In: NZZ, 13./14.03.1999, S. 81.
Bill Viola - ein Klassiker der Videokunst.
Bill Viola soll zum Klassiker werden. In New York läuft bis zum
10. Mai eine Retrospektive des 47jährigen, amerikanischenVideokünstlers.
Die Schau wurde zuvor in Los Angeles gezeigt, sie wird nach Europa gehen
(Amsterdam, Frankfurt/M.), nach San Francisco und Chicago: ein Programm
bis zum Jahr 2000. Zwei Stockwerke hat das Whitney Museum of American Art
freigeräumt, um siebzehn Videoinstallationen Raum zu schaffen. In
einem Kino-Saal werden Video Tapes gezeigt, die Viola zwischen 1972 und
1994 produzierte. Der Besucherstrom ist gewaltig. Erfolg kann gnadenlos
sein. Am Ende dieser Ausstellungsfolge wird Viola nicht mehr derselbe sei.
Aus dem Pionier einer am Rande improvisiernden Kunstform wird Viola, längst
ein international geachteter Künstler, zur Ikone einer Kunstgattung
geworden sein, die endgültig die Museen erobert hat. Warum gerade
Bill Viola?
Metaphysik des Lebens
Er bietet alles. Technisch ohnehin the state of the art, ist er, im
neuen Medium, ein Metaphysiker, Mystiker, Magier, Realist, Humanist - und
das macht seine Attraktivität erklärbar. Nehmen wir zum Beispiel
eine Installation, die in New York sinnigerweise nicht im Museum, sondern
gleich in The Cathedral Church of St. John the Divine zelebriert wird.
Es ist der "Nantes Triptych", zuerst im französischen Nantes 1992
gezeigt. Die Form des Triptychons zitierend, ist die Bildfläche dreigeteilt,
wobei der Mittelteil genau so groß ist wie die Flügelteile.
Viola hat sich dieser Form des Allerheiligsten schon früher bedient
(The City of Man, 1989). Auf dem linken Teil wird die Geburt eines Kindes
gezeigt, auf dem rechten das Sterben einer alten Frau. Im Mittelteil schwebt,
trudelt, steigt oder sinkt, in eigenartiger Passivität und Preisgabe,
ein Mann im Schwarzwasser eines raumlosen Beckens, 'erleuchtet' von einer
überwirklichen Lichtwolke, zwischen Geburt und Tod eingetaucht in
das Medium, das seit Thales der Urgrund des Lebens sein soll. Eine ähnliche
Allegorie auf das Leben 'zwischen' Geburt und Tod sowie den Zyklus von
Sterben und Wiedergeburt hat Viola 1996 in der Durham Cathedral, England,
wiederholt (The Messenger). Häufig finden sich bei Viola Menschen
unter Wasser, eintauchend-ausatmend, auftauchend-einatmend, umgeben von
einem ebenso heimatlich-uterinen wie fremdartigen Medium, umspielt von
Strömungen und glitzernden Luftperlen. Jenseits der Religion bearbeitet
Viola die Themen, die einst der Religion reserviert waren und heute durch
alle kulturellen Sektoren floaten: die großen Existenzialien Geburt,
das pathische Leben, das Sterben, der Tod. Es ist eine einfache Bildsprache,
eine auf Wiedererkennung setzende Anleihe an Sakralformen, eine an elementare
Gefühle appellierende Figuration.
Keineswegs geht es bei Viola formal immer so simpel zu. Aber doch oft.
Und immer elementar. Nehmen wir die Installation "Heaven and Earth" (1992).
Zwei Bildröhren auf Sockeln sind vertikal aufeinander geordnet. Das
Ganze wirkt wie eine technische Steele. Der Clou ist, daß die Screens
der Röhren 'sich ansehen', aus einem Abstand von 15 cm. Der Betrachter
muß von der Seite schräg in diesen 'Bilddialog' der Screens
hereinschauen. Und er sieht: das Gesicht der sterbenden Frau - und das
Gesicht eines Neugeborenen. Nun sind TV-Schirme aus Glas und mithin auch
Reflektoren: so stehen sich die beiden Antlitze nicht nur gegenüber,
sondern in der facies hippocratica der alten Frau spiegelt sich das weltlose
Gesicht des Geborenen - und vice versa. Wir verstehen: In der Geburt spiegelt
sich der Tod, im Tod die Geburt. Der ewige Kreislauf des Lebens. Und da
der obere Bildschirm die Sterbende zeigt, steht ihr die (mediale) Himmel-Fahrt
bevor, während der Säugling, natürlich, der kleine Erden-Bürger
ist: "Heaven and Earth". Das ist nicht nur, irgendwie, das simplifizierte
'Stirb und Werde' Nietzsches, sondern, irgendwie, auch ein bißchen
Christentum. Ein postmoderner Klassiker? Man wünschte es sich komplexer.
Urschrei, Entrückung und Schlaf der Vernunft
Auch dies ist zu haben. Der Schrei eines jungen Mädchens in einem
leeren, renaissancehaften Gewölbe der Union Station in Los Angeles
ist zeitversetzt und klanglich heruntermoduliert zu einer archaischen,
schluchzenden Tonfolge. Bild und Schrei, in slow motion, rhythmisieren
eine rasende Bildfolge, die zu einer Etude der modernen Zivilisation collagiert
wird. Die Produktion heißt "Anthem" (Hymne, von 1983). Schnelle Cuts
zeigen: Industrieruinen, Schrott, Ölpumpen, Raffinerien, untergehende
Sonne hinter dunstigem Industriegelände, Tankstelle, Straßenszene,
Männerkörper unter einer Stranddusche, Sonnenbadende, Cuts einer
ins Riesengroße vergrößerten Augenoperation (man denkt
an Bunuels "Andalusischen Hund" von 1928 und daran, daß Cuts auch
Augenschnitte sind), Computertomographien eines Gehirns, das Meer, archaischer
Wald, Herzoperation, ein freigelegtes, schlagendes Herz, Stahlwerk, ein
ungeheurer Baum, die Baumrinde, eine Schlange, die den Baum hochschlängelt
und in einem Astloch verschwindet, Menschenhaut, die sich im Atemtakt bewegt.
Genug. All dies wird, kontrapunktiert vom schreienden Mädchen, sehr
schnell gegengeschnitten, korrespondiert, ein blitzhaftes Assoziieren,
das jedoch sehr einfach funktioniert: Verfall und Konstruktion, Krankheit
und Heilung, Natur und Zivilisation, Arbeit und Freizeit, Naturausbeutung
und Luxus, Innenwelt und Außenwelt, Leiden und Begierde, Körper
und Maschinen usw. Muß angesichts dieses Anpralls elementarer Polaritäten,
die 'unser aller Leben' beherrschen, das junge Mädchen nicht in den
Urschrei des Entsetzens ausbrechen? Sancta Simplicitas! (Übrigens
ist das Videoband perfekt gemacht)
Nehmen wir es ästhetischer. "The Crossing" von 1996. In der Mitte
des Raums eine hohe Trennwand, auf die von beiden Seiten aufeinander abgestimmte
Videosequenzen projiziert werden. Der Betrachter kann hin und her wechseln.
Zunächst geschieht auf beiden Seiten dasselbe. Aus der Tiefe einer
nächtlichen Allee erscheint in starker slow-motion erst winzig, dann
wachsend ein Mann, zuschreitend auf die niedrig postierte Kamera. Schwache
seitliche Scheinwerfer verfolgen unsichtbar die Annäherung des Mannes,
der schließlich, ein Riese, metergroß, seinen letzten Schritt
tut und verharrt. Pause. Kaum sichtbar beginnt zu seinen Füßen
ein Flämmchen zu züngeln; kaum sichtbar fällt auf der Gegenseite
ein silbern leuchtender Tropfen auf sein Haupt. So langsam, wie der Mann
aus der Tiefe horizontal auf den Betrachter zuschritt, wachsen jetzt in
der Vertikale Flamme und Wasserfall. Schaudernd sieht der Betrachter wie
der Mann inmitten einer Feuersbrunst steht, und mitten in einem gewaltigen
Wassersturz. Durch den Flammen- bzw. Wasservorhang, aufsteigend der eine,
fallend der andere, erkennt man immer wieder die Umrisse des Mannes. Plötzlich
ist er fort. Annihiliert. (Diesen Effekt liebt Viola) Langsam sinkt die
Flamme, mählich wird der Wassersturz schwächer, bis nur noch
Tropfen, zögernd, in die Wasserfläche auf dem Grund fallen (wunderschön
anzusehen). Die Flamme kriecht in sich selbst zusammen und haucht sich
aus. Ende. In Maße der visuellen Steigerung von Feuer und Wassersturz
steigern sich jeweils die Geräusche bis zu Feuerorkan und Wassertosen.
Kein Zweifel, wir werden gebannt. Eines der Gegensatzpaare aus der Quadriga
der vier Elemente, Feuer und Wasser, hat seine destruktive Gewalt gezeigt
- und seine Schönheit. Haben sie den Menschen, der gegen die Elemente
so verletzlich ist, vernichtet? Oder wohnen wir hier, in Video, einem Akt
des Purgatoriums, der Purifikation, ja der Spiritualisierung bei? Integer
bleibt der Leib bis zu seiner plötzlichen Annihilation: was heißt
dies anderes, als daß der Mensch im Durchgang durch die großen
Kontradiktionen der Natur fähig wird zu reinigender Transzendierung.
Der gedehnte Gang aus der Tiefe der Allee ist die Allegorie einer meditativen
Versenkung, die das Materielle abstreift und der Spiritualität teilhaftig
wird. Eine religiöses, ein metaphysisches Zeremoniell, das Viola veranstaltet.
Nicht weniger zitathaft, bis ins visuelle Arrangement, erweist sich
die Installation "The Sleep of Reason" (1988): überdeutlich assoziiert
mit Goyas berühmten Capriccio "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer".
An der Stirnwand eine antikisierende Kommode. Auf ihr ein Blumenstrauß,
ein Elektrowecker und eine Lampe, die den Raum milde beleuchtet, sowie
ein TV-Gerät, das einen Schläfer zeigt. Plötzlich Schwärze
und ein ohrenbetäubendes Wüten aus Lausprechern. Auf drei Wände
springen riesige Projektionen, sekundenlang, eine heranflatternde Eule
im Nachtflug (Goya!). Ende. Lampe und Screen springen wieder an und im
warmen Licht und äußerster Stille blickt man auf den Schläfer.
Knatternde Schwärze überfällt einen erneut, unvorhersehbar:
das riesige, fletschende Maul eines aggressiven Hundes jagt die Angst auf.
Ende. Der stille Schläfer. Und wieder tobendes Schwarz: wir treiben
mit der Kamera durch einen Lichtschacht, auf ein Gitter zu, durch das Gitter
hindurch und in ein Gleißen, das jede Wahrnehmung niederschlägt.
Bildsprung. Usw.
Die Reise in den Innerspace
Viola ist hier, wie in vielen Installationen, von der Obsession getrieben,
den innerspace des Menschen zu visualieren. Bilder sind Oberfläche,
die auf eine verborgene, vor allem: unsichtbare Tiefe verweist. Diese zu
erobern, ist das Ziel Violas - wie es Ziel der Anatomen war, in den Raum
'unter der Haut' vorzudringen. Nicht umsonst wiederholen sich bei Viola
Bilder von medizinischen Operationen, von Schlachtungen, Sektionen, geöffneten
Menschenkörpern, Röntgenbildern, zerlegten Rindern und Fischen;
von Tunneln, die in die Tiefe, Schächten, die von einem imaginären
Inneren nach außen führen. Die Innenwelt ist eine Enklave. Viola
aber ist, mit der Kamera als seinem Skalpell, ihr Anatom. Das macht die
Installationen Violas zu bewegenden Reisen in den dark continent der Phantasmen,
des Unbewußten, der Ängste und Visionen. Man begreift die Tauchfahrten
im Wasser als Expeditionen zur tagabgewendeten Seite des Menschen.
Man erinnert sich an die Installation "The Theater of Memory" (1985;
in New York nicht gezeigt), in welcher Viola die neuronale Architektur
des Gedächtnisses und der internen Repräsention darzustellen
versuchte. Oder er stellte dieses Grundproblem von Innen- und Außenwelt
in der Installation "Science of the Heart" (1983) dar. In einem dunklen
Raum steht ein beleuchtetes, leeres Messingbett; dahinter auf einer Leinwand
sieht man ein schlagendes Menschenherz, im Normrhytmus, dann über
slow motion zu größter Langsamkeit, ja zum Stillstand gebracht,
dann wieder 'animiert' zu panischer Schlagfrequenz. Im 'Inneren', so Viola,
finden wir die basalen Bedingungen des Lebendigen: den Herzschlag des Lebens.
In "Reasons for Knocking at an Empty House" (1982) betritt man einen Raum
mit einem TV-Schirm, aus dem ein Mann schweigend den Betrachter anschaut.
Gegenüber im Spotlight ein schwerer Holzstuhl, über dem Kopfhörer
hängen: einladend, sich zu setzen und zu hören. Vom Raum einer
unerträglichen Stille wechselt man in einen akustischen Raum, den
Schweigenden vor Augen: und hört, als sei man im Leibesinneren des
Mannes, dessen Atem, Herzschlag, Schluck- und Darmgeräusche und, wie
von außen, Murmeln und Wispern von Stimmen. Wie beinahe alle Expeditionen
ins Körperinnere oder in die imaginäre Welt des Gehirns wird
auch diese gewaltsam unterbrochen. Es ist, als wolle Viola zeigen, daß
die Bedingungen solcher Experimente des innerspace an sensible Voraussetzungen
geküpft sind, die in einer zur Wüste gewordenen, rasenden Zivilisation
in der Regel nicht gegeben sind.
In Platons Höhle
Viola ist am stärksten dort, wo er ohne metaphysische, kulturkritische
oder religiöse Botschaften, ohne neobarocke Zitatklischees und ohne
postmoderne Hypersemantisierung nur seinen genial einfachen visuellen Einfällen
folgt. Sie haben das große Thema der Veräußerlichung des
Inneren und des Inneren des Äußerlichen zum Vorwurf. Ein Beispiel
dafür ist die Installation "Slowly Turning Narrative" von 1992, die
man gar nicht wieder verlassen möchte. Eine große zweiseitige
Projektionswand, deren eine Seite verspiegelt ist, dreht sich permanent
um die Mittelachse. Von zwei gegenüberliegenden Projektoren werden
Videobilder auf die Drehwand geworfen. Vom einen Projektor aus das schemenhafte,
ernste Gesicht eines Mannes; vom Projektor gegenüber aus schnell geschnittene,
gerissene Szenenfragmente von einem Kinderkaroussel (die Drehung in der
Drehung), nächtlichem Karneval und Straßenszenen, einem brennenden
Haus, mit Feuerwerk spielenden Kindern. Die Effekte sind stupend. Alles
wird zur Projektion und zum Schirm. Der Spiegel wirft die projizierten
Bilder zurück auf die Wände, an denen die Bilder entsprechend
der Drehung entlanglaufen. Das Gesicht des Mannes erscheint auf dem Schirm,
dreht sich fort und huscht, vergößert, perspektivisch verzerrt
über die Wände. Das Karoussell dreht sich in sich, dreht sich
mit dem Schirm und entgegengesetzt erneut auf der Wand. Die Strahlenkränze
des Feuerwerks erfüllen plötzlich vervielfacht den Raum. Kein
Bild steht, alles ist im Fluß, und reißt doch, nach immer extremerer
Verkürzung in dem Augenblick ab, wo der 180-Grad-Winkel der Drehwand
parallel zu den Projektoren erreicht ist und ein neues Bild aus äußerster
Verkürzung hervorwächst bis zur Frontale der Projektoren und
sich wieder wegdreht. Alle Bilder verdoppeln und modulieren sich neu an
den rechtwinkligen Wänden des Raumes.
Plötzlich bemerkt man die anderen Betrachter und sich selbst im
Spiegel als Bestandteil des Bildes auftauchen und verschwinden. Doch 'Ich
bin' es und bin es nicht, denn ich selbst werde zur Projektionsfläche,
über die Bildfragmente huschen. Von jedem Standort aus kann man die
Bilder beider Projektoren sehen: das Bild vorne auf dem Schirm und zugleich
das Bild auf der Rückseite, nämlich gespiegelt auftauchend auf
der Wand. Wohnt man den Bildern hinter der Stirn des Mannes bei? Sieht
man, was er sieht? Sieht man das Sehen? Wird man selbst zum Bild und zur
Projektion? Ist die Drehachse, wie Viola meint, the still point of the
central self? Dann wäre dieser Punkt ebenso abstrakt wie unerreichbar.
Eher wird man ein wenig in ein visuelles Delir ver-rückt, wenn man
bemerkt, daß man in einem a-perspektivischen, dynamischen Wahrnehmungsraum
ist, der es nicht erlaubt, Position und Identität zu gewinnen. Aus
unenzifferbaren Bildzeichen entstehen sekundenlang Wahrnehmungsidentitäten,
die schon wieder verschwinden. Es gibt keinen Halt.
Man fühlt sich in Platons Höhle versetzt (in Politeia), die
erste Phantasie eines Zwangsinnenraums, der aus nichts als Projektionen
besteht. Die absolute Entessentialisierung der Außenwelt läßt
auch an George Berkeley denken, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine
Wahrnehmungswelt entwarf, in der wir uns bewegen, ohne doch auf die Dinge
zu treffen. Alles wird bei Berkeley schon als virtuell gedacht. Traumwelten,
so surreal sie sein mögen, sind gewöhnlich gemäß dem
Newtonschen Raum organisiert. Hier aber ist der Newtonsche Raum ebenso
aufgelöst wie der optische Raum der Perspektive. Wir sind in einem
Maelstrom hineingezogen und werden zum Element des Endlosstrudels von Fließbildern.
Und da wir in diesem Kreissaal des Visuellen uns selbst als Spiegelbild
erscheinen, werden wir zu einer Reflexivität ermuntert, die z. B.
im Cyberspace der totalen Illusion, noch niemals erreicht war. Das ist
eine experimentelle Wahrnehmungsschule allererster Güte.
Kontemplativer angelegt ist die Installation "The Veiling" (1995). Auch
hier werden von gegenüberliegenden Wänden aus Videos projiziert,
doch auf neun, abständig hintereinander gehängte Schleier, so
daß jedes Bild in schwächer werdender Lichtintensität,
doch immer größer werdend, neunfach gestaffelt erscheint. Die
eine Sequenz zeigt einen Mann aus der Nacht ins Licht auf die Kamera zuschreiten
und aus ihrem Erfassungsraum wieder verschwinden; die andere Projektion
zeigt entsprechend eine Frau. Obwohl die Bilder sich im transparenten Medium
der Schleier durchdringen, kommt es niemals zu einer Begegnung von Mann
und Frau. Auch ohne Anleihe an die uralte kunsttheoretische Metapher des
Schleiers als Medium, genügt hier das visuelle Arrangement, um die
auch tragische Vermitteltheit der Wahrnehmung zu verstehen, die noch so
'tief' und 'gestaffelt' sein mag und dennoch nicht zu 'Begegnungen' führt.
Das Wahrgenommene ist immer woanders als das Wahrnehmen - so wie Mann und
Frau hier, so sehr ihre Räume sich durchdringen, sich nicht treffen.
Dies ist, nebenbei, auch eine denkwürdige Allegorie der Getrenntheit,
in der die Geschlechter, so nah sich sich kommen, verbleiben.
Experimentator und Wüstenheiliger
Man möchte solche Werke immer wieder sehen. Man verzichtet gerne
auf kitschige Video-Nachstellungen eines Gemäldes von Jacopo Pontormo
("Der Besuch" von 1528/9; The Greeting, 1995) oder das magisch-mystische
Spiel von Realität und Vitualität, Spiegelung und referenzlose
Bilderzeugung in "The Reflecting Pool" (1977-79). Wunderbar bedient Viola
hier das religiöse und mystische Bedürfnis, die Sehnsucht nach
Entrückung und Tiefsinn, den hermeneutischen Wiedererkennungsjubel
und die Lust nach visueller Verzauberung. In solchen Arbeiten wie in jenen,
wo die metaphysische Botschaft aus den Bildern trieft, verstellt "The Messenger"
Bill Viola den Artisten. Dessen Arbeiten sind außerordentliche Studien
der Wahrnehmung im alten Sinn von Aisthesis. Allzu leicht aber gerät
jemand, der mit den phantastischen Möglichkeiten der neuen Medien
arbeitet, der das Funktionieren der visuellen Welt als interne Repräsentation
und externe Wahrnehmungswelt studiert, der das Unbewußte, das Phantastische
und den Split zwischen dem "verlorenen Ich" und den Dingen gestaltet -,
allzu leicht gerät so einer, im Sog der Bilder selbst, in die "Versuchung
des heiligen Antonius" und wird ein Wüstenheiliger, der der toten
Zivilisation in den Big Cities seine Botschaft sendet.
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