In: Greve, Gisela (Hg.): Goethe. Die Wahlverwandtschaften; Tübingen 1999, S. 97-125.

Hartmut Böhme

«Kein wahrer Prophet».

Die Zeichen und das Nicht-Menschliche in Goethes Roman «Die Wahlverwandtschaften»

Einleitende Überlegungen zum Nicht-Menschlichen

Der Roman «Die Wahlverwandtschaften» ist im ersten Ansehen ein Kammerspiel des Sozialen. Dessen Kern bilden die vier Hauptpersonen, umgeben von einer begrenzten Zahl von Nebenfiguren. Um nichts anderes scheint es zu gehen als um die Charaktere und ihre Beziehungen, die Konflikte und Motive, die psychologischen und sozialen Dynamiken. So mag man Ottilie recht geben, wenn sie in ihrem Tagebuch den berühmten Grundsatz von Alexander Pope zitiert: «...das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch» (417). [1] Ist dieses aus bester Aufklärungstradition stammende Prinzip nicht eine treffendere inscriptio des Romans als die chemische Gleichnisrede von den Wahlverwandtschaften, die niemals wenn nicht fälschlich auf die Konstellationen des Romans angewendet werden kann?

Radikal aber wird der Roman, indem er nicht voraussetzt, daß alles, was den Menschen formiert, wiederum etwas Menschliches sein muß. Das Nicht-Menschliche im weitesten Sinn macht einen bedeutenden, vielleicht den bedeutendsten Anteil am Menschen aus. Dies ist eine pessimistische Deutung, wenigstens nach einem Jahrhundert Aufklärung, das seinen Stolz darin setzte, den Menschen so zu entwerfen, daß das, was er ist, sich niemanden und nichts verdankt als ihm selbst. Es wäre eine Subversion des Autonomie-Postulats jedweder philosophischer Couleur, wenn das Nicht-Menschliche zum Bestimmungsstück des Menschen würde. Richten wir uns also auf die Möglichkeit ein, daß ein unbestimmt großer Anteil dessen, was wir sind, nicht-menschlich ist. Dann kommen wir dem nach-aufklärerischen Bewußtsein des Romans näher, der das Produkt einer tiefen Krise Goethes ist und schon von daher alles andere als ein frohgemutes Stück Humanismus erwarten läßt. Die Erzählhaltung des Romans ist kühl und experimentell, seine Anthropologie unerbittlich, ja mitunter gnadenlos.

Der Mensch, so will ich ungebührlich allgemein sagen, findet seine Identität und sein Selbstverständnis in lebensgeschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Er handelt und kommuniziert im Zusammenspiel mit anderen, er bildet Motive, Ziele und Normen des Handelns, die er im Rahmen sozialer Moralen bewertet. Er knüpft seine Gefühle und Leidenschaften vor allem an andere Menschen. Er scheitert oder verwirklicht sich in sozialen Kontexten. Das alles finden wir im Roman wieder. Und das gilt. Dennoch werden die Beziehungen, von denen man wünscht, daß sie essentiell wären, wie z.B. Liebe und Ehe, Elternschaft und Freundschaft, Familie und Generationenfolge, fast ausnahmslos und ohne tragende Hoffnungsreste zerstört. Hier herrscht Schwärze. Sie stimmt umso deprimierter, als die handelnden Personen unter guten Bedingungen konfiguriert werden: kein Umsturz, kein Krieg, keine natürliche oder politische Katastrophe, keine plötzliche Not und Armut tragen zum Kollaps der Beziehungen bei. Man ist wohlhabend, privilegiert, gebildet, kenntnisreich, welterfahren, kommunikativ gewandt, klug, teilweise gar wissenschaftlich informiert, als adlige Herrenschicht durchaus menschenfreundlich, ohne exzessive Laster, ohne destruktiven Ehrgeiz, aufgeklärt und im ganzen wohl temperiert. So wären auch von dieser Seite her günstige Prognosen für Bestand und Entwicklung der Beziehungen erlaubt. Und doch tritt das Gegenteil ein, eine Katastrophe, die aber nicht plötzlich hereinbricht und die Betroffenen niederschlägt. Auch hier setzt Goethe optimale Bedingungen: das Unglück ist kein augenblickshafter Überfall. Katastrophal an der Katastrophe der «Wahlverwandtschaften» ist, daß sie sich im Angesicht aller Beteiligten ruhig entwickelt, an jeder Stelle aufhaltbar erscheint, viele Alternativen zuläßt, die den Beteiligten bekannt sind. Niemand will die Katastrophe. Man kann auch nicht sagen, daß sie selbstgemacht wäre; das würde Subjekte der Katastrophe voraussetzen. Es gibt solche Subjekte nicht. Die Katastrophe vollzieht sich mit, an und durch die Menschen, doch ist sie subjektlos. Gleichwohl erscheint in der Katastrophe weder ein Gott noch eine böse Natur, kein Dämon und kein Engel. Es ist keine metaphysische Katastrophe (wie die ältere Forschung oft angenommen hat). Es ist eine menschliche Katastrophe und nichts als das; und zugleich ist sie ganz und gar nicht-menschlich. Es kann sie nur geben, wo es Subjekte gibt; doch die Katastrophe ist, daß sie an den Subjekten etwas Subjektloses, Übersubjekthaftes, Transpersonales hervorkehrt. Es läßt sich noch nicht besser sagen. Und weil Goethe dies alles unter so privilegierten Bedingungen eintreten läßt, schließt der Roman einen Schrecken ein, der sich ebenfalls langsam im Leser entwickelt: ein schrittweise sich aufbauender Schrecken darüber, daß die Menschen sich nicht retten können, weil sie zu Schauplätzen des Nicht-Menschlichen werden.

Es wird Zeit, etwas über meine Verwendung des Wortes «das Nicht-Menschliche» zu sagen. Es heißt auf keinen Fall: inhuman. Sondern es will ausdrücken, was der Roman zu zeigen scheint und was meine These ist: (1) es gelingt nicht, selbstgewisses Subjekt seiner selbst zu sein. Und (2): wo es nicht gelingt, das Nicht-Menschliche in das eigene Menschsein zu integrieren, tritt die Katastrophe ein.

Gewiß sind Götter, Dämonen, Engel nicht-menschlich, doch ist dies für den Roman ziemlich uninteressant. Es führen keine übermenschliche Mächte Regie. In gewisser Hinsicht sind auch Heilige oder Maria nicht-menschlich – und das führt in die Nähe des Romans, jedenfalls Ottiliens und aller, die sie verheiligen. Das Heilige ist ein tendenziell katastrophischer Mechanismus. Nicht-Menschlich sind ferner Stoffe und Materien, natürliche und künstliche Dinge, Prozesse und Kräfte der Natur – und diese spielen in den «Wahlverwandschaften» eine bedeutende Rolle. Gewinnt ein derart Nicht-Menschliches formierende Macht über die mit ihm verbundenen Menschen, so drohen unkalkulierbare Katastrophen. Nicht-Menschlich sind ferne die Tiere, die «Kompatrioten» (416), wie Ottilie vertraute Tiere und Pflanzen nennt, aber auch «Karikaturen» (415; vgl. 382/3) wie die Affen. Sodann die Pflanzen, welche ein stilles Für-Sich darzustellen scheinen; doch gehen die Protagonisten Beziehungen zu ihnen ein, durch welche Pflanzen Macht über die Menschen gewinnen. So lebt Ottilie im Zyklus der Pflanzen; oder die Platanen gewinnen eine fatale Macht über Eduard. Nicht-menschlich nenne ich ferner extrordinäre Erlebniszustände, worin eine hohe Ereignisdichte besteht, in welchen Subjekte ihren Subjektstatus verlieren, so daß steuerungslose Prozesse eintreten, die gerade deswegen eine bestimmende Macht über den Betroffenen erlangen. Nicht-Menschlich nenne ich schließlich jene Dimension des Zufalls und der Kontingenz, durch welche sich Intentionen und Planungen, gute Wünsche und hoffnungsvolle Aspirationen ins Gegenteil verkehren, so daß die Handelnden zum Schauplatz von etwas gänzlich Unintendiertem werden. Diese Dimension ist im Roman von überragender Wichtigkeit. Auch kann man bei diesem Roman zum Nicht-Menschlichen dasjenige zählen, was Jean Paul «dieses wahre, innere Afrika» oder Freud das «innere Ausland» nennt, also nicht nur das Unbewußte, sondern alles, was dem Subjekt selbst entstammt und dennoch ihm fremd und unbekannt ist wie ein unentdeckter Kontinent. Goethe aber lebte und schrieb in der Epoche der Aufklärung. Es gibt keine wirklich fremden Kontinente mehr. Das Licht des Bewußtseins ist nicht nur in alle Kontinente, sondern auch in die Fältelungen des Ich vorgedrungen; so glaubte man. Wenn aus so gebildeten, bewußten und aufgeklärten Menschen wie den Protagonisten dennoch etwas ihnen gänzlich Fremdes aufbricht, so hat dies den Status den Nicht-Menschlichen – so wie das Kind Charlottes und Eduards, bei aller Schönheit, in Wahrheit kein Kind, sondern ein Monstrum ist, imprägniert vom Unheil, der Katastrophe. –

Ziel also ist es, den Spuren des Nicht-Menschlichen im Roman nachzugehen und von dort aus das Verständnis dieses so oft und so klug gedeuteten, dennoch unausgeschöpften Romans voranzutreiben. Dabei spielt ein weiteres Moment eine Rolle: alle Personen des Romans, und das kennzeichnet sie als Menschen, sind außerordentlich aktive Hermeneutiker und Semiotiker. Darin sind sie durchaus auf der Höhe der Zeit. Ohne Unterlaß lesen, schreiben, notieren und archivieren sie, unterreden sie sich, deuten und interpretieren, erkennen und entziffern sie Zeichen in allen Formen, versuchen sie Prognosen, beobachten sie Fakten und entlocken ihnen Sinn. In dieser nie abreißenden hermeneutischen Intensität erweisen sich sämtliche Protagonisten als Angehörige einer literalen Kultur. Lesen, Schreiben, Deuten und Diskutieren sind ihnen die Mittel, Orientierungen auch dort zu entwickeln, wo Wissen nicht vorliegt. Es sind also allzumenschliche Mittel. Durch sie setzen die Personen sich Ziele und Aussichten, die ihnen über Ratlosigkeiten hinweghelfen (sollen). Doch das Tragische des Romans ist, daß alle – wirklich: alle – hermeneutischen oder semiotischen Anstrengungen aussichtslos sind. Sie scheitern, oft sofort, oft später, doch unausweichlich. Es wäre ein verteufelte Dimension des Nicht-Menschlichen, wenn der Roman zeigte, daß das Katastrophische sich unserer Deutungen und Zeichen als Medium bediente. So aber ist es.

Wie öfters zeigt sich auch hierbei, daß der in der Goethe-Philologie und seit Walter Benjamins großem Essays obligate Begriff des Mythischen ein Sammeltitel ist, der jedenfalls in den «Wahlverwandtschaften» die Dimension des Nicht-Menschlichen so gut wie überhaupt nicht trifft. [2] Vielmehr will ich zeigen, daß man bei der Deutung der «Wahlverwandtschaften» auf den Begriff des Mythischen nicht nur vollständig verzichten kann, sondern auch sollte. Was in diesem Roman <nicht-menschlich> ist, gehört durchweg anderen Seinsschichten bzw. Zeichenebenen an als der Mythos.

Als einziges Beispiel, das ich hier genauer analysieren kann, nehme ich das Kelchglas. Dieses ist derart dicht in den Roman verwoben, daß mit ihm mein Vortrag schon erschöpft ist. Ich behaupte aber, daß das, was ich an diesem Trinkglas zeige, paradigmatisch für den ganzen Roman ist und sich an nahezu jedem Gegenstand und jeder Person zeigen läßt.

Grundsteinlegung
Das Fest der Grundsteinlegung des Lusthauses wurde vom Hauptmann absichtsvoll auf den Geburtstag Charlottes gelegt. Doch Eduard münzt es insgeheim auf Ottilien. Ein Maurer, alten Zunftritualen entsprechend, hält eine Rede, bei derem Ende er «ein wohlgeschliffenes Kelchglas auf einen Zug» leert und «in die Luft» wirft: «denn es bezeichnet das Übermaß einer Freude, das Gefäß zu zerstören, dessen man sich in der Fröhlichkeit bedient» (302). «Aber diesmal ereignete es sich anders (...) und zwar ohne Wunder», wie der Erzähler ausdrücklich sagt. Das Glas «wurde von einem aufgefangen, der diesen Zufall als ein glückliches Zeichen für sich ansah» (303). Dadurch wird das Glas nicht nur aus seiner Determination, dem Zerschellen, herausgerissen, wodurch es jene glücksverheißende Symbolkraft, die es in der Intention des Maurers haben soll, instantiell verliert. Sondern der Fänger deutet das Fallen des Glases als einen «Zufall», der eben als <Zu-Fall> «ein glückliches Zeichen» für ihn sein soll. Das Glas <fällt> damit in eine andere semantische Matrix: es wird als Zeichen-Element eines öffentlichen Rituals gelöscht und im <Zu-Fall>, der den physikalischen Ablauf unterbricht, willkürlich umcodiert zu einem privaten Glücks-Zeichen. [3]

Nun ist es wirklich «ohne Wunder», daß etwas, das fällt, gefangen werden kann. In der physikalischen Reihe gibt es keinen Bruch. Sie <bedeutet> aber auch nichts. Das Werfen und Zerschellen des Glas aber soll bedeuten, nämlich Glück und Freude für das künftige Haus – so wie der Grundstein, zum «Denkstein» (301) gemacht, durch allerlei Rituale zum einem apotropäischen Zauberstein, zu einem Fetisch wird, der dem Haus Dauer verleihen soll. Insofern ist der Grundstein, wie das Glas, ein Ding und ein performatives Zeichen in eins. Diese Fusion macht sie zu magischen Objekten. Diese sollen immer nicht-menschliche Mächte, Glück und Unglück, unsichere Zukunft, Feinde und Krankheiten, Ahnen und Geister manipulieren und bannen. Magische Objekte sind Fetische. Der Grundstein ist von vornherein als solcher Fetisch intendiert. Das Glas ist noch keiner, sondern Element einer magischen Handlung. Doch wird, im Fortgang, auch das Glas zum Fetisch, zum Talisman. [4]

Es ist niemals gleichgültig, woraus Fetische zusammengesetzt sind. Der Göttinger Historiker Christoph Meiners, von dem Goethe genaueres über den Fetischismus der Naturvölker erfuhr, spricht von «Fetisch-Bündeln», einem «Complexus von Dingen, welche einen zusammengesetzten Fetisch ausmachen». Ein solches Fetisch-Cluster «enthält nicht selten Produkte menschlicher Kunst: weswegen man sie als eine Mittelart von natürlichen und künstlichen Fetischen (...) betrachten kann». [5] Von genau dieser Art ist der Grundstein als sog. Gemeinschafts-Fetisch, <zwischen> Natur und Kultur, zwischen Technik und Magie stehend.

Nun ist aufschlußreich, daß Eduard das öffentliche Ritual der Fetischisierung des Grundsteins, worin es um die Befestigung der ephemeren menschlichen Einrichtungen geht, insgeheim privatisiert – genau, wie es mit dem Glas geschieht. Der Grundstein als «Denkstein» ist konstruiert wie ein Reliquiar: er ist hohl, eine materielle Umhüllung bedeutsamer Hinterlassenschaften (Relikte, Reliquien). Zu den vorbereiteten zugelöteten Köchern mit Nachrichten «für eine entfernte Nachwelt», gravierten Metallplatten, Weinflaschen, Münzen, sollen nun die Gäste noch etwas vom Ihrigen hinzufügen. Ein Offizier schneidet für diese «Schatzkammer» einige Uniformknöpfe ab, Frauen legen Haarkämme, Riechfläschchen und «andre Zierden» (302) hinein. Rhetorisch gesehen sind diese Objekte kostbare partes pro toto, Synekdochés, welche die spendende Person vertreten. Der Text nennt sie «Kleinode» (302), nicht wegen ihres Sach-, sondern wegen ihres Fetischwertes. In der Höhlung des Grundsteins versammelt sich nach und nach eine Assemblage von Signifikanten, die für die Kultur und die gender-Ordnung der grundherrlichen und patriarchalen Gemeinschaft charakteristisch sind. Die pars-pro-toto-Form teilen die abgelegten Fetisch-Objekte mit Reliquien. Diese sind Heils- und Wunderpartikel des Heiligen, jene sind Partikel von Personen und ihrer Gemeinschaft. Bei beidem geht es um stellvertretende Opfer, um einmal tranzendente, einmal innerweltliche Sekurität zu erzeugen. Goethe schildert also einen profanierten Sozial-Ritus als versteckt religiöses Ritual. Er trifft damit den Status des Religiösen in nachaufklärerischen, modernen Gesellschaften
Die kommunitäre Form des Rituals unterläuft Eduard, der längst schon ein Besessener seiner Leidenschaft und insofern aus dem Gemeinschaftskörper ausgeschert ist. So fordert er Ottilie auf, ebenfalls etwas beizusteuern. «Sie löste darauf die goldne Kette vom Halse, an der das Bild ihres Vaters gehangen hatte, und legte sie mit leiser Hand über all die anderen Kleinode hin, worauf Eduard mit einiger Hast veranstaltete, daß der wohlgefugte Deckel sogleich aufgestürzt und eingekittet wurde.» (302)


Porträtmedaillon des Vaters und Goldkette Ottiliens
Das nun ist ein ausgemachter Symbol-Skandal. Er wird deutlich erst, wenn man ihn zurückbindet an die Ereignisse beim Mühlenspaziergang. Eduard und Ottilie hatten sich in die weglose Wildnis verloren und gerieten somit erstmalig mit ihrer vorzivilisatorischen, präsymbolischen Leidenschaft in Kontakt. Glücklich mit Ottilie zur Mühle gelangt, redet Eduard der jungen Frau aus, noch länger das «Bild des Vaters» (292) auf der Brust zu tragen. Eduard schützt vor, es könne sich ein «unvorhergesehener Stoß, ein Fall, eine Berührung» ereignen, so daß das metallische Medaillon die zarte Brust verletze. «Stoß», «Fall» und «Berührung» aber sind längst eingetreten. Die platte Rationalisierung, die selbst Eduard, der sonst einigermaßen ungehemmt seinem Unbewußten Ausdruck verleiht, «übertrieben» vorkommt, camoufliert nichts weniger, als daß Eduard seine Leidenschaft vom Gesetz des Vaters behindert sieht und dieses außer Kraft setzen will. Carrie Asman hat überzeugend gezeigt, daß die verbreitete Praxis der Portraitmedaillons um 1800 fetischhafte Züge trug. [6] Das Medaillon des Vaters auf der Brust Ottiliens ist ein bannender Fetisch, der diese Vollwaise dem Gesetz des toten Vaters unterstellt. Eduard bewegt sie dazu, das Medaillon abzulegen, während er ihr zugleich einredet, sie könne «das Bild» ja am «heiligsten Ort (i)hrer Wohnung» (292) unterbringen. In dieser kaum getarnten Attacke auf die Vater-Instanz versucht er, die Liebe mit Ottilie aus der symbolischen Ordnung des Vaters auszuklinken und auf einer vorödipalen Ebene zu situieren.

Die versuchte Liquidation der Vater-Instanz hat dabei nichts mit ödipaler Rivalität zu tun. Sondern im Gegenteil soll der Vater verschwinden, um sich diesseits von Ödipus in ein narzißtisches Nirwana ohne Grenzen und Trennungen zu träumen. Diese, historisch gesehen, romantische Figur gilt, obwohl Eduard – als Ehemann Charlottes, die ihrerseits die Ersatz-Mutter von Ottilie ist – für diese eigentlich eine väterliche, fürsorgliche und desexualisierte Rolle übernehmen müßte. Er will aber weder Vater sein noch mit einem imaginären, toten Vater rivalisieren. Sondern der Vater, sowohl in seiner strukturellen Position wie in seiner dynamischen Funktion, soll verschwinden, um einen Raum für jene kurz zuvor in den Roman eingeführte «Richtung gegen das Unermeßliche» (291) zu öffnen. Das Entbundene, Grenzenlose, Unendliche, Maßlose, Ungetrennte, Vereinte wird bis zum Tod zum eigentlichen Charakteristikum von Eduard und Ottilie. Das macht ihre Liebe zu einem Feld, auf dem Goethe seine Auseinandersetzung mit der Romantik weitertreibt (was die Romantiker bei ihrer Lektüre des Romans ebenso wenig bemerkten wie der Großteil der späteren Forschung). Ja, mehr noch: die absolute Verschreibung ans Unendliche der Liebe erzeugt eine Dynamik hin auf den Tod, weil erst der Tod das in sich getrennte und differenzierte Lebendige aufhebt, ja, davon erlöst. Erst der Tod läßt die unendliche Alleinheit, wenigstens imaginär, zu. Darum ist der Liebestod von Ottilie und Eduard eine zwingende, doch nicht-menschliche Folge, die nicht zufällig von Goethe ins Zeichen einer romantischen und volkstümelden Re-Katholisierung und der mater coelestis gerückt wird. [7] So muß das Unermeßliche und Eine vaterlos sein, denn es funktioniert primärprozeßhaft und narzißtisch. Dies ist der tiefere Grund dafür, daß der Vater fort muß von Ottiliens zartem Busen, den sie doch nur einmal «dem freien Himmel» zeigt, als sie nämlich das ertrunkene Wechselbalg im vergeblichen Wunsch, es zu reanimieren, an die Brust legt und dabei «ihren Busen bis ins innerste Herz» (457) verkältet, sich also den Tod holt.

Bei der Grundstein-Legung, die immerhin namens eines Grundherrn und Patriarchen begangen wird, setzt Eduard jenen gegenzauberischen Akt fort, durch den er Ottilie dem Fetisch des Vaters entwindet, indem nun auch noch die Kette des Medaillons in den Gemeinschafts-Fetisch des Grundsteins, diesen mißbrauchend, eingelegt wird: auf undenkbare Zeiten soll damit der Vater ferngehalten und machtlos sein. [8]

Was in der fetischistischen Manipulation mit Medaillon und Goldkette begann, soll mit dem Kelchglas seine Besiegelung finden. Denn dieses Glas ist «eins der Gläser, die für Eduarden in seiner Jugend verfertigt worden» waren und zeigt «die Buchstaben E und O in sehr zierlicher Verschlingung eingeschnitten» (303). Hier nutzt Eduard einen weiteren Zu-Fall für einen Namenszauber: Eduard heißt bekanntlich auch Otto wie der Hauptmann, und hat diesem, um Verwechselungen auszuschließen, den Namen Otto überlassen. [9] So scheint das «O» auf dem Glas frei und unbesetzt. Gemäß seiner Absicht, die öffentliche Grundsteinlegung an Charlottes Geburtstag zu einem heimlichen Ritual seiner Vereinigung mit Ottilie umzucodieren, soll nunmehr das unbesetzte O an seinem Namensglas Ottilie stellvertreten und die ornamentale Verschlingung der Buchstaben soll zum Glücks-Emblem ihrer narzißtischen Symbiose werden, – gerade indem der Maurer, der ahnungslos als Priester der symbolischen Hochzeit von E und O agiert, das Glas zerschellen lassen soll.

Beklommen fragt sich der Leser , ob ein Segen über diesem Haus und seine künftigen Bewohner liegen kann, wenn zweifach das öffentliche Zunft-Ritual zu Zwecken eines privaten Fetischzaubers des Hausherren zweckentfremdet wird. Der Leser mag sich weiter fragen, ob denn der private Glückszauber Eduards <unter einem guten Zeichen> steht, wenn der Zufall es will, daß auch dieser Ritus nicht zu seinem Ziel findet, indem das Glas von einem dritten «als ein glückliches Zeichen» auf- und eingefangen wird. Tatsächlich ist weder dem Haus noch der Liebe Glück beschert, auch wenn beide, Haus und Liebe, unter einem zauberhaften Bann bleiben, doch nicht des Glücks, sondern des Unheils. So muß der Leser befürchten, daß das, was hier als Glückszauber, öffentlich oder heimlich, veranstaltet wird, sich unter der Hand, von niemand gewollt, zu einem Zeichen des Unheils verwandelt. Das wäre, inmitten dieser abergläubischen Veranstaltungen der Menschen, das Nicht-Menschliche.

Das Kelchglas als Fetisch
Eduard aber, der eingefleischteste Fetischist in diesem Roman, versteht es, die zufällige <Ablenkung> des Glases aus der Bahn seiner physikalischen und semiotischen Bestimmung zu seinen Gunsten auszulegen. [10] Viel später, in seinem ländlichen Exil, wo ihn Mittler besucht, um ihn von der Schwangerschaft Charlottes zu unterrichten, – da treffen wir auf einen Eduard, der fundamentalistisch an die Objektivität der Zeichen glaubt, die er doch in äußerster Willkür selber erst hervorgebracht hat: «Mein Schicksal und Ottiliens ist (sic!) nicht zu trennen, und wir werden nicht zugrunde gehen. Sehen Sie dieses Glas! Unsere Namenszüge sind dareingeschnitten. Ein fröhlich Jubelnder warf es in die Luft; niemand mehr sollte daraus trinken, auf dem felsigen Boden sollte es zerschellen; aber es ward aufgefangen. Um hohen Preis habe ich es wieder eingehandelt, und ich trinke nun täglich daraus, um mich täglich zu überzeugen, daß alle Verhältnisse unzerstörlich sind, die das Schicksal beschlossen hat.» (356)

Schwerlich ist diese Rede an semiotischer Willkür zu übertreffen. Sie zeigt eindrucksvoll, wie sehr jemand zum Opfer seiner eigenen fetischistischen Manipulationen werden kann. Der narzißtische Solipsismus Eduards weckt den Wahn, Herr über den semiotischen Prozeß selbst werden und ihn beliebig dirigieren zu können. Gerade diese idée fixe aber führt zum Gegenteil des Intendierten. Die selbsterzeugte Gewißheit, unter einem guten Schicksal zu stehen, treibt die Katastrophe an. Das magisch erzwungene Glück der unzerstörbaren Vereinigung mit Ottilie verbirgt den Mechanismus der Zerstörung und des Todes. Darin unterscheidet sich Eduard, der ausgerechnet von Ottilie des Alkoholismus bezichtigt wird (347), nicht von einem Drogen-Süchtigen. Tatsächlich agiert Eduard als Trunkener und Berauschter im Reich der Zeichen, dessen Souverän er zu sein wähnt. Was also geschieht? Ohne jeden Hiatus kann Eduard, der doch selbst das Glas als Zeichen seiner ewigen Liebe zu Ottilie zerschellen lassen wollte, den «Zufall» seiner Erhaltung umdeuten zu einem untrüglichen Zeichen der Unverbrüchlichkeit ihrer Beziehung. Ist es zuerst die Manipulation des Glas-Rituals, wo das Zerschellen keineswegs das eheliche Lusthaus konfirmieren, sondern den Schicksalsbund mit Ottilie besiegeln soll, so ist es dann, umgekehrt, der zufällige Erhalt des Glases, der zum Symbol des «Schicksals» stilisiert wird. «Um hohen Preis» kauft Eduard das Glas dem Fänger ab, für den tatsächlich der <Zu-Fall> ein Glück war, nämlich Geldes wert. Indem Eduard kauft, was ihm doch als Kind geschenkt wurde, holt er das Glas, das der Zufall seiner semiotischen Willkür entwendete, in diese zurück zum Zweck neuer, diametral entgegengesetzter Bedeutungszuweisung. Das Glas, aus dem er täglich die Zeichen der untrennbaren Liebe in sich hineintrinkt – oral-narzißtischer kann man das Semiotische nicht darstellen –, wird für Eduard zum Fetisch in einer quasisakralen Zeremonie.

Man kann es dem aufklärerischen Ex-Geistlichen Mittler, der sich zum profanen Pastoraldienst an der Vermittlung der Menschen durch rigorose Affirmation der Ehe aufwirft, kaum verdenken, daß er Eduards Fetisch-Dienst entsetzt als «Aberglaube» (357) abtut – nicht anders als die christlichen Missionare, als sie auf den Fetischkult afrikanischer Stämme stießen. Doch Mittler, in seinem fanatischen Institutionen-Rationalismus à la Hegel, ist selbst von abergläubischen Semiosen infiziert – so wenn er sich scheut, den Kirchhof zu betreten (254) oder wenn er dem Grafen und der Baronesse nicht begegnen kann, weil sie ihm «ein Unstern» sind, der «nichts als Unheil» bringe (306). Willkürliche Zeichenauslegung zu eigenen Gunsten ist ihm das «Schädlichste» und er mag die Orientierung von <Zeichen> nur anerkennen, wenn man nicht nur das schmeichelnd Erwünschte, sondern auch «die warnenden Symptome» (357) erkennt. Doch gerade darin versagt niemand so peinlich wie Mittler selbst: weder bei der Taufe des Kindes nimmt er die Zeichen des Herzanfalls des alten Geistlichen wahr und redet so diesen zu Tode; noch erkennt er die Anzeichen des Unheils, als Ottilie seine donnernde Predigt über den Ehebruch anhören muß, was wiederum ihren Tod nahezu instantiell herbeiführt. [12] So zeigt der Aufklärer Mittler eine Position, die im Vollbewußtsein des Wissens die Zeichen zu Prognosen zurechtmanipuliert, die sich sämtlich blamieren; oder der gar, in bester Absicht, Deutungen hervorbringt, die wie ein mächtiger Schadenszauber wirken und tödliches Unheil anrichten. Mittler hat als letzter ein Recht, die Fetisch-Praxis Eduards zu kritisieren. Jener, inmitten seiner vollmundigen Menschlichkeit, wirkt so unmenschlich, wie dieser, inmitten seines magischen Vertrauen aufs Übermenschliche, ungewollt dem Unheil den Boden bereitet, das alles Menschliche verschlingt. Derart gewinnt das Nicht-Menschliche über die Personen Macht.

»Sich selbst zum Zeichen machen» : ein fataler Versuch
Zu einem späteren Zeitpunkt, nach überstandenem Kriegszug, zurück am Ort seines ländlichen Idylls, im Gespräch mit dem Hauptmann, formuliert Eduard in einer Art Clairevoyance den «Wahn» seiner semiotischen Willkürakte: «So manche tröstliche Ahnung, so manches heitere Zeichen hatte mich in dem Glauben, in dem Wahn bestärkt, Ottilie könne die Meine werden. Ein Glas mit unserm Namenszug bezeichnet, bei der Grundsteinlegung in die Lüfte geworfen, ging nicht zu Trümmern; es ward aufgefangen und ist wieder in meinen Händen. <So will ich denn mich selbst>, rief ich mir zu, als ich an diesem einsamen Orte soviel verzweifelte Stunden verlebt hatte, <mich selbst will ich an die Stelle des Glases zum Zeichen machen, ob unsere Verbindung möglich sei oder nicht. Ich gehe hin und suche den Tod, nicht als ein Rasender, sondern als einer, der zu leben hofft. Ottilie soll der Preis sein, um den ich kämpfe; sie soll es sein, die ich hinter jeder feindlichen Schlachtordnung, in jeder Verschanzung, in jeder belagerten Festung zu gewinnen, zu erobern hoffe. Ich will Wunder tun mit dem Wunsche, verschont zu bleiben, im Sinne, Ottilien zu gewinnen, nicht sie zu verlieren.>» (447)

Dieses martiale Roulette steht wohl einzigartig in den preußisch-napoleonischen Kriegen da und ist allenfalls eines Kleists würdig. Und da Eduard lebt, ist der zwingende Schluß: «Ottilie ist mein». Alles, was zwischen ihr und ihm stünde, sieht er «für nichts bedeutend» (447) an – selbst seinen Sohn, den der Hauptmann in dieses Schlachtfeld der Zeichen einführt und den Wahn Eduards apotropäisch entgegenhält. Elternschaft, so Eduard, sei bloßer «Dünkel». Wenn ein Glas <an die Stelle> von Eduard und Ottilie treten und wiederum Eduard sich <an die Stelle> des Glases setzen kann, dann wird alles mit allem vertauschbar: die Ziehtochter der Ehefrau soll zur Frau des Ehemannes, die Ehefrau wiederum zur Frau des gleichnamigen Freundes werden; der Freund soll Vater des Kindes werden, das ihm ohnehin ähnlich sieht. Und die Ziehtochter der Ehefrau soll als Frau des Ehemanns Ersatz schaffen für das tote leibliche Kind des Ehepaars. Als der dritte Otto, das Kind, gestorben ist, dekretiert der Tyrann der Zeichen ungerührt, daß durch «eine Fügung (...) jedes Hindernis an seinem Glück auf einmal beseitigt wäre» (461) –: <beseitigt> sagt Eduard, als spräche er vom Unkraut in seinem Park oder einem mißglückten Schriftzeichen, das gelöscht werden muß.

Das dies nicht gelingen kann, hätte ihn schon die Episode mit dem Tintenklecks lehren sollen. Charlotte hatte versehentlich ihren eigenhändigen Zusatz zum Einladungsbrief Eduards an den Hauptmann «verunstaltet»: je mehr sie den Klecks «wegwischen» will, um so mehr vergrößert sie ihn, bis der niemals verlegene Deutungskünstler Eduard diese Mißgeburt der Schrift auf dem gemeinsamen Brief des Ehepaars flugs zurechtdeutet zu einem «Zeichen» der «Ungeduld», womit der Hauptmann «erwartet werde» (257). Hier schon deutet sich die willkürliche semiotische Propf-Praxis Eduards an, der nicht umsonst eingeführt wird als hantierend mit Propfreisern, einer neumodischen Technik, die der alte Gärtner später kritisiert (350). Wie Eduard die Tradition der Park- und Gartenkultur nach Willkür außer Kraft setzt und damit gewachsene Formen zerstört (ähnlich macht es Charlotte mit dem Kirchhof), so hebelt Eduard auch die Regeln der Semiose aus, um an die Stelle der delikaten Verbindung (oder Bindung) von Signifikant und Signifikat eine neue herrschaftliche Instanz zu kreieren: die absolutistische Signifikation selbst, die er in Regie zu nehmen beansprucht wie Garten und Park. [13]   Beides aber geschieht, was nicht ausgeführt zu werden braucht, im Schema dessen, was Goethe und Schiller als ästhetischen, literarischen, gärtnerischen und moralischen Dilettantismus entworfen hatten. Eduard ist von Beginn an bis in seinen Tod, den er schließlich als stümperhafte Nachahmung Ottiliens begreift, der geborene Dilettant. Aber doch ein radikaler.

Denn das ist wohl unerhört: daß Eduard nicht nur Zeichen willkürlich auslegt, sondern sich selbst zum Zeichen einsetzt in einem Krieg, der dadurch zu einer rigoros privaten Mischung von Experiment und Lotterie, von Versuch und Versuchung, von Hybris und Leidenschaft mutiert. Dies ist eine Profanierung des Gottesurteils in traditionalen Gesellschaften, für Goethe ebenso romantisch wie pathologisch. Es ist ein <Versuch> Eduards, der zugleich eine <Versuchung> ist, eine nicht mehr menschliche Überdehnung des Subjekt-Anspruchs und der Bedeutungsproduktion. Wenn der Roman, bereits im Titel, sich mit dem naturwissenschaftlichen Experiment verbindet; wenn der Autor selbst die Erzählung zu einer kühlen Abfolge von <Essays> macht im Schema seiner Abhandlung «Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt»; wenn jeder Protagonist, selbst Ottilie, und selbstverständlich auch die Nebenfiguren wie Mittler, die Engländer, der Architekt, der Gehilfe, Luciane, der Graf und die Baronesse –; wenn also alle Figuren sowohl Versuchspersonen im Experimentalspiel des Erzählers wie selbst Experimentoren sind, die <Versuche> entwerfen und durchführen –: dann ist trotz dieser Verwandtschaft aller Figuren Eduard doch der radikalste. Er setzt sich selbst «an die Stelle» des synekdochetischen Fetisches und kreiert damit eine <unmögliche>, man darf sagen, nicht mehr menschliche rhetorische Figur: totum pro parte. Eduard ist der Experimentator, der sich in toto zur Versuchsperson macht, ein ebenso grandioser wie wahnsinniger Selbstversuch, eine Lotterie, worin er den eigenen Tod gegen Ottilie als Preis einsetzt.. [14] Bereits im 1. Kapitel will Eduard die Frage, ob man den Hauptmann einladen solle, durch «Los» entscheiden. Dies veranlaßt Charlotte zu der Bemerkung, daß Eduard überhaupt «in zweifelhaften Fällen gerne» wettet und würfelt, was sie für «Frevel» hält (248). Diese ebenso infantile wie größenwahnsinnige Spielernatur wird im Zeichenexperiment des Krieges zum Nec plus Ultra getrieben: es ist eine heillose, im Effekt nicht-menschliche Variante der Ästhetik des Versuchs, die Goethe in und mit diesem Roman ausprobiert. [15]

Da Eduard im radikalsten aller denkbaren Zeichen-Versuche <gewonnen> hat, so ist er im Feuer des Krieges zu einem gestählten Zeichen geworden, leibhafte und absolute Garantie der Zugehörigkeit Ottiliens zu ihm. Er hat sie beide im Labor des Krieges zusammengeschmiedet und darum ist, in unheimlicher Weise, fortan alles, was sie nicht selbst sind, «nichts bedeutend» (447). Gerade weil Eduard dieses eine, absolute Zeichen herausprozessiert hat – eine finale Form der Fusion von Zeichen und Bedeutung, von Fleisch und Geist –, so sind für ihn alle anderen gegeneinander tauschbar. In seinen Reden setzt er eine taumelnde Zirkulation und Vertauschung von Bedeutungen und Personen frei. Dies ist tatsächlich ein Effekt des Nicht-mehr-Menschlichen seiner semiotischen und hermeneutischen Operationen. In gewisser Hinsicht ist dies auch eine Parodie der Tausch-Logik, welche im chemischen Wahlverwandtschafts-Gleichnis angelegt ist, wenn dieses nicht selbst schon eine Parodie des Erzählers wäre oder wenigstens zu den «sehr ernsten Spielen» des Autors gehörte.

Denn was hier als Ergebnis naturwissenschaftlicher, mithin gesetzlicher Experimentallogik ausgestellt wird, ist mit einem anthropomorphisierenden Begriff belegt, der wiederum von den Protagonisten mutwillig benutzt wird, um auf menschliche Verhältnisse rückübertagen zu werden (270-277). Hier bereits finden tropische Wendungen statt, bei denen Grenzen überschritten werden, welche die Bereitschaft erhöhen, sich der «Richtung gegen das Unermeßliche» (291) zu überlassen, als könne man dort noch auf irgendwelche Formen und Regeln vertrauen. Gewiß verhalten sich die Protagonisten experimentell, doch eher im Sinn eines Spiels willkürlicher Vertauschungen. Diese führen zu Konsequenzen, die in jedem einzelnen Fall, wie man zeigen kann, gerade nicht jener chemischen Ordnung entspricht, unter deren emblematische Überschrift der Roman wie die Protagonisten gestellt sind. Die «Gleichnisrede» (270) von den Wahlverwandtschaften spricht von geregeltem Tausch; während diese Rede selbst eine ungeregelte Vertauschung der Modalitäten von Zeichen und Bedeutungen ist, die im wahrsten Sinn die Figuren aufs Spiel setzt. Ein Spiel ohne Grenzen. Die experimentelle Semiotik findet nur ein Scheindeckung in den chemischen Wahlverwandtschaften. Die Protagonisten bedienen sich ihrer, um jedwedes Reales zum bloßen Substrat ihrer willkürlichen Zeichenoperationen zu machen. Niemals tritt ein, was das Gesetz der Wahlverwandtschaften erwarten läßt; wie auch niemals eintritt, was die Figuren im Vertrauen auf ihre Deutungen und Zeichenkunde zu erwarten sich berechtigt glauben. [16]

Grenzen des Fetischismus und der Zeichenwillkür im Tod
Diesem unlimitierten Spiel der Zeichen werden indes Grenzen gesetzt. Man erkennt, daß die Protagonisten ohne Bewußtsein Grenzen und Maße überschreiten, die sie dem nicht kalkulierbaren Nicht-Menschlichen aussetzen. Das wird am Ende des Romans erneut durch das Kelchglas demonstriert, dem ich mich, nach einem Umweg, abschließend erneut zuwende.
Nach dem Tod Ottiliens «lebte» Eduard «nur vor sich hin», teilnahmslos, in einem Zustand narzißtischer Starre, hantierend höchstens mit den Fetischen und Reliquien – «das ihm von Ottilien Übriggebliebene» (490) –, die er in einem «Kästchen», wie in einem Reliquiar, untergebracht hat. In genauer Spiegelung korrespondiert das «Kästchen» dem «Koffer», den – angefüllt mit weiblichen Preziosen der Mode und des Schmucks – Eduard einst Ottilien geschenkt hatte. In einem «verborgenen Fach» (480) im Kofferdeckel hat Ottilie alle Memorial-Fetische ihrer Liebe untergebracht, doch auch das Porträtmedaillon des Vaters. Sie verschließt das Geheimfach mit einem «zarten Schlüssel», den sie «an dem goldnen Kettchen wieder um den Hals an ihre Brust hing» (480) – was nun wirklich ein semiotisches und materiales Wunder ist, glaubt doch der Leser das Goldkettchen wohlverwahrt im Grundstein des Lusthauses. Koffer und Inhalt entsprechen genau dem Verhältnis von Reliquiar und Reliquie, von fetischistischer Figur und eingeschlossenem Geheimnis. Im Sinn von Krysztof Pomian sind der Koffer Ottiliens und das Kästchen Eduards Semiophoren, Gefäße von geheimnisvoll-heiliger Bedeutung. [17] Nichts anderes sind Fetische.

Im Bann ihrer Fetische agieren Ottilie und Eduard bis zuletzt. In stummer Symbiose bewegen sie sich durchs Schloß wie Automaten, die von einer außermenschlichen Kraft – eben jener oft zitierten «unbeschreiblichen, fast magischen Anziehungskraft» (478) – gesteuert werden: Sie sind zu subjektlosen Darstellern, zu programmierten Puppen ihres Unbewußten geworden, das niemals auf etwas anderes zielte als eine solche präsymbolische Symbiose in völligem Gleichklang und Gleichgewicht.

Die Grenzen, die der Erzähler hierbei markiert, fallen bei Ottilie und Eduard verschieden aus. Während Eduards Fetisch-Sammlung homogen zu sein scheint, gilt dies nicht für Ottilie. Inmitten der Reliquien ihrer Liebe verwahrt sie das Bild des Vaters. Hatte Eduard ihr seinerzeit eingeräumt, das Medaillon im «Andenken» oder am «heiligsten Ort (i)hrer Wohnung» (292) aufzubewahren, so hat sie dem Bild tatsächlich einen Platz im <Allerheiligsten> gegeben. Das aber heißt, daß Eduards Absicht, mit dem Entfernen des Medaillons vom Busen Ottiliens zugleich das Gesetz des Vaters zu annihilieren, nicht rein aufgegangen ist. In der Anordnung der Fetische im Koffer stellt sich eine Ambivalenz Ottiliens dar, welche bis in ihren Tod nicht aufgelöst wird. So rückhaltlos, bis zum bewußtlosen Automatismus, sie sich der symbiotischen Fusion mit Eduard überläßt, so wenig gelingt die völlige Auslöschung ihrer moralischen Verpflichtungsgefühle, welche ihr – au nom du père absent – diese Liebe untersagen. Das mag mit dem Aufbewahren des Vater-Porträts unter all den Liebes-Fetischen im Geheimfach des Koffers angedeutet sein. Doch zwischen Medaillon und Liebes-Fetischen besteht ein unaufhebbarer Widerspruch, der Ottilie zu einem nicht-menschlichen Kompromiß zwang, man möchte sagen: zu einem absoluten Kompromiß, wenn es so etwas geben kann. Ihr theatrales Programm der Verheiligung; die verlockende wie unheimliche Mimikry der Mutter Maria im tableau vivant (402-5) und auf dem Weg des trappistischen «Ordensgelübdes» (477); das anorektische Auslöschen des Fleisches im Dienst einer immer reineren Spiritualisierung [18] ; schließlich ihr Tod und ihre Resurrektion als wundertätige Heilige besonders für Mütter und Kinder; – all dies sind Stufen, über die die verleugnete symbolische Ordnung des Vaters reinstalliert wird. Sie vollzieht sich als Re-Katholisierung dieser jungen Frau in einem protestantischen Milieu, das auf Selbstverantwortung, Autonomie und De-Symbolisierung, also auf Ich-Werdung hinausläuft (solche Prinzipien vertritt der Gehilfe). Das Gesetz des Vaters wird reinstalliert gerade im Medium, in der Sprache und in religiösen Symbolen des Weiblichen.

Doch dies erfolgt nicht eindeutig. Denn der Akt der Verheiligung und des freiwilligen, die Schuld aller Beteiligten sühnenden Opfertodes ist zugleich ein Akt der Vereinigung ad infinitum mit dem verbotenen Objekt Eduard. Beigesetzt wird sie in einem Kleid, das sie zuletzt aus den herrlichen Stoffen geschneidert hatte, die im Koffer bewahrt wurden. Nanny hatte nicht zufällig dieses Kleid als «Brautschmuck, ganz Ihrer wert» (483) angesprochen: so wird die Beerdigung als himmlische Hochzeit mit Eduard in Szene gesetzt, keineswegs mit dem himmlischen Bräutigam Christus an der Seite des Gott-Patriarchen. Als Hochzeit inszeniert Eduard seinen eigenen Tod nach.

Ottilie stirbt an dem – im Goetheschen Wortsinn – ungeheuren, durch nichts zu tarierenden Widerspruch, der zwischen einer symbiotischen Leidenschaft, die sich ins Primärprozeßhafte, Fetischistische, Magische, mithin: ins Präsymbolische eingekapselt hat, und dem Gesetz des Vaters besteht, das weder an lebende noch tote Väter, noch überhaupt an Personen oder Institutionen gebunden sein muß. Sondern dieses Gesetz entwickelt seine unbeugsame Macht als ins Unbewußte versenktes Gewissen. Dieser Widerspruch ist vielleicht mehr, als ein Mensch ertragen kann. Er zerreißt Ottilie im Unbewußten selbst. Darum zähle ich ihn zum Nicht-Menschlichen, dessen Opfer sie wird. Die anderen Deutungen, die der Erzähler halb großmütig halb ironisch zuläßt, um diesen unheimlichen Tod zu einem Zeichen zu machen, das man lesen und deuten kann, sind nur Camouflagen des Unsagbaren, Schrecklichen und Lächerlichen dieses Todes.

Auch Eduard wird vom Erzähler, ohne Mitleid, an die Grenzen seines semiotischen Absolutismus und seiner fetischistischen Willkür geführt. Mit Bedacht wählt der Erzähler dafür das Kelchglas, das wie nichts anderes eine magische Versicherung der Unzerstörbarkeit der Liebe sein sollte. Über den fastenden, Ottilie imitierenden Eduard berichtet der Erzähler im Präsens: «Nur noch einige Erquickung scheint er aus dem Glase zu schlürfen, das ihm freilich kein wahrhafter Prophet gewesen. Er betrachtet noch immer gern die verschlungenen Namenszüge, und sein ernstheiterer Blick dabei scheint anzudeuten, daß er auch jetzt noch auf Vereinigung hoffe.» (489) Es ist tatsächlich ein Schein, dem Eduard hingegeben ist, – wie überhaupt der Erzähler auffallend häufig die figurenperspektivischen Deutungen durch das irrealisierende «es scheint» begrenzt. Hier nun stellt sich heraus, daß das Glas, aus dem Eduard seinen privaten Abendmahlswein schlürft, nicht mehr dasselbe ist, welches einst bei der Grundsteinlegung, so wunderbar gerettet, ihm zum Fetisch seiner Liebe wurde. Es zerbrach – und der Diener hatte ihm ein gleiches «untergeschoben», was Eduard «eines Tages» «mit Entsetzen» an einem «kleinen Kennzeichen» bemerkt. [19] Es hat lange gedauert, bis das in die Luft geworfene Glas endlich doch auf der Erde zerschellt. Damit, glaubt Eduard, ist «sein Schicksal ausgesprochen» (489). Er stirbt Ottilie nach, nicht ohne sein Sterben, in einem hellen Augenblick, ebenso als Notwendigkeit wie als unauthentischen Dilettantismus zu demaskieren.

Damit ist auch getroffen, was der fake mit dem Kelchglas bedeutet. Der fetischistische Bann, in dem Eduard sein Glück gesichert wähnt, erfordert eine essentielle Verschmelzung von Ding und Bedeutung. Diese aber besteht niemals. Sie wird durch magische oder semiotische Prozeduren künstlich hergestellt. Sie trägt also genau die Spuren von Kontingenz und Arbitrarität, die das Zeichen auf keinen Fall aufweisen soll und doch immer zeigt. Eduards Leben ist eine großartige Verleugnung des Zufalls, den der Erzähler nicht nur gegen Eduard, sondern gegen alle Figuren an ins Feld führt, als das Medium, durch welches sich die Willkür und Arbitrarität der hermeneutischen Akte, sie sich so substantiell geben, enthüllt. [20] Bis in den Tod bleibt Eduard seiner Zeichenauffassung treu, die, philosophisch gesehen, essentialistisch ist; ethnologisch gesehen: fetischistisch; psychoanalytisch betrachtet: narzißtisch; religionsgeschichtlich gesehen: pagan und magisch; moralisch gesehen: egozentrisch.

Die Vertauschung des Glases machte solange nichts aus, als Eduard sie nicht bemerkte. Das heißt: der fetischistische Zeichengebrauch ist ein Placebo-Effekt. Er könnte Eduard darauf aufmerksam machen, daß alle Zeichen kontingent sind und es in ihnen selbst keinerlei sichere Verankerung des Sinns gibt. Zeichen dieser Art sind menschlich, allzumenschlich. Dies anzuerkennen, hätte Eduards Leben retten können. Doch er darf aus dem falschen Glas keine «Erquickung» mehr trinken: nur das authentische Glas bedeutet, was es ist, nur bei ihm fällt Sein und Bedeutung zusammen. Dieser Zeichenbegriff ist nicht-menschlich. Daß er rückhaltlos Besitz von Eduard ergriffen hat, macht die Katastrophe aus. Der fake mit dem falschen Glas tötet Eduard. So wie er im Krieg sich «an die Stelle» des Glases setzte und damit ein Spiel mit dem Tod provozierte, so <bedeutet> nunmehr der <Tod> des Glases seinen eigenen Tod. Für sein archaisch-magisches Bewußtsein gilt, daß der Tod in effigie ein wirklicher Tod ist. Eduard stirbt an einer Metapher, dem falschen heilen Glas. Das ist auch lächerlich. Seine Tragik indes ist, die ihn vielleicht doch zu einem «Kompatrioten» Ottiliens wenn zwar nicht im Himmelreich des Zeichen, so doch in der Prosa des Romans macht, – seine Tragik ist, daß er stirbt im Bewußtsein, daß nicht nur sein Tod, sondern das Leben, das jenen zur Konsequenz hat, eine Täuschung war, eine fake, ein substanzloses Dilettieren, ein gänzlich unauthentisches Dasein – eben weil es nichts anderes zum Ziel hatte als Authentizität und Substanz.

[1] "Die Wahlverwandtschaften" werden durch Seitenangaben in Klammern zitiert nach der Hamburger Ausgabe Bd. VI. #

[2] Benjamin, Walter: Goethes Wahlverwandtschaften (1922); In: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1980, Bd. I/1, S. 123–201. – Besonders scharfsinnig in den mythologischen Ausdeutungen, ohne das dekonstruktive Spiel Goethe mit dem Mythos zu durchschauen ist Buschendorf, Bernhard: Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der 'Wahlverwandtschaften'; Frankfurt am Main 1986.

[3] Mein Spielen mit Fallen und Zufall nimmt eine Romanstruktur auf, in welcher der Zufall als richtungsveränderndes Ereignis eine regieführende Rolle spielt und oft mit Fall, Fallen, Stürzen (doch auch mit dem Fall aller Fälle, dem Sündenfall) kombiniert wird. – Vgl. dazu Hammacher, Werner: *  *  * Das Beben der Darstellung. In: Wellberry, David (Hg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen von Kleists "Das Erdbeben in Chili". München 1985, S. 149-173. – Es gilt hier, auf Karl Philipp Conz und Johann Friedrich Ferdinand Delbrück hinzuweisen, die 1809/10 zu den ersten Rezensenten des Romans gehörten und leider ohne Nachfolge auf die au§erordentliche Rolle des Zufalls hinwiesen. Conz, Lyriker und Repetent am Tübinger Stift, dort auch Lehrer Hölderlins, wies in Cotta's Morgenblatt für die gebildeten Stände  (25.-28.12.1809) auf die wichtige Stelle in"Wilhelm Meisters Lehrjahre" hin, wo die Theatertruppe im Gespräch ich im Serlo und Wilhelm über Drama und Roman diskutieren und dem Zufall im Roman eine strukturelle Rolle zugesprochen wird, dem Schicksal aber für das Drama (HA VII, 307ff). Delbrück (in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 18.u.19.1.1809) referiert ebenfalls auf die Wilhelm-Meister-Stelle und analysiert ausführlich und scharfsinnig die bedeutende Funktion des Zufalls in den "Wahlverwandtschschaften". Beide Rezensionen in: Härtl, Heinz (Hg.):  "Die Wahlverwandtschaften". Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808-1832; Berlin 1983, S. 90-99; 114-121.

[4] Vgl. über Goethes Kenntnis und Verwendung von Fetisch und Idol Böhme, Hartmut: Fetisch und Idol. Die Temporalität von Erinnerungsformen in Goethes Wilhelm Meister, Faust und Der Sammler und die Seinigen. In: Matussek, Peter (Hg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur; München 1998, S. 178-201.

[5] Meiners, Christoph: Allgemeine kritische Geschichte der Religionen; 2 Bde. Hannover 1806/07; darin: Geschichte des Fetischismus,  Band 1, 2. Buch, S. 142-290, hier: S. 157/8.

[6] Asman, Carrie L.: Zeichen, Zauber, Souvenir. Das Porträtmedaillon als Fetisch um 1800. In: Weimarer Beiträge 43 (1997), S. 6–16. – Vgl. auch von ders.: Kunstkammer als Kommunikationsspiel. Goethe inszeniert eine Sammlung. In: Johann Wolfgang Goethe: Der Sammler und die Seinigen, hg.v. Carrie Asman; Berlin 1997, S. 119–177. – C. Asman bereitet eine Habilitationsschrift vor, in welcher der Fetischismus in der Goethe-Zeit breiter dargestellt wird.

[7] Auch dies ist als ironische Wendung gegen die katholisierende Romantik zu lesen, was wenigstens der umtriebige Karl August Böttiger in seiner Rezension (Zeitung für die elegante Welt, 23.1.1810) bemerkt hat, wenn er im Zusammenhang mit Ottiliens Verheiligung davon spricht, da§ diese "mit einer verfehlten Tendenz gewissen fantastischer Kunstmenschen in Einklang... steht" (in: Härtl, vgl. Anm. 3, S. 109).

[8] Wie denn alle Väter in den "Wahlverwandtschaften" eigentümlich entmächtigt sind: der Vater Eduards, dessen Hinterlassenschaft nichts mehr gilt; der heimatlose, nomadische Engländer, dessen Sohn nach Indien gegangen ist und dessen heimtliche Güter veröden. Zur Depotenzierung der Vater-Instanz gehört auch, da§ für Eduard das Väterliche so gleichgültig ist, da§ er sein eigenes Vater-Sein dem Hauptmann zum Tausch anbietet, zusammen mit einem Frauen-Tausch: zu solch kühnen Wendungen ist nur fähig, wer wie Eduard vor dem …dipalen in eine primärproze§hafte Stufe ausweicht. Diese lä§t ein ständiges Gleiten und Vertauschen aller Positionen und Signifikanten im Dienst des beherrschenden begehrens zu.

[9] Zum Namenspiel im Roman vgl. Oellers, Norbert: Warum eigentlich Eduard? Zur Namen-Wahl in Goethes "Wahlverwandschaften". In: Genio Huius Loci. Dank an Leiva Petersen, hg. v.: Kuhn, Dorothea / Zeller, Bernhard, Köln 1982, S. 215–235. – Schlaffer, Heinz: Namen und Buchstaben in Goethes "Wahlverwandtschaften". In: Bolz, Norbert W. (Hg.): Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur; Hildesheim 1981, S. 211-229 (letzterer mit scharfen Einsichten in die Irrläuferein der hermeneutischen Anstrengungen der Protagonisten).

[10] Es ist nicht ohne Ironie (und zugleich ein hübsches Beispiel für die Karriere des Fu§- und Schuh-Fetischismus im 18. und 19. Jahrhundert), wenn Eduard durch den Grafen mit einer Geschichte der sexuellen Sitte der "Sarmaten", den Schuh der geliebten zu küssen und aus ihm auf ihre Gesundheit zu trinken, in eine erotische Stimmung versetzt wird – der Graf verbindet diese Geschichte mit einem Lob der erotischen Attraktion von Charlottens Fu§. Wenig später vollzieht sich jene verhängnisvolle 'Liebesnacht', aus welcher das Kind mit den vier Eltern hervorgeht.

[11] Zur kolonialen Vorgeschichte des Fetischismus vgl. u.a. Palme, Heide:  Spiegelfetische im Kongoraum und ihre Beziehung zu christlichen Reliquiaren; Wien 1977. -  Was sind Fetische? Ausstellungskatalog hg. v. Museum für Völkerkunde Frankfurt; Frankfurt am Main 1986.

[12] Deswegen ist Mittler aber noch nicht ein Todesbote, gar Hermes, wie Heinz Schlaffer annimmt (Anm. 9).

[13] Sozial gesehen stellt Eduard nicht eine Verbürgerlichung des Adels dar, sondern im Gegenteil lä§t sich an ihm eine Art vorrevolutionärer, privater Absolutismus ablesen. Achim von Arnim, Kenner des Milieus, schreibt an Bettine Brentano am 5. November 1809: "Diese Langeweile des unbeschäftigten, unbethätigten Glückes, die Göthe in der ersten Hälfte des ersten Bandes so trefflich dargestellt hat, hat er mit viel Beobachtung in das Haus eines gebildeten Landedelmannes unserer Zeit einquartiert." Es folgen weitere scharfe Beobachtungen des adligen Landlebens (in Härtl, vgl. Anm. 3, S. 70/71). August Wilhelm Rehberg spricht von Eduard als einem "baronisierten Wilhelm Meister" (Allgemeine Literatur-Zeitung 1.1.1810, in Härtl, vgl. Anm. 3, S. 104). 

[14] †brigens macht es Ottilie bei ihrem Vorsatz, eine Heilige zu werden, nicht anders: sie setzt sich, den Tod riskierend, einem Selbstversuch aus. Im Sinne der Diskussion über Drama und Roman im "Wilhelm Meister" sind beide Pathetiker. Sie inszenieren noch ihren Tod.

[15] Zum Experimentalstil des Romans vor dem Hintergrund der Goetheschen Naturwissenschaft vgl. die einsichtige Studie von Thadden, Elisabeth von: Erzählen als Naturverhältnis – "Die Wahlverwandtschaften". Zum Problem der Darstellbarkeit von Natur und Gesellschaft seit Goethes Plan eines "Roman über das Weltall"; München 1993.

[16] Zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund der chemischen Gleichnisrede und ihre Bedeutung im Roman ist immer noch am besten die gründliche Arbeit von Adler, Jeremy: "Eine fast magische Anziehungskraft". Goethes "Wahlverwandtschaften" und die Chemie seiner Zeit; München 1987.

[17] Pomian, Krzystof:  Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln;  Berlin 1988.

[18] Vgl. Hörisch, Jochen: "Die Himmelfahrt der bösen Lust" in Goethes "Wahlverwandtschaften". Versuch über Ottiliens Anorexie. In: Bolz, Norbert W. (Hg.): Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur; Hildesheim 1981; S. 308-322.

[19] Dieses 'Unterschieben' eines materialen Trägers unter eine phantasmatische Bedeutung – ein sehr typischer Vorgang für Eduard – findet eine Korrespondenz in dem umgekehrten 'Unterlegen', als welches ausgerechnet Eduard den allgemein-menschlichen Narzi§mus kritisiert: "(...) aber der Mensch ist ein wahrer Narziß; er bespiegelt sich überall gern selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter." (270). Hier wird das Schema einer Selbst-Bedeutung jedwedem Objekt unterlegt, ein für der den Anthropomorphismus charakteristische Form. Auch dies macht Eduard des öfteren, der insofern seine früh geäu§erte Einsicht ständig unterbietet.

[20] Darin ist der Roman "Die Wahlverwandtschaften" wirklich der Nachfolger von "Wilhelm Meister", der in der Geschichte des Romans zum ersten Mal den modernen Zufalls-Begriff entfaltet.

 

Bibliographie

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