf sagen, daß Viola - auf der Höhe technischer Kunst und moderner kognitionswissenschaftlicher Forschung und in Erinnerung an uralte religiöse und philosophische Ideen über das innere Arbeiten des Geistes - ein Romantiker ist. Man fühlt sich erinnert an das Wort von Novalis: "Wir träumen von Reisen ins Weltall. Liegt nicht das Weltall in uns?" Es ist diese Inversion des Reisens, wodurch es aus einer Bewegung in einem fremden Raum zu einem abenteuerlichen Experiment des innerspace wird. Dieses Experiment charakterisiert die Kunst Violas. Die VIDEO-Kamera ist nicht das 'Aufnahmegerät' äußerer Welt, sondern eine Art Endoskop, eine Bildmaschine der inneren Welt, die Viola bereist. Das kann an die alte Mnemonik oder die Romantik ebenso angeschlossen werden, wie an außereuropäische Formen der Zen-Meditation, des Tantra oder des persischen Sufismus. So zitiert Viola den Sufi Jallaludin Rumi (1207-1273) - eine Passage aus der Masnavi-Dichtung, welche wie eine emblematische Inscriptio über diesem Prozess der Interiorisierung des Reisens und des Sehens mittels VIDEO stehen kann:

Distance and nearness are attributes of bodies,
The journeying of spirits are after another sort.
Your journeyed from the enbryo state to rationality
without footsteps or stages or change of place,
The journey of the soul involves not time and place.
And my body learnt from the soul its mode of journeying,
Now my body has renounced the bodily mode of journeying.
It journeys secretly and without form, though under a form.

Hier wird Violas Ideal formuliert. Eine solche Reise, die keine Reise mehr ist, simuliert er mit der Kamera. Der Weg des Sufi wird zum Weg seiner Kunst, während Viola selbst durch ganze Welt gereist ist: Java, Bali, Indonesien, Australien, überall in Europa, die Sahara, öfters Japan (dort studierte er Zen-Meditation in Kontrast zur avancierten Technologie Japans), eine Himalaya-Reise, um tibetanische Mönche zu besuchen, Fidschi-Inseln, der Südwesten der USA (mit ausgedehnten Studien zu den Native Americans). Die Videoarbeit Violas ist alles andere als eine Dokumentation des Reisens und steht auch dem ethnographischen Film denkbar weit. Die Erkundung der äußeren Welt mittels der Kamera hat nur das Ziel, Bildmaterial zu sammeln für die Arbeit: die Erschließung des visuellen Rezeptions- und Produktionsapparats des Menschen und seiner zerebralen Innenwelt. Ein solches Programm, das mit erstaunlicher Unbekümmertheit Elemente vieler Kulturen und Zeiten kombiniert, kann nicht ohne ästhetische und ideologische Widersprüche abgehen.

 

Metaphysik des Lebens

Viola bietet alles, und das ist vermutlich zu viel. Technisch ist er ohnehin atthe state of the art. Zugleich aber ist er, im neuen Medium, ein Metaphysiker, Mystiker, Magier, Realist, Humanist, Kulturkritiker, Philosoph, Ästhetiker. Diese Vielheit erklärt seine Attraktivität, wie sie zugleich kritische Bedenken weckt. Nehmen wir zum Beispiel eine Installation, die in New York gar nicht erst im Museum, sondern gleich in einer Abside der riesigen Cathedral Church of St. John the Divine zelebriert wurde. Es ist der "Nantes Triptych", zuerst im französischen Nantes 1992 gezeigt. Die Form des Triptychons zitierend, ist die Bildfläche dreigeteilt, wobei der Mittelteil so groß ist wie die Flügelteile zusammen. Viola hat sich dieser Form des Allerheiligsten schon früher bedient (The City of Man, 1989). Auf dem linken Teil wird die Geburt eines Kindes gezeigt (ein häufig wiederkehrendes Zitat), auf dem rechten das Sterben einer alten Frau (auch dieses Motiv wird oft verwendet). Im Mittelteil schwebt, trudelt, steigt oder sinkt, in eigenartiger Passivität und Preisgabe, ein Mann im Schwarzwasser eines raumlosen Beckens, 'erleuchtet' von einer überwirklichen Lichtwolke, zwischen Geburt und Tod eingetaucht in das Medium, das seit Thales der Urgrund des Lebens sein soll. Eine ähnliche Allegorie auf das Leben 'zwischen' Geburt und Tod sowie den Zyklus von Sterben und Wiedergeburt hat Viola 1996 in der Durham Cathedral, England, wiederholt (The Messenger). Häufig finden sich bei Viola Menschen unter Wasser, eintauchend-ausatmend, auftauchend-einatmend, umgeben von einem ebenso heimatlich-uterinen wie fremdartigen Medium, umspielt von Strömungen und glitzernden Luftperlen. Jenseits der Religionen bearbeitet Viola die Themen, die einst der Religion reserviert waren und heute durch alle kulturellen Sektoren zirkulieren: die großen Existenzialien, die Geburt, das leidenschaftliche Leben, das Sterben, der Tod. Es ist eine einfache Bildsprache, eine auf Wiedererkennung setzende Anleihe an Sakralformen, eine an elementare Gefühle appellierende Figuration. Geistliche und Agnostiker können sich gemeinsam auf derartige Werke beziehen, die eine pathetische Synthese des sonst Widersprüchlichen inszenieren.

Keineswegs geht es bei Viola formal immer so simpel zu. Aber doch oft. Und immer elementar. Nehmen wir die Installation "Heaven and Earth" (1992). Zwei Bildröhren auf Sockeln sind vertikal aufeinander geordnet. Das Ganze wirkt wie eine technische Säule. Der Clou ist, daß die Monitore 'sich ansehen', aus einem Abstand von 15 cm. Der Betrachter muß von der Seite schräg in diesen 'Bilddialog' der Screens hineinschauen. Und er sieht: das Gesicht der sterbenden Frau - und das Gesicht eines Neugeborenen. Nun sind TV-Schirme aus Glas und mithin auch Reflektoren: so stehen sich die beiden Antlitze nicht nur gegenüber, sondern in der facies hippocratica der alten Frau spiegelt sich das weltlose Gesicht des Geborenen - und vice versa. Wir verstehen: In der Geburt spiegelt sich der Tod, im Tod die Geburt. Kreislauf des Lebens. Und da der obere Bildschirm die Sterbende zeigt, steht ihr die (mediale) Himmel-Fahrt bevor, während der Säugling, natürlich, der kleine Erden-Bürger ist: "Heaven and Earth". Das ist nicht nur das simplifizierte 'Stirb und Werde' Nietzsches, nicht nur eine Anleihe an Wiedergeburtsmythen vieler Religionen, sondern auch noch ein bißchen Christentum, oder auch nur biographische Selbstinszenierung. Postmoderner Klassizismus oder Bastelei im Symbolreservoir der Weltkultur? Man wünschte es sich komplexer.

 

Urschrei, Entrückung und Schlaf der Vernunft

Auch dies ist zu haben. Die Produktion heißt "Anthem" (= Hymne, von 1983). Der Schrei eines jungen Mädchens in einem leeren, renaissancehaften Gewölbe der Union Railroad Station in Los Angeles ist zeitversetzt und klanglich heruntermoduliert zu einer archaischen, schluchzenden Tonfolge, die für Viola "produce a primitive 'scale' of seven harmonic notes, which constitute the soundtrack of the piece. Related in form and function to the religious chant, particularly tantric Buddhist and Gregorian chants, Anthem describes a contemporary ritual evocation centered on the broad theme of materialism". Bild und Schrei des Mädchens, in ritueller Verlangsamung, rhythmisieren eine rasende Bildfolge, die zu einer Etude der modernen Zivilisation collagiert wird - "the demon and the dark forces in Contemporary America". Die Installation ist von einer religiösen Polarität kompositorisch beherrscht: den assoziierten sakralen Hymmen des isolierten Mädchens und die zivilisatorische Hölle des modernen Amerikas. Schnelle Cuts zeigen: Industrieruinen, Schrott, Ölpumpen, Raffinerien, untergehende Sonne hinter dunstigem Industriegelände, Tankstelle, Straßenszene, Männerkörper unter einer Stranddusche, Sonnenbadende, Cuts einer ins Riesengroße vergrößerten Augenoperation (man denkt an Buñuels "Un chien andalou" von 1928 und daran, daß Cuts immer auch Augenschnitte sind), Computertomographien eines Gehirns, das Meer, ein archaischer Wald, eine Herzoperation, ein freigelegtes, schlagendes Herz (auch dies ein Selbstzitat aus "Science of the Heart", 1983), ein Stahlwerk, ein ungeheurer Baum, die Baumrinde, eine Schlange, die den Baum hochschlängelt und in einem Astloch verschwindet, Menschenhaut, die sich im Atemtakt bewegt. Genug. All dies wird, kontrapunktiert vom schreienden Mädchen, sehr schnell gegengeschnitten, ein blitzhaftes Assoziieren, das jedoch binär funktioniert: Verfall und Konstruktion, Krankheit und Heilung, Natur und Zivilisation, Arbeit und Freizeit, Naturausbeutung und Luxus, Innenwelt und Außenwelt, Leiden und Begierde, Körper und Maschinen usw. Muß angesichts dieses Anpralls elementarer Polaritäten, die 'unser aller Leben' beherrschen, das junge Mädchen nicht in den Urschrei des Entsetzens ausbrechen? Sancta Simplicitas! (Übrigens ist das Videoband perfekt gemacht)

Nehmen wir es ästhetischer. "The Crossing" von 1996. In der Mitte des Raums eine hohe Trennwand, auf die von beiden Seiten aufeinander abgestimmte Videosequenzen projiziert werden. Der Betrachter kann hin und her wechseln. Zunächst geschieht auf beiden Seiten dasselbe. Aus der Tiefe einer nächtlichen Allee erscheint in starker slow-motion erst winzig, dann wachsend ein Mann, zuschreitend auf die niedrig postierte Kamera. Schwache seitliche Scheinwerfer verfolgen unsichtbar die Annäherung des Mannes, der schließlich, ein Riese, metergroß, seinen letzten Schritt tut und verharrt. Pause. Kaum sichtbar beginnt zu seinen Füßen ein Flämmchen zu züngeln; kaum sichtbar fällt auf der Gegenseite ein silbern leuchtender Tropfen auf sein Haupt. So langsam, wie der Mann aus der Tiefe horizontal auf den Betrachter zuschritt, wachsen jetzt in der Vertikale Flamme und Wasserfall. Schaudernd sieht der Betrachter, wie der Mann inmitten einer Feuersbrunst steht bzw. mitten in einem gewaltigen Wassersturz. Durch den Flammen- bzw. Wasservorhang, aufsteigend der eine, fallend der andere, erkennt man immer wieder die Umrisse des Mannes. Plötzlich ist er fort. Annihiliert. (Diesen Effekt liebt Viola.) Langsam sinkt die Flamme, allmählich wird der Wassersturz schwächer, bis nur noch Tropfen, zögernd, in die Wasserfläche auf den Grund fallen (wunderschön anzusehen). Die Flamme kriecht in sich selbst zusammen und haucht sich aus. Ende. Im Maße der visuellen Steigerung von Feuer und Wassersturz steigern sich jeweils die Geräusche bis zu Feuerorkan und Wassertosen.

Kein Zweifel, wir werden gebannt. Eines der Gegensatzpaare aus der Quadriga der vier Elemente, Feuer und Wasser, hat seine destruktive Gewalt gezeigt - und seine Schönheit. Haben sie den Menschen, der gegen die Elemente so verletzlich ist, vernichtet? Oder wohnen wir hier einem Akt des Purgatoriums, der Purifikation, ja der Spiritualisierung bei? Integer bleibt der Leib bis zu seiner plötzlichen Annihilation: was heißt dies anderes, als daß der Mensch im Durchgang durch die großen Kontradiktionen der Natur fähig wird zu reinigender Transzendierung? Der gedehnte Gang aus der Tiefe der Allee ist die Allegorie einer meditativen Versenkung, die das Materielle abstreift und der Spiritualität teilhaftig wird. Eine religiöses, ein metaphysisches Zeremoniell, das Viola veranstaltet.

Nicht weniger zitathaft, bis ins visuelle Arrangement, erweist sich die Installation "The Sleep of Reason" (1988): überdeutlich assoziiert mit Goyas berühmtem Capriccio "El Sheño de la Razon produce Monstruos (1797/98)". An der Stirnwand des Raums eine antikisierende Kommode. Auf ihr ein Blumenstrauß, ein Elektrowecker und eine Lampe, die den Raum milde beleuchtet, sowie ein TV-Gerät, das einen Schläfer zeigt. Sehr leise hört man dessen Schlafgeräusche. Plötzlich Schwärze und ein ohrenbetäubendes Wüten aus Lausprechern. Auf drei Wände springen riesige Projektionen, sekundenlang, eine heranflatternde Eule im Nachtflug (Goya!). Ende. Lampe und Screen springen wieder an und im warmen Licht und äußerster Stille blickt man auf den Schläfer. Knatternde Schwärze überfällt einen erneut, unvorhersehbar: das riesige, fletschende Maul eines aggressiven Hundes jagt die Angst auf. Ende. Der stille Schläfer. Und wieder tobendes Schwarz: wir treiben mit der Kamera durch einen Lichtschacht, auf ein Gitter zu, durch das Gitter hindurch und in ein Gleißen, das jede Wahrnehmung niederschlägt. Bildsprung. Usw.

In dieser Weise versucht Viola immer wieder, ins Innere einer Traumwelt und ihrer Obsessionen zu dringen. Die Grenzüberschreitung, die dabei von Außen nach Innen vorgenommen werden muß, geschieht oft in der Form von Riten und symbolischen Übergängen. Im Video-Film "Passing" (1991) deutet dies schon der Titel an. Die Kamera verfolgt eine Nacht lang einen Schläfer. Sie nimmt ihn immer dann 'von außen' auf, wenn der Schläfer unruhig wird, kurz erwacht, sich herumwälzt, auf den Wecker schaut oder für eine Zeit die Augen öffnet und ins Leere schaut. Man hört Nachtgeräusche von außerhalb, Zikaden oder vorbeifahrende Autos, deren Lichtschein das Zimmer augenblickslang aufhellt, hört das (sehr unterschiedliche) Atmen des Mannes, das Rascheln des Bettzeugs usw. Mitunter fährt die Kamera in langsamen Schwenks das nachtdunkle Schlafzimmer und die schweigsamen Gegenstände ab, als wolle sie sich einen dinglichen Anhalt an der Außenwelt schaffen. So mag ein Schläfer, der aus dem Traum fährt, mit dem Blick über die dunkle Umgebung gleiten, um sich zu orientieren und zu vergewissern. Gelegentlich scheint die Kamera das Zimmer des Schläfers zu verlassen und im Haus herumzuwandern oder dies gar zu verlassen, um im nächtlichen Viertel und der Stadt zu spazieren: doch vielleicht ist dies schon wieder ein Traum.

Mit jedem neuerlichen Versinken des Mannes im Schlaf taucht die Kamera in dessen Traumwelt ein. Der Wechsel zwischen Wachphasen und Träumen rhythmisiert den Film. Die Übergänge in den Traum haben die Form von rituellen Passagen. So taucht die Kamera unter Wasser oder folgt dem Mann, der nackt unter Waser treibt, auf- oder absteigend, von Luftperlen umspielt. Oder der Mann geht auf einen Eisenbahntunnel in einem Berg zu und verschwindet dort. Das Wasser und die Träume sind seit alters symbolisch, oft auch rituell miteinander verbunden. Für das Eindringen in ein Berg-Inneres oder das Passieren von Tunneln gilt ähnliches, spätestens seit der Romantik. Erzeugt Viola solche Klischees oder arbeitet der Traum in solchen? In jedem Fall sind dies Passagen, in denen der Wechsel von Seinsmodi angezeigt wird. Es sind entweder Übergänge von Wachen und Träumen, von Realität und Imagination, oder es sind Regressionen auf vorgeburtliche Zustände, in die der Schläfer 'eintaucht' und aus denen er 'wiedergeboren' wird. Es überrascht nicht, daß wie im "Nantes-Triptych" auch hier Geburts- und Sterbeszenen montiert werden. Immer wieder bebildert der Traum Szenen der Kindheit. So ist "Passing" auch eine Zeitreise. Sie zeigt kein narratives Schema, sondern die modalen und temporalen Übergänge erfolgen durch Bildanalogien, Assoziationen, diskontinuierliche Sprünge. Kennt man viele der Werke Violas, so bemerkt man, daß dabei eine Art visuelles Lexikon entsteht, aus dem immer wieder topische Icons abgerufen werden, so z.B. Geburt und Sterben, Kindheit, der Baum, das Wasser, die Flamme, die Wüste, schroffe Gebirge, Bewegungen in der Nacht, alle Spielarten von Licht, Fetzen von urbanen und industriellen Zonen.

So 'gehen' wir mit der Kamera 'durch' die innere und äußere Nacht des Schläfers, erleben Durchfahrten, Übergänge, Überfahrten, ein Eintauchen und Aufsteigen, ein Dahinscheiden und Durchgehen (alles Varianten von 'passing'). Es entsteht ein eigentümlichen Floaten in der Zeit, ein Passieren von Bildern ohne feste Identität und ohne linear entwickelten Sinn. Der Film selbst macht sich der Logik des Traums ähnlich und wird so zu eine Passage des Imaginären.

 

Die Reise in den Innerspace

Viola ist von der Obsession getrieben, die Innenwelt des Menschen zu visualieren. Bilder sind Oberfläche, die auf eine verborgene, vor allem: unsichtbare Tiefe verweist. Diese zu erobern, ist das Ziel Violas - wie es Ziel der Anatomen war, in den Raum 'unter der Haut' vorzudringen. Nicht umsonst wiederholen sich bei Viola Bilder von medizinischen Operationen, von Schlachtungen, Sektionen, geöffneten Menschenkörpern, Röntgenbildern, zerlegten Rindern und Fischen; von Tunneln, die in die Tiefe, Schächten, die von einem imaginären Inneren nach außen führen. Die Innenwelt ist eine Enklave. Viola aber ist, mit der Kamera als seinem Skalpell, ihr Anatom. Das macht die Installationen Violas zu bewegenden Reisen in den dark continent der Phantasmen, des Unbewußten, der Ängste und Visionen. Man begreift die häufigen Tauchfahrten im Wasser als Expeditionen zur tagabgewendeten Seite des Menschen.

Sehr eindrucksvoll erfährt der Besucher eine solche Konstellation in der Installation "Reasons for Knocking at an Empty House" von 1982, die nicht zufällig titelgebend für die Edition der "Writings" von 1988 wurde. Man betritt einen dunklen Raum und versteht zunächst nichts. An einer Wand ein Monitor, aus dem das erschöpfte Gesicht eines Mannes blickt (man hört nichts). In einigem Metern vor dem Monitor steht im Spotlight ein grob gezimmerter Lehnstuhl. Oberhalb von diesem ist ein Paar Kopfhörer befestigt. Im Wunsch zu verstehen, was vor sich geht, setzt man sich und streift die Kopfhörer über: man blickt nun dem Mann im TV ins Auge, sieht die kleine Bewegungen im Gesicht, das Schlucken und Atmen. Vom (äußeren) Raum einer unerträglichen Stille, den Schweigenden vor Augen, wechselt man in einen akustischen Raum. Erst nach einer Weile begreift man, was sich zu hören gibt: es sind die Körperinnen-Geräusche des Mannes gegenüber. Konnte oben die Kamera Violas als Endoskop bezeichnet werden, so erschließt sich hier ein endo-akustische Welt, wie sie sich für einen Fötus anhören mag. Jedenfalls ist man akustisch ins Körperinnere des Gegenübers getaucht und vernimmt, gespannt und befremdet, sein Atmen, Schlucken, Herz-, Magen- und Darmgeräusche (und was sonst). Von außen dringen undeutlich menschliche Stimmen durch: man ist ins Innere des Anderen versetzt, (den man doch von außen sieht). Mit einem Mal erhält der Mann einen kräftigen Schlag mit einer zusammengerollten Zeitschrift aufs Haupt, man ist abrupt 'herausgeworfen' aus der Klangwelt des Körperinneren und einem tosenden Krachen (dem Schlag) und irrsinnig lauten Stimmen und Geräuschen ausgesetzt. Wie beinahe alle Expeditionen ins Körperinnere oder in die imaginäre Welt des Gehirns wird also auch diese gewaltsam unterbrochen. Es ist, als wolle Viola zeigen, daß die Bedingungen solcher Experimente des innerspace an sensible Voraussetzungen geküpft sind, die in einer zur Wüste gewordenen, rasenden Zivilisation in der Regel nicht gegeben sind. Gewalt ist die instantielle Unterbrechung jedes künstlerischen Experiments - oder kehrt die in diesem verborgene Gewaltsamkeit hervor.

Diese Installation reflektiert allegorisch ein Situationsexperiment, bei welchem, unter dem selben Titel und im gleichen Jahr, in einem leeren Haus, in einem (bis auf einen Stuhl) leeren und verschlossenen Raum ein Mann, der sich drei Tage wach halten sollte, von einer Kamera gefilmt wurde. Das klaustrophobische, zunehmend gewaltförmige Verhältnis von Körper und Raum in diesem Experiment von zugleich Einschließung und Aussetzung wird in der Videoinstallation reflektiert im Verhältnis des akustischen Körperinnerem zum Blick von außen auf den Körper. Der berstende Schlag auf den Kopf demonstriert - für die Versuchsperson wie für den Betrachter, der sich plötzlich als das eigentliche Versuchsobjekt wahrnimmt - das gewaltsame Kollabieren der sinnlichen Ordnung bei extremer Überlastung.

Ein ähnliches Grundproblem von Innen- und Außenwelt stellt Viola in der Installation "Science of the Heart" (1983) dar. In einem dunklen Raum steht ein beleuchtetes, leeres Messingbett. Dahinter auf einer Leinwand sieht man, riesig, ein schlagendes Menschenherz, im Normrhytmus, dann über slow motion zu größter Langsamkeit, ja zum Stillstand gebracht, dann wieder 'animiert' zu panischer Schlagfrequenz. Im 'Inneren', so Viola, finden wir die basalen Bedingungen des Lebendigen: den Herzschlag des Lebens. Er ist von den Chirurgen längst freigelegt und zum bloß technischen Problem geworden. Indem Viola die Bilder des offengelegten Herzens rhythmisch manipuliert und mit überlauten Herzschlägen verbindet, bezeichnet er eine Gemeinsamkeit von experimenteller Wissenschaft und Kunst. Zugleich erzeugt er durch das visuelle und akustische Tuning des Herzens für den Besucher eine quälende Sinnespräsenz so, daß dieser sich unwillkürlich 'zusammenschließt', gewissermaßen 'einkörpert', um so das eigene Herz 'bei sich' zu haben, zu 'inkorporieren' und darum umso stärker zu spüren: den Rhythmus des Lebendigen nicht 'vor' Augen und Ohren, sondern 'in sich'.

 

In Platons Höhle

Viola ist am stärksten dort, wo er ohne metaphysische, kulturkritische oder religiöse Botschaften, ohne neobarocke Zitatklischees und ohne postmoderne Hypersemantisierung nur seinen visuellen Einfällen folgt. Sie haben ein großes Thema: die Veräußerlichung des Inneren und das Innere des Äußerlichen. Ein Beispiel dafür ist die Installation "Slowly Turning Narrative" von 1992, die man gar nicht wieder verlassen möchte. Eine große zweiseitige Projektionswand, deren eine Seite vollständig verspiegelt ist, dreht sich permanent um die Mittelachse. Von zwei gegenüberliegenden Projektoren werden Videobilder auf die Drehwand geworfen. Vom einen Projektor aus erscheint schemenhaft das ernste, halbschattige Gesicht eines Mannes. Vom Projektor gegenüber aus werden in Farbe schnell geschnittene Szenenfragmente gezeigt von einem Kinderkarussel (die Drehung in der Drehung), nächtlichem Karneval und Straßenszenen, einem brennenden Haus, mit Feuerwerk spielenden Kindern. Die Effekte sind stupend. Denn alles wird zur Projektion und zum Schirm. Der Spiegel nämlich wirft die projizierten Bilder zurück auf die Wände, an denen die Bilder entsprechend der Drehung entlanglaufen. In Schwarz/Weiß erscheint das Gesicht des Mannes auf der Spiegelwand, dreht sich fort und huscht, vergößert, perspektivisch verzerrt über die Wände. Das Karussell dreht sich in sich, dreht sich mit dem Schirm und läuft über die Wand. Die Strahlenkränze des Feuerwerks erfüllen plötzlich vervielfacht den Raum. Kein Bild steht, alles ist im Fluß, und reißt doch, nach immer extremerer perspektivischer Verkürzung in dem Augenblick ab, wo der 180-Grad-Winkel der Drehwand parallel zu den Projektoren erreicht ist und ein neues Bild aus äußerster Verkürzung hervorwächst bis zur Frontale zu den Projektoren - und sich wieder wegdreht. Alle Bilder verdoppeln und modulieren sich neu an den rechtwinkligen Wänden des Raumes.

In der Raumhälfte, die dem Männerantlitz zugeordnet ist, spricht in einem Tonfall, der zwischen ausdrucksloser Serialität und ritueller Litanei changiert, eine Stimme ununterbrochen etwa sechshundert Sätze der Struktur "the one who grows the one who abandons the one who receives the one who surrenders the one who avows..." bis zum letzten: "the one who is": und alles beginnt von vorn. Eine potentielle Unendlichkeit nicht hierarchisierter, parataktisch gereihter Tätigkeiten bildet den akustischen Hintergrund der 'denkenden Seite' des Raumes, wenn man so sagen darf. Während die fragmentierten, gedehnten und verkürzten Bilderflüsse mit den farbigen Handlungs-Szenen, die von der anderen Seite aus projiziert werden, von sitespezifischen Geräuschen begleitet werden.

Plötzlich bemerkt man die anderen Betrachter, aber auch sich selbst im Spiegel als Bestandteil des projizierten Bildes auftauchen und verschwinden. Doch 'Ich bin' es - "the one who is"- und bin es nicht, denn ich selbst werde zur Projektionsfläche, über die Bildfragmente huschen. Von jedem (!) Standort im Raum aus kann man die Bilder beider Projektoren sehen: das Bild vorne auf dem Schirm und zugleich das Bild auf der Rückseite, nämlich gespiegelt auftauchend auf der Wand. Wohnt man den Bildern hinter der Stirn des Mannes bei? Sieht man, was er sieht? Sieht man das Sehen? Wird man selbst zum Bild und zur Projektion? Geht es um Reflexion der Handlungen und Reflexion dieser Reflexion? Ist die Drehachse, wie Viola meint, "the still point of the central self"? Oder ist sie vielleicht "this small point of nothingness", mit dem Viola in "The Theatre of Memory" die Lücke/Leere (gap/empty space) zwischen zwei neuronalen Schaltungen bezeichnete, deren Überbrückung die Kreation von Ideen oder Bildern darstellt? Nimmt Viola auch hier sein altes Thema der Reise ins Innere wieder auf? Dann wäre dieser Punkt ebenso abstrakt wie unerreichbar, das Undarstellbare, von dem her alle Darstellung möglich wird, der Punkt der Reflexion, der keinen Inhalt haben darf, damit Inhalte überhaupt erscheinen können, eine wesentliche Unbestimmtheit, von der alle Bestimmung sich abhebt, das Unbewegte, von dem her alle Bewegungen ihre Ablaufgestalten erhalten.

Das mag so sein. Vor allem aber wird man in ein visuelles Delir ver-rückt, wenn man bemerkt, daß man in einem a-perspektivischen, dynamischen Wahrnehmungsraum ist, der es nicht erlaubt, Position und Identität zu gewinnen. Aus unentzifferbaren Bildzeichen entstehen sekundenlang Wahrnehmungsidentitäten, die schon wieder verschwinden. Es gibt keinen Halt. Und gerade daraus entsteht ein Wahrnehmungsabenteuer, im Verhältnis zu dem manche wirkliche Reise verblaßt wie die Wiederholung des immer schon Gesehenen.

Man fühlt sich in Platons Höhle versetzt (in Politeia), die erste Phantasie eines Zwangsinnenraums, der aus nichts als Projektionen besteht. Die absolute Entessentialisierung der Außenwelt läßt auch an George Berkeley denken, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Wahrnehmungswelt entwarf, in der wir uns bewegen, ohne doch auf die Dinge zu treffen. Alles wird bei Berkeley schon als virtuell gedacht. Traumwelten, so surreal sie sein mögen, sind gewöhnlich gemäß dem Newtonschen Raum organisiert. Hier aber ist der Newtonsche Raum ebenso aufgelöst wie der optische Raum der Perspektive. Wir sind in einem Maelstrom hineingezogen und werden zum Element des Endlosstrudels von Fließbildern. Und da wir in diesem Kreissaal des Visuellen uns selbst als Spiegelbild erscheinen, werden wir zu einer Reflexivität ermuntert, wie sie z. B. im Cyberspace der totalen Illusion noch niemals erreicht war. Das ist eine experimentelle Wahrnehmungsschule allererster Güte.

Kontemplativer angelegt ist die Installation "The Veiling" (1995). Auch hier werden von gegenüberliegenden Wänden aus Videos projiziert, doch auf neun, abständig hintereinander gehängte Schleier, so daß jedes Bild in schwächer werdender Lichtintensität, doch immer größer werdend, neunfach gestaffelt erscheint. Die eine Sequenz zeigt einen Mann aus der Nacht ins Licht auf die Kamera zuschreiten und aus ihrem Erfassungsraum wieder verschwinden; die andere Projektion zeigt entsprechend eine Frau. Obwohl die Bilder sich im transparenten Medium der Schleier durchdringen, kommt es niemals zu einer Begegnung von Mann und Frau. Auch ohne Anleihe an die uralte kunsttheoretische Metapher des Schleiers als Medium, genügt hier das visuelle Arrangement, um die auch tragische Vermitteltheit der Wahrnehmung zu verstehen, die noch so 'tief' und 'gestaffelt' sein mag und dennoch nicht zu 'Begegnungen' führt. Das Wahrgenommene ist immer anderswo als das Wahrnehmen - so wie Mann und Frau hier, so sehr ihre Räume sich durchdringen, sich dennoch nicht treffen. Dies ist, nebenbei, auch eine denkwürdige Allegorie der Getrenntheit, in der die Geschlechter, so nah sie sich kommen mögen, verbleiben.

 

Experimentator und Wüstenheiliger

Man möchte solche Werke immer wieder sehen. Man verzichtet gerne auf kitschige Video-Nachstellungen eines Gemäldes von Jacopo Pontormo ("Der Besuch" von 1528/9; The Greeting, 1995) oder das magisch-mystische Spiel von Realität und Vitualität, Spiegelung und referenzlose Bild-Erzeugung in "The Reflecting Pool" (1977-79). Wunderbar bedient Viola hier das religiöse und mystische Bedürfnis, die Sehnsucht nach Entrückung und Tiefsinn, den hermeneutischen Wiedererkennungsjubel und die Lust nach visueller Verzauberung. Hier vor allem feiert eine magische Romantik ihre Wiedererweckung. In einem zeitlosen, reich bebuschten Zaubergarten à la Eichendorff liegt ein gemauertes Wasserbassin, dessen leicht bewegte Oberfläche weich gedimmte Spiegelbilder hergibt, aber was für welche! Die Kamera ist fest montiert diesseits des Pools, so daß sie mit dem Auge des Zuschauers zusammenzufallen scheint. Während das Ohr ein vorbeifliegendes Flugzeug vernimmt - weit entferntes Zeichen der profanen Zivilisation -, kommt ein Mann aus dem waldigen Hintergrund, steht längere Zeit am Rand des Pools, springt hoch und stürzt ins Wasser - nein, sein eingerollter Körper wird im Sprung erhascht, stillgestellt zur nature morte, während unter ihm das Wasser in leichter Kräuselung beweglich bleibt. Von dem in der Luft erstarrten Körper löst sich gelegentlich ein Tropfen und schlägt im Wasser auf. Man hört den Motor der Filmkamera. Im Wasserspiegel ist der Körper des über dem Wasser schwebenden Mannes nicht zu sehen. Langsam löst sich der Körper des Mannes ins Grün der Büsche auf, annihiliert sich. - Im Tiefengrund des Wasserspiegels sieht man, kopfunter, einen Mann den Bassinrand entlanggehen - aber dort, wo er 'in Realität' gehen müßte sieht man nichts: Spiegelbild ohne Gespiegeltes! Nun sieht man zwei Menschen im Wasserspiegel gehen, Figuren ohne Referenz, Spiegelphantome, die plötzlich annihiliert sind. Abrupt steigt ein (realer?) Mann aus dem Wasser und verschwindet im Hintergrund des Gartens, wobei einzelne Wegstücke seines Ganges 'leer' bleiben, so daß er an einer Stelle des Gartens verschwindet und wenige Meter weiter wieder auftaucht. Dies aber nicht als Zeitsprung, sondern die Zeit, die der Mann gebraucht hätte, vergeht als stilles, nur vom Wind leicht bewegtes Bild des Gartens. Mehrere Menschen erscheinen am Beckenrand ohne Spiegelbild im Wasser. Man wird hineingezogen in dieses Spiel von Spiegelungen und Reflexionen, Anwesenheit und Abwesenheit, Körperbildern und Phantomen - und soll in eine poetische Verzauberung und eine magische Vertauschung des Imaginären und Realen hineingeraten.

In New York wurde der Film von zwei Seiten absolut randgenau auf eine frei im Raum aufgehängte Leinwand projiziert, so daß noch die Materialität der Projektionsfläche annulliert wurde und man den Eindruck von frei im Raum schwebenden Bildern gewann, die sozusagen Rücken an Rücken sich Halt gaben. Was ist ein Bild? Es scheint, also wollte Viola hier die romantische Idee des absoluten poetischen Zeichens darstellen, das Bild, das nichts als Bild ist, reines Spiel des immateriellen Erscheinens und Annihilierens: "the image that is not an image."

In solchen Arbeiten, wo die Botschaft aus den Bildern trieft, verstellt "The Messenger" Bill Viola den Artisten. Dessen Arbeiten sind außerordentliche Studien der Wahrnehmung im alten Sinn von Aisthesis. Allzu leicht aber gerät jemand, der mit den phantastischen Möglichkeiten der neuen Medien arbeitet, der das Funktionieren der visuellen Welt als interne Repräsentation und externe Wahrnehmungswelt studiert, der das Unbewußte, das Phantastische und den Split zwischen dem "verlorenen Ich" und den Dingen gestaltet -, allzu leicht gerät so einer, im Sog der Bilder selbst, in die "Versuchung des heiligen Antonius" und wird ein Wüstenheiliger, der der toten Zivilisation in den Big Cities seine Botschaft sendet.

Überzeugender gelingen die wahrnehmungsästhetischen Experimente in dem Farbvideo "Chott el-Djerid (A Portrait in Light and Heat" (1979). Im Eingangsteil, der im konturenauflösenden Weiß von kanadischen und nordamerikanischen Schneelandschaften gehalten ist, über die Stürme hinwegbrausen, operiert die Kamera an der Grenze zwischen einem alles Materielle aufzehrenden Weiß und der sich schwach abhebenden Dingkonturen - Bäume, Hütten, ein sich im Schnee voranarbeitender Mensch im blassen Licht. Abrupt springt die Kamera um in Bilder des Chott el-Djerid, einem ausgetrockneten Salzsee im tunesischen Teil der Sahara, über welchem das glühende Licht flimmert. Luft ist flüssig. Viola suchte den absoluten Gegenpol zur Objektfülle der urbanen Welt in den Metropolen - und den Korrespondenzpunkt zum Schnee. Er suchte jene Leere in der Natur, wo in den phantasmagorischen Luftspiegelungen und dem auflösenden Flimmern des Mittag-Lichtes "the end of the world" erreicht zu sein scheint. Nicht als apokalyptisches Ende, sondern als Ende der konturierten Materialität und Massivität der Dinge. Sich bewegende Menschen oder Tiere, wiegende Palmen, weite Flächen und Ansiedlungen, Gebirge oder von fern her sich nähernde Motoradfahrer erfaßt die Kamera wie in der Hitze flüssig gewordene Farbflächen ohne feste Kontur. Dieser Eindruck wird verstärkt durch extrem raumverdichtendes telescoping.

Es ist, als wolle Viola mit der Kamera jene Auflösung der Gegenständlichkeit nachstellen, die einhundertfünfzig Jahre zuvor William Turner malerisch ins Werk setzte, als er die Geometrie von Raum und Objekten auflöste in einem Feld von Farben, die abgelöst von den Dingen und in ein autonomes Geflecht dynamischen Lichtes versetzt wurden. In der Wüste des gleißenden Sandes und des deckenden Weißes von Schnee hat Viola die Grenze der Wahrnehmung erreicht, und ist eingetaucht in einen immateriellen Raum von Perzeptionsakten, bei denen nicht mehr unterscheidbar ist, ob sie auf Dinge verweisen oder Geburten der Imagination sind. "Out here, the unbound mind can run free. Imagination reigns. Space becomes a projection screen. Inside becomes outside. You can see what you are." Hier schließt sich Viola an die metaphysische Wüste, in der Heilige und Mystiker der inneren Welt ihrer Einbildungskraft begegnen. Es sind die "hallucinations of the landscape", die mit den Visionen im Kopf fusionieren - als Bilder der Kamera. Hier hat Viola den Kern seiner Bildästhetik erreicht. Er wollte noch bei den fernsten Reisen nie etwas anderes, als auf die Bilder stoßen, die seinem Inneren entwuchsen; während die Bilder des Realen in sein Inneres fielen, d.h. in die Kamera, welche jenes Archiv der Bilder erzeugte, aus denen Viola in seinen Installationen dann Figuren einer großen Halluzination montierte. Er reiste, um Bilder zu finden, um in den Bildern zu reisen.

* * *