Geheime Macht im Schoß der Erde.Das Symbolfeld des Bergbaus zwischen Sozialgeschichte und PsychohistorieFür Horst Bredekamp
der Bergbau-Modernisierung zu Beginn der Neuzeit "Machet euch die Erde untertan! " (Gen I, 28) - damit wird keineswegs die heutige Form naturbeherrschender Technik durch Gott selbst schon vorab legitimiert. Die Agrarkultur, die dem Jahwisten bei diesem Satz vorschwebte, zielt nicht auf ein dominium terrae, gar auf despotische Herrschaft des Menschen über Natur. [1] Auch bei den frühen christlichen Exegeten findet sich keine Stütze für einen christlichen Auftrag zur Naturbeherrschung im technischen Sinn. Die privilegierte Stellung des Menschen ruht weniger auf einem Natur-Auftrag als auf seiner Einzeichnung in den heilsgeschichtlichen Plan Gottes. Auch der stoische Gedanke einer teleologisch auf das Wohl des Menschen hin eingerichteten Welt enthält keinen Schub zu einer technischen Entwicklung. Im Gegenteil: die Natur, wie sie ist, ist vollständig und bedarf nicht der technischen Umarbeitung zu ihrer Vervollkommnung. Bei Aristoteles wird die Mechanik gegenüber der Physik, die durchaus ein kontemplatives Verhältnis zur Natur beschreibt, deutlich abgewertet. Natürlich: man hatte Sklaven oder niedrige Handwerker, die die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf einem gleichbleibenden Niveau der instrumentellen Technik erledigten. Für die antike Welt, deren theoretische und praktische Kenntnisse eine erste technische Revolution durchaus ermöglicht hätten, bleibt deshalb charakteristisch, was Hanns Sachs die "Verspätung des Maschinenzeitalters" genannt hat. [2] Dies ändert sich auch nicht in der römischen Welt. So wird zwar im ganzen römischen Reich intensiv Bergbau getrieben, weil ein steigender Bedarf an Metallen für Militär, Ackerbau, Gebrauchs- und Luxusgüter vorhanden war. Doch rückte die Entwicklung der Montantechnik während der römischen Herrschaft keineswegs über den vorchristlichen Stand hinaus. Erst recht gab es keine Hochschätzung der Arbeit: im Bergbau, in den Marmorgruben und Salinen arbeiteten Verurteilte und Sklaven. [3] So entwickelt sich weder in der biblischen noch paganen Tradition ein zwingendes Motiv zur technologischen Innovation im Zeichen darin angestrebter Beherrschung der Natur. Eine Dynamisierung von Arbeitsethik und Technik setzt, scheinbar überraschend, erst im lateinischen Mönchstum ein [4]Arbeit bekommt die Funktion, Dienst an der Bewahrung und Vollendung der Natur zu sein. Von den Klöstern geht eine starke Innovation des Handwerks, ja sogar der Maschinenentwicklung aus, weil repetitive und mühselige Arbeit ihren vormalig religiösen Charakter verliert und darum, wenn möglich, auf Maschinen übertragen wird. [5] Insbesondere die Benediktiner und Zisterzienser befreiten die Arbeit von ihrem Makel, Folge des Sündenfalls und also Zwang und Verurteilung zu sein. Lewis Mumford spricht hinsichtlich der Benediktiner-Klöster bereits von einer "moralisierten Megamaschine" aus kollektiver Arbeit, Disziplinen, Apparaten, effizienten Organisationen und sozialen Wohlfahrten. [6] Bei den Zisterziensern findet sich die Vorstellung der nichtvollendeten Schöpfung, woraus sich als Auftrag die Umarbeitung und Ordnung der wilden zu einer dem Menschen verträglichen Natur ergibt. Technikvermittelte Arbeit erhält theologischen Sinn. Die Dynamisierung der Technik ergibt sich folgerichtig aus der theologischen Ableitung eines Arbeitsethos, welches in der Arbeit die Fortführung des "göttlichen Schöpfungshandelns" (Krolzik) erkennt. Von den Zisterziensern und Benediktinern geht mithin eine Fülle von technischen und ideologischen Innovationen aus, welche in die Richtung des dominium terrae weisen. Nicht zufällig sind die Söhne des Bernhard von Clairvaux "die großen Bergingenieure und Wasserbauingenieure des medium aevum". [7] Zisterzienser sind Salinenund Bergwerksgründer, so etwa in Österreich. Damit gehören die mittelalterlichen Mönche zu den Wegbereitern der säkularen Technik. Der Bergbau selbst hatte im Mittelalter jedoch einen durchaus sakralen Charakter. Überwiegend herrschte eine theozentrische Interpretation von Montanwissen und -technik. Die Erze, Mineralien, Reichtümer der inneren Erde dokumentierten die magnalia dei. Bergbau erhält so gottesdienstliche Bedeutung, obwohl natürlich auch im Mittelalter klare Regalrechte bestanden, die weltlichen Fürsten oder Kirchenfürsten hohe Ertragsanteile des Bergbaus sicherten. Das Innere der Erde hatte zwar sakrale Bedeutung, war jedoch Besitz der Landesherren. So besteht schon hier ein Widerspruch zwischen hagiologischer Legitimation und ökonomischem Kalkül des Montanwesens. Es sind vor allem die Bergleute selbst, die eine Sakralkultur des Montanbaus entwickeln, deren Spuren noch bei Novalis, Tieck, E. T. A. Hoffmann u. a. zu beobachten sind. Die Nähe zum mönchischen Arbeitsethos sowie die stadtferne Lage der Bergwerke hält die Montanentwicklung abseits der mittelalterlichen Stadtentwicklung mit ihren frühbürgerlichen Kultur- und Sozialformen. Vielmehr ist von einer durchgreifenden Christianisierung des Bergbaus zu sprechen, die die heidnischen und volksreligiösen Deutungsweisen des Gebirges und des Bergbaus zwar nicht vollständig verdrängt, doch aber nachhaltig christlich überlagert. Der Heiligen- und Marienkult dringt in den Bergbau ein und beherrscht weitgehend die sakralkulturellen Umwelten der stadtfernen Bergbau-Zentren in Tirol, Sachsen, Böhmen und Schlesien. Die heilige Anna z. B. ist die Erzmacherin; sie wird "zu jenem Mutterschoß, metallisch gesehen, zu jenem Bergwerk, das die edlen Metalle spendet". [8] Durch solche Deutungsmuster versuchte man, alte Gottheiten - wie z. B . Hathor-Hekate-Isis als Göttin des Unterraums und Bergwerks oder Path-Hephaistos, den Schmiedegott - zu verdrängen. Christus besetzt die metallurgisch-alchemistischen Symbole Sonne und Gold, Maria den Mond und das Silber. Freilich: mitten in dieser sakralkulturellen Fundierung des Arbeitsethos und der Armutshaltung der Bergleute (so noch bei Novalis) vollziehen sich nach vorne weisende Wandlungen. Im Mittelalter wird in der Theologie das Sündenbewußtsein entschieden verschärft; die Auseinandersetzung des Menschen mit Natur erscheint als Zwangsfolge des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Paradies. Der Gedanke der Mitarbeit an der Vollendung der Natur verbindet sich eigenartig mit der Auffassung der Natur als Fremde und Feindin: sie spiegelt in der physischen Abhängigkeit des Menschen ständig seinen Sündencharakter. [9] Die Unterwerfung der Natur, das Brechen des Naturzwangs durch technikvermittelte Arbeit erhält den theologischen Sinn, das quälende Sündenbewußtsein und die Verstoßung aus dem Paradies aufzuheben. Die theologische Deutung der Naturbeherrschung mit dem eschatologischen Ziel der Wiedergewinnung des Paradieses ist die Quelle jenes Technik-Traums, der das künstliche Paradies zum Heilszweck technischer Entwicklung erklärt. In einer vollständig technisch angeeigneten Natur stünde der Mensch erneut in einem so vollendeten Rapport zu seiner Umwelt, wie er es einst vor dem Sündenfall im Garten Eden tat. Dies ist die strikte Gegenposition zu dem stoischen Gedanken der Vollständigkeit der Natur, die keiner Technik des Menschen zu ihrer Perfektion bedarf. Diese Idee mußte zerstört werden, um technische Entwicklungsschübe zu ermöglichen. Intelligenz und Wissenschaft wurden zu Medien der Wiederherstellung der uranfänglichen Gottesebenbildlichkeit und der Naturvollendung. Von hier aus ist der Schritt nicht weit zu jenem Gedanken des neoplatonischen Renaissance-Philosophen Marsilio Ficino (1433-99), der bereits die klassische Form des technikvermittelten Omnipotenz-Traums gefunden hat: der Mensch "ahmt alle Werke der göttlichen Natur nach, er perfektioniert, korrigiert und baut die Einrichtungen der niedrigen Natur aus. Darum ist die Macht des Menschen fast der göttlichen Natur gleich, denn in dieser Weise handelt der Mensch aus sich selbst." [10] Dies ist der Beginn jenes Projekts, wonach er seine Bestimmung darein setzt, zum "Herren und Besitzer der Natur" (Descartes) zu werden. Die Natur ist in diesem Konzept nur noch das Fremde und Sündige, dessen Macht zu brechen ist - und dies lange, bevor real eine Technik entwickelt ist, die als "naturbeherrschend" gelten kann. Die Phantasmen laufen der Entwicklung voraus, die dazu bestellt ist, jene zu realisieren. Vor der frühkapitalistischen Inbesitznahme des Bergbaus zeigt sich also eine von christlicher Theologie angeleitete ideologische, technologievorbereitende Entwicklung. In ihr wird die lebendige, in ihrer Macht zu fürchtende und zu verehrende Natur deanimiert und ideologisch für jedwede Herrschaftsform freigegeben. Es bedarf keiner Gefühle der Rücksicht auf Naturzusammenhänge mehr - Natur repräsentiert den Sündenstand schlechthin -, sondern vielmehr der theologischen Rücksicht des Menschen auf sich selbst: als Technit tritt der Mensch aus der Natur heraus und in die (selbstgewirkte) Heilsgeschichte ein. Naturbeherrschung ist Selbsterlösung. Es ist für eine an Max Weber geschulte Denkweise überraschend, daß wichtige Motive der Technikentwicklung, des Arbeitsethos, der innerweltlichen Askese, der Rationalisierung der Lebensführung als Konfigurationen des Heils keineswegs dem Protestantismus, speziell dem Calvinismus, oder dem Stadtbürgertum entspringen; sondern vor ihnen wirken innovativ zum einen das katholische Mönchstum, nämlich die Klosterorganisation mit ihrer hochentwickelten Verflechtung von moralischer Lebensform, Technik und Arbeit, zum anderen der nichtbürgerliche, stadtferne Montanbau. Natürlich kommt weiteres hinzu. Neben dem Bergbau (der auch für die Geldentwicklung und primäre Kapitalakkumulation wichtig wird) nennt J. D. Bernal die Schiffahrt (für die Handelserweiterung) und die Kriegstechnik (als Machtressource) als die drei entscheidenden Ebenen technologischer Entwicklung. Zumindest an den letzten beiden sind die Mönche und Bergleute unbeteiligt. Gleichwohl durchläuft nach Bernal "in den deutschen Bergwerken... die kapitalistische Produktion ihre ersten Entwicklungsstadien". [11] Diese Feststellung bezieht sich auf das für den Bergbau goldene Zeitalter, das Jahrhundert zwischen 1450 und 1550, in welchem nach der vorausgegangenen Christianisierung nun eine intensive Kapitalisierung des Bergbaus einsetzt. Ein-Mann-Betriebe, Kleintechnik, kooperative Zusammenschlüsse (Genossenschaften) werden abgelöst von Modellen, die entschieden moderne, kapitalistische Züge tragen. Im 15.Jahrhundert setzt die Praxis der stillen Teilhaber ein, die aufgrund der hohen Investitionskosten bei der Erschließung neuer Bergwerke und bei den technisch immer aufwendigeren Pump-, Förder- und Verhüttungsanlagen notwendig wurden. Jakob Fugger wurde zur Leitfigur der "an der mitteleuropäischen Montanproduktion partizipierenden Großunternehmer". [12] 1525 sind etwa einhunderttausend Menschen in der mitteleuropäischen Montanwirtschaft beschäftigt. Fugger berechnet den Wert einer Jahresproduktion in den Bergwerken des Deutschen Reiches auf 25 Millionen Gulden womit, nach Suhling, der Montanbau ökonomisch hinter der Landwirtschaft mit der Textilwirtschaft um Platz zwei konkurriert. Die Überführung der Produktionsverhältnisse des Montanbaus in kapitalistische führt aufgrund der kapitalintensiven Bewirtschaftung innerhalb weniger Generationen dazu, daß alle finanzschwachen Gewerkschaften und Kleinunternehmer verschwinden; Mechanisierungen der Produktion, Arbeitsteilung, Beamtenverwaltung und Lohnarbeit werden für den Bergbau charakteristisch. Revierfernes Kapital und Fürstenhäuser bestimmen die Montanwirtschaft. Der Metallhandel internationalisiert sich über die europäischen Seehandelszentren wie Antwerpen, Venedig, Danzig und Hamburg. Agricola, selbst Anteilseigner an einem der wichtigsten schlesischen Bergwerke, weiß bereits, im Blick auf den Habsburger Kaiser Karl V., vom Zusammenhang zwischen Bergbau und staatlicher Macht. Habsburg wird im 16. Jahrhundert zur Weltmacht auch aufgrund der Ausbeutung der Bergwerke in Tirol, Ungarn und Böhmen. Das deutsche Großkapital wiederum kann durch seine profitablen MontanBeteiligungen als Kreditgeber von Fürstentümern auftreten. Der Bergbau ist eine der wichtigsten Machtquellen. Ferner wird der mitteleuropäische Bergbau innovativ für andere Länder wie Spanien, England, Nord- und Südamerika. Aufgrund der Religionskriege und der mitteldeutschen Bergbau-Krise um 1650 gehen viele Bergfachleute mit ihrem technischen Spitzenwissen in diese Länder (oder werden angeworben), "wo sie die technischen Grundlagen für den künftigen Reichtum" dieser Länder legen. [13] Für viele Bereiche der frühindustriellen Revolution lieferte so die Bergbau-Technik wichtige Anstöße, in der Metallurgie nicht nur, sondern auch der Mechanik, der Hydraulik, der Wasserenergietechnik usw., die insgesamt zu einem mit keinem anderen Wirtschaftsbereich vergleichbaren Standard der Mechanisierung und rationalen Organisation der Produktion geführt werden. Vom Bergbau wird schließlich die Entwicklung der Chemie und Medizin angetrieben. Neben der Destillationschemie - dem Alchemisten, Mnemotechniker und Missionar Raimundus Lullus (1232/34-1316) soll die erste Destillation von fast reinem Alkohol gelungen sein - ist es die Metallurgie, die die Chemie auf den Weg bringt. Metallschmelze und die Bestimmung des Metallgehaltes bilden das Paradigma des chemischen Experiments. Neue Metalle (über die sechs klassischen der Antike hinaus) werden entdeckt: Zink, Wismut, Kobalt (nach dem Berggeist-Namen "Kobold"), Kupfernickel. Dabei bemerkte man starke physiologische Wirkungen von Metallen, zumeist schädliche, aber auch medizinisch bemeisterbare, so daß vom Bergbau ausgehend eine Revolutionierung der Medizin ausging: nämlich die Ablösung der Kräutermedizin durch die Iatro-Medizin, die Chemie-Medizin, deren wichtigster Vertreter Paracelsus (1492/3-1541) wird. Schwefel, Quecksilber und Salz werden zu Grundstoffen, der alchemistischen Triade der medizinischen Therapie. Paracelsus ist es auch, der über Bergbaukrankheiten die erste Abhandlung schreibt - noch vor dem ArztAgricola, der in seinem Standardwerk über den Bergbau De re metallica (1556) auch auf montane Berufs-Krankheiten eingeht . Nach seiner Christianisierung im Mittelalter wird das Montanwesen im 16. Jahrhundert zum Paradigma der "Revolutionierung eines gesamten Produktionsbereichs" (Suhling). Das Niveau der Kapitalisierung der Produktion und der Technisierung der Arbeit ist in Europa einzigartig. Hierfür bedurfte es auch der Profanierung des Naturverhältnisses des Menschen. Die im Montanbau geleistete Affektneutralisierung im Umgang mit einer geheimnisvollen, dämonisch-bösen oder heilig-fruchtbaren Natur ist vorbildlich für die neuzeitliche Obiekt-Einstellung überhaupt. Doch bedarf es um 1500 großer Legitimationsanstrengungen, um eine technischwissenschaftliche Rationalität durchzusetzen, die der Natur gegenüber keine moralischen Hemmnisse mehr kennt. Der Bergbau wird zu einem Deutungsfeld, auf welchem neben den rationalen Einstellungen alte Formen mimetischer Allianztechnik und hermetischer Wissenschaften überleben und von dort ausgehend eine Arkantradition bilden, die in der Romantik wieder auflebt.
Paulus Niavis und Georg Agricola Horst Bredekamp hat den Text von Paulus Niavis (d.i. Paul Schneevogel): Iudicum Iovis od er Das Gericht der Götter über den Bergbau [14] nachdrücklich in Erinnerung gerufen [siehe Abb. 8]. Er ist für die Diskussion der Legitimationsprobleme des neuzeitlichen Naturumgangs aufschlußreich. Die personalisierte Erde führt gegen den bergbautreibenden Menschen Anklage vor dem höchsten Gott, Jupiter. Sie tritt auf "mit blassem Gesicht; sie trug ein grünes Gewand, aus ihren Augen strömten Tränen. Ihr Haupt wies Verletzungen auf, das Kleid hing zerrissen herab, und man konnte sehen, wie ihr Leib vielfach durchbohrt war. Ihr folgten Bacchus, Ceres, Nais, Minerva, Pluton mit Charon, die Faune und eine große Menge anderer Götter." [15] Merkur eröffnet als Anwalt der Erde die Anklage gegen den Menschen, den homo faber, der mit traditionellen Attributen des Bergbaus ausgestattet ist: Schlägel, Haueisen, Kapuzenkleidung. Zwergenfiguren (der Text nennt sie "Penaten") umringen den Menschen. Da Zwerge in der Alchemie-Tradition als Weise der Metallurgie gelten (M. Eliade) oder in der Montan-Ikonographie oft als Bergleute dargestellt werden, heißt dies: der Mensch ist angeklagt als Montane und Metallurg. Die Gerichtszene wird von einem böhmischen Einsiedler belauscht, der den Streit tradiert habe - so sei Niavis zu seinem Text gekommen. [16] Dieser Text, entstanden im Zentrum des mitteleuropäischen Bergbaus während des ersten kapitalistisch-technologischen Entwicklungsschubes des Montanbaus, reflektiert eine Legitimationskrise, innerhalb derer die Ausbeutung der Berge zum "Gleichnis der globalen Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur" [17] wird. Der Text des Niavis bezeichnet die Grenze, "die dem anthropomorphen Bild der Natur das Nutzdenken des Menschen entgegenstellt". [18] Gerade das genus iudicale kann aufgrund seiner Form als antagonistisch aufgebauter Gerichtsrhetorik eine historische Lage widerspiegeln, in der traditionelle und moderne Naturinterpretationen miteinander im Kampf liegen. Es geht um die Legitimation eines Selbstverständnisses des Menschen, aus dem heraus eine affektneutralisierte Einstellung zur Natur und deren Unterordnung unter säkulare Zwecke sich begründen läßt. Dabei, so scheint es, hat die anklagende Erde gute Argumente auf ihrer Seite. Die im Bergbau übliche Abpumpung unterirdischen Wassers mache den Acheron wasserlos und störe die Übersetzung der Toten durch den Fährmann Charon. Die Metallgewinnung breche in Reservatsbereiche der Götter ein, sei also ein Sakrileg. Die Gier des Menschen begnüge sich nicht mit den jährlich gespendeten Früchten der Erde, sondern er penetriere rücksichtslos den Erdleib, verletze und zerstöre ihn, führe Verwüstungen - wegen es Eingriffs in den unterirdischen Wasserhaushalt - im Wein- und Akkerbau herbei, den Herrschaftsgebieten des Bacchus und der Ceres. Pluto klagt über donnernden Lärm der Belüftungsmaschinen. Die Najaden klagen über Wasserentzug und Waldvertrocknung, die Faune über Verkohlungshütten und Waldvernichtung. [19] Diese Anklagepunkte bezeichnen früh bemerkte ökologische Schäden durch Bergbau: die Stollen-Technik und Verhüttungsindustrie führten zur Abholzung ganzer Waldgebiete mit anschließender Holz- und Wassernot. Der beschäftigungsintensive Bergbau hat bereits im 16. Jahrhundert Versorgungsprobleme, Lebensmittelknappheit und Teuerungen zur Folge -: d. h., es kommt zu Ungleichgewichten zwischen Bereichen, die mythologisch der Ceres zugeordnet sind, und dem Montanbau. Gewaltige Anstrengungen waren zur Deckung des Wasserbedarfs in der Verhüttung notwendig: Wasserumleitungen und -abschöpfungen ebenso wie Wasserenergietechniken, die als problematische Eingriffe in den Wasserhaushalt der Natur verstanden wurden . [20] Auch wenn Niavis seine Gerichtsszene antik gewandet, so stehen hinter den Argumenten der Götter moderne Problemlagen des Bergbaus. Zentral aber ist der Vorwurf, daß der Mensch den Leib der Erde in seinen inneren Organen verletze, ihre Schönheit, Fruchtbarkeit und Lebendigkeit untergrabe, ihre gebärenden Kräfte zum Erliegen bringe und damit sich des schwersten Verbrechens überhaupt schuldig mache: des Muttermordes. Die Erde, die den Menschen geboren habe und in deren Schoß er zurückkehre, würde langsam durch ihn umgebracht, womit er folglich die Grundlagen seines eigenen Lebens zerstöre. [21] Damit nimmt Niavis eines der ältesten und ehrwürdigsten Denkmuster der Menschheit auf, das bis zur wissenschaftlichen Revolution den Bergbau bestimmte und begrenzte: nämlich das Wissen um die Helllgkeit der Erde, den leiblich-lebendigen Charakter des Erdinneren und die Embryologie der Metalle in der Matrix (= Gebärmutter) der Erde [siehe Abb. 9]. In den Verteidigungsreden des Menschen zeichnet sich das Selbstbewußtwerden des neuzeitlichen Subjekts ab (Ceres nennt es "sein freches Selbstbewußtsein"). Schon die Anklage sei falsch: nicht auf Muttermord, sondern Stiefmuttermord müsse sie lauten. Denn stlefmütterlich verberge die Erde ihr Kostbarstes vor den Menschen, obwohl doch weder Jupiter noch irgendein anderer Gott daran zweifeln könnte, daß alles allein zum Nutzen des Menschen geschaffen sei. Hervorgerufen durch den verhärteten Haß und knauserigen Geiz der stiefmütterlichen Erde sei der Mensch gezwungen, durch der Hände mühselige und gefährliche Arbeit sich ihrer Schätze zu bemächtigen. [22] Die Penaten assistieren damit, daß der Mensch "den Erdball hier in seine Obhut zu nehmen" habe, was er nur durch das Medium der Arbeit vermöge: und zwar überall, auf dem Lande, zu Wasser, unter der Erde. [23] Jupiter delegiert das Schlußurteil an die "Königin der Sterblichen", Fortuna, die folgendes ergehen läßt: "Es ist die Bestimmung der Menschen, daß sie die Berge durchwühlen; sie müssen Erzgruben anlegen, sie müssen die Felder bebauen und Handel treiben. Dabei müssen sie bei der Erde Anstoß erregen, müssen das (bessere) Wissen vernachlässigen, den Pluto stören und unter den Wasserläufen nach Erzen suchen. Dennoch aber wird ihr Leib schließlich von der Erde verschlungen und durch böse Wetter erstickt; er wird vergiftet vom Wein, befallen vom Hunger, unwissend dessen bleibend, was sein Bestes ist: Diese und viele andere Gefahren seien das Los und die Bestimmung des Menschen." [24] Das genus iudicale, das Niavis nutzt, bezeugt, daß um 1500 noch gekämpft werden mußte: der Frontverlauf zweier geschichtsmächtiger Deutungsmuster ist erkennbar. Zum einen die Interpretation, in der die Natur als Magna Mater, die Erde als mütterlicher Leib und der Bergbau als behutsame, kultisch begleitete Kommunikation des Menschen mit dem geheiligten Inneren des Erdkörpers erscheinen. Hier figuriert der Mensch als Kind und Teil der Mutternatur, sein technisches und gesellschaftliches Handeln wird begrenzt von Normen, die auf eine Schonung der Natur hinauslaufen. Wie später bei Novalis, kann es auch hier keine Autonomie gesellschaftlicher Entwicklung und technischen Fortschritts geben: beides sind Momente der Naturgeschichte und unterliegen ihren Rhythmen und Kreisläufen, auf die der Mensch auch als Technit sich einzustellen hat. - Auf der anderen Seite steht die Deutung, die das Schema der Kindschaft des Menschen geradezu umkehrt: als mangelhaft ausgestatteter Stiefsohn muß der Mensch der Natur als Feind gegenübertreten und sein Überleben durch ihre Unterwerfung sichern. Der zentrale Gedanke des Kopernikus, mit dem dieser die stoische Teleologie der Natur verallgemeinert, nämlich mundus propter nos conditus, wird von Niavis bereits vorausgedacht - nicht zufällig am Beispiel des produktionstechnisch am weitesten entwickelten Bereichs der Gesellschaft, dem Bergbau. An ihm wird ein Kern-Ideologem neuzeitlicher Zivilisationstheorie demonstriert: die Mangelausstattung erzwinge die Anstrengung des Menschen, sein Dasein in der Welt zu einem dominium terrae auszubauen - Zivilisation und Naturbeherrschung als Prothese des Organmangels. Am Beginn der Neuzeit wird damit eine Legitimation sichtbar, die bis heute anhält: die Autonomie der Vernunft und der Zwang zur Naturbeherrschung leiten sich aus der Natur selbst ab, nämlich der stiefmütterlichen Verkargung der Physis. Gewissermaßen ist die weibliche Natur, ist Terra selbst schuld an ihrer Vergewaltigung durch männliche Technik: rächt sich in dieser doch nur der Geiz der Mutternatur selbst. So wird die letzte moralische Begrenzung ausgelöscht, die der "leibmetaphorischen Naturdeutung" (Bredekamp) zugehört. Natur wird den Zwecken des Menschen ausgeliefert. Diese dienen nicht nur dem Überleben und der Selbstbehauptung, sondern dem Profit, den man durch Naturausbeutung gewinnt. In der affektiven Besetzung aber, die hierbei wirkt, setzen sich die Effekte der "Lebendigkeit der Natur" gleichsam verkehrt fort: die Rücksichtslosigkeit, mit der nunmehr Naturaneignung ins Werk gesetzt wird, entspricht ja mitnichten einer Natur als bedeutungslosem, mechanischem Materiezusammenhang, sondern sind proportional gerade dem anthropomorphen Naturverständnis. Die Feindlichkeit, die in der säkularisierten Technik wirkt, gilt nicht "toten Objekten", sondern dem Leib der Mutternatur. Bei Niavis wird die Angst vor der Schuldanklage auf Muttermord damit gekontert, daß Mord nicht genannt werden dürfe, was ein selbst naturhaftes, universales Gesetz zum Töten sei. Die noch anhaltende Scheu vor verletzender Penetration des Mutterleibs wird überwunden durch Statuierung eines moralisch nicht qualifizierbaren Zwanges: der "Tod der Natur" sei Bedingung des Überlebens des Menschen, und dieses sei gefährlich und anstrengend genug. Das ist das heroische Gesetz der Männer. Die Natur ist deanimiert, entmythologisiert, entsakralisiert. Der Gewinn an technikvermittelter Autonomie entspricht dabei dem Verlust an Bedeutsamkeit der Natur. Die Kosten der Vernunft sind ablesbar an all jenen kleinen Toden, die die Natur außer uns und in uns stirbt. Gegenüber der um Legitimation des Bergbaus noch ringenden Gerichtsrede des Niavis sind die sechzig Jahre späteren De re metallica libri XII (1556, dt. 1557) von Georg Agricola (= Georg Bauer, 1494-1555) bereits als erste wissenschaftliche Systematik des Montanwissens seiner Zeit anzusehen. [25]Die Sprache Agricolas ist moderner: es herrscht der Ton durchgesetzter technologischer Einstellung. Nach Studien der Naturwissenschaften und Medizin in Leipzig, einem zweijährigen Aufenthalt in Venedig geht Agricola 1526 in die Sudeten, das silberreichste Gebirge des damaligen Europa ("Ich war kaum dort angelangt, als ich von Begierde brannte, das Bergwesen kennenzulernen, weil ich fast alles über meine Erwartung fand"). In Joachimsthal wird er Stadtarzt, beschäftigt sich mit Iatro-Medizin, wird Montangelehrter, Sachverständiger und Berater der Reviere in Thüringen, Schlesien, Mähren, sogar im Harz. 1533 geht er nach Chemnitz, wo er Bürgermeister wird, ein reicher Mann, Anteilseigner an ertragreichen Bergwerken. Goethe, selbst Bergbau-Kenner, charakterisiert ihn so: "Er hatte freilich das Glück, in ein abgeschlossenes, schon seit geraumer Zeit behandeltes, in sich höchst mannigfaltiges und doch immer auf einen Zweck hingeleitetes Natur- und Kunstwesen einzutreten. Gebirge, aufgeschlossen durch Bergbau, bedeutende Naturprodukte, roh aufgesucht, gewältigt, behandelt, bearbeitet, gesondert, gereinigt und menschlichen Zwecken unterworfen: dies war es, was ihn, ... denn er lebte im Gebirge als Bergarzt, höchlich interessierte." [26] Damit hat Goethe Agricola gut getroffen: er handelt nicht mehr über die lebendig-rohe oder mythologisch bevölkerte Natur, sondern über das synthetische "Natur- und Kunstwesen" fortgeschrittener Montantechnik. In nur einem halben Jahrhundert hat sich die Front, wie sie Niavis zwischen der traditionellen und instrumentellen Auffassung der Natur gezeichnet hatte, qualitativ verschoben: die, wenn man so sagen darf, kopernikanische Wende des Montanwesens ist von Agricola entschieden vollzogen. Nur noch im I. Buch knüpft Agricola an die Legitimationskämpfe an, die Niavis vor allem noch bewegten. Dieses I. Buch ist die resümierende Inszenierung aller vergangener Debatten um die moralischen Grenzen des Bergbaus. In der klug gestaffelten Argumentationsrhetorik, die noch an den Gerichtsstreit bei Niavis erinnert, entfaltet Agricola sämtliche seit der Antike verbreiteten Vorbehalte gegen den Bergbau, um diese dann Zug um Zug zu widerlegen. Zwei Fragen sind für Agricola leitend: ist "Bergwissenschaft" nützlich für die, die sie betreiben; und ist sie nützlich für die Menschheit? [27] - Die erste Frage wird rasch beantwortet. Den Vorbehalten - Expertenwissen helfe bei Erschließung und Abbau wenig; der Reichtumsgewinn sei unbeständig; es drohten Berufskrankheiten und Lebensgefahren - begegnet Agricola mit Argumenten, die ihn zu einem frühen Vertreter profaner Expertenkultur stempeln. Promoter der Montanausbeutung sind für ihn nicht mehr naturwüchsig gebildete Praktiker, sondern jene Fachleute, die das Wissen systematisch geordnet und verfügbar halten. Zufall und Glück sind auszuschalten. Parameter des Fortschritts ist die Wissenschaft, nicht das allenthalben verstreute Praxiswissen. Dem Argument des unbeständigen Profits begegnet Agricola ökonomisch: landwirtschaftliche Profiterzeugung sei zwar sicherer, dafür sei der Ausbeuteertrag im Montanwesen höher. Angesichts von Berufskrankheiten und Unfällen weicht Agricola wie ein moderner Industrietheoretiker aus: dies seien ernstzunehmende, statistisch aber unwesentliche Nebenfolgen des Fortschritts. Der "wirtschaftliche Nutzen" stünde zwar nicht höher als "Heil und Leben der Menschen", letzteres aber sei durch den "Lebenstrieb" geschützt, der zu vorsichtigem Handeln anleite [28]: so werden Unfälle und Krankheiten der individuellen Unvorsichtigkeit der Arbeiter aufgebürdet [siehe Abb. 10]. Sodann aber geht es Agricola um die prinzipiellen Einwände gegen die Montantechnik. Hier entwickelt er eine universalistische Legitimation der Technik. Im griechischlateinischen Kulturraum bestens bewandert, nennt Agricola alle jene Argumente, die von Autoren wie Euripides, Menander, Pindar, Plinius, Ovid, Tibull, Horaz, Vergil u. v. a. m. zumeist gegen den Bergbau ins Feld geführt wurden. Es sind die klassischen Fundstellen, die bis heute immer wieder zitiert werden, wenn es gilt, antike Rhetorik gegen den Bergbau zu erinnern. Bei Agricola findet man sie bereits versammelt. Die Gegenargumente liegen auf fünf Ebenen: der leibmetaphorischen (1), der anthropologischen (2), der ökologischen (3), der sozialphilosophisch-moralischen (4) und schließlich der religiösen Ebene (5). Auf ihnen wird über Sinn und Nutzen des Montanwesens entschieden. Zur leibmetaphorischen Ebene: "Die Erde verbirgt nicht und entzieht auch nicht den Augen dieienigen Dinge, die dem Menschengeschlechte nützlich und nötig sind, sondern wie eine wohltätige und gütige Mutter spendet sie mit größter Freigiebigkeit von sich aus und bringt Kräuter, Hülsenfrüchte, Feld- und Obstfrüchte vor Augen ans Tageslicht. Dagegen hat sie die Dinge, die man graben muß, in die Tiefe gestoßen, und darum dürfen diese nicht herausgewühlt werden. " [29] - Nur an dieser Stelle kommt die MetaphernTradition der "Erde als Lebewesen" (H. Bredekamp) überhaupt noch vor. Der Mensch/Natur-Zusammenhang erscheint als Dyade von Mutter und Kind, als nutritive Einheit. Die Unterscheidung der sichtbaren und unsichtbaren Leibteile der Mutter-Erde begründet die Unterscheidung dessen, was dem Menschen zugemessen und was ihm versagt sei. Der Einschluß des Menschen in den natürlichen Nährstoff-Kreislauf beläßt ihn auf der Stufe des Infans - so wie Matthäus Merian d.Ä. es auf einer KupferstichIllustration zu Michael Maiers alchemistischem Emblembuch Atalanta Fugiens von 1618 dargestellt hat: Terra hält den Menschen als Säugling an ihrer Brust - nutrix ejus terra est lautet die Inscriptio [siehe Abb. 11]. [30] Das Verbot der Aneignung des Unsichtbaren im Erdleib enthält verkappt das Inzesttabu, das seit je in der Tradition der sexualisierten Erde mitenthalten war. Das Kind nutzt zwar, als Teil des mütterlichen Körpers, den nutritiven Säftefluß, doch auf dem uterinen Inneren liegt ein Verbot. In dieses darf das Kind so wenig eindringen wie der Mensch ins Erdinnere. - Agricola gibt diese mächtige Tradition nur angedeutet und so nüchtern wie möglich wieder. Für ihn, dem die Erde längst ein Materieaggregat ist, ist die sexualisierende Rede vom Erdleib bereits anstößig. Auf anthropologischer Ebene referiert Agricola die Auffassung des Menschen als durch Leib und Seele gebildetes Lebewesen. Metalle braucht er für beides nicht. Ist die Seele "mit der Speise der guten Erkenntnisse" gesättigt und der Leib durch die "Früchte der Erde und verschiedenartigen Tiere ... trefflich" genährt und durch Kleidung geschützt, so erübrige sich der Bergbau für die Selbstreproduktion. Hier wie schon zuvor verkehrt Agricola die Argumente der Gegner ins Konservative. Wie in der leibmetaphorischen Tradition natürlich niemals ein Totalverbot des Bergbaus verhängt war, so auch auf anthropologischer Ebene niemals eine blockierende Festschreibung des Menschen auf die Ebene elementarer Reproduktion. Doch der Gewinn, den Agricola aus solcher Radikalisierung zieht, ist deutlich: die Gegner der Metallerzeugung werden auf die Position prinzipieller Fortschrittsfeinde festgelegt. Wer nicht für den Bergbau ist, fällt hinter den Gang der Geschichte und der Selbstentfaltung der Gattung. Auf der ökologischen Ebene referiert Agricola Argumente, die schon bei Niavis begegneten. Der Bergbau verwüste die Feldkultur, führe zum Raubbau an Wäldern mit der Nebenfolge der Ausrottung nützlicher Tierarten, belaste und vergifte den Wasserkreislauf. Das Argument ist: die Kosten der Umweltzerstörung und die negativen Folgen z. B. durch Nahrungsmittelvernichtung übersteigen den ökonomischen Nutzen des Bergbaus. Agricola hält dies für eine falsche Rechnung [siehe Abb. 12]. Breiter entfaltet Agricola die sozialphilosophisch-moralische Ebene. Hier nämlich hat es Agricola mit der alten kulturkritischen Reflexion des Eisernen Zeitalters zu tun. Der Bergbau und die Metallurgie seien Ursachen kulturellen Verderbens der Menschen. Innerhalb der Zeitalter-Folge, die Ovid in der Kosmogonie seiner Metamorphosen entwickelt, wird der Bergbau ins Eiserne Zeitalter gelegt. [31] Mit diesem setzt die Epoche der moralischen Verwilderung, der Entstehung des Eigentums, des Verbrechens, der Aggression und vor allem des Krieges ein. Agricola nimmt diese Vorbehalte auf. Besonders betont er den Übergang vom Naturaltausch zum Warentausch. Die aus dem Berg gewonnenen Metalle werden zu "Wertmessern nicht nur der Früchte, sondern überhaupt aller Dinge, die verkauft werden". [32] Mit den Metallen und der "Erfindung des Geldes" [33]habe man jenes abstrakte Wertäquivalent, das eine Epoche der Konkurrenz, der Eigentumsabgrenzungen, der gegenseitigen Vernichtung und der Eroberungskriege einläute. Im Schema der Weltalter-Theorie des Ovid heißt dies daß die Menschen durch den Bergbau und seine sozialen Folgen aus den Epochen des friedlichen, staatenlosen Miteinanders in Übereinstimmung mit der Natur herauskatapultiert werden in eine historische Dynamik, die jede Naturwüchsigkeit in den sozialen Interaktionen und im Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur zerstört. Auch hier nun legt Agricola die Bergwerks-Gegner auf Positionen eines schlechten Konservatismus fest. Den Metallen als Ursache aufzulasten, was Folge ihres Gebrauchs durch die Menschen sei, ist für Agricola ein unaufgeklärter Rest von Animismus: als bergen Metalle mehr als ihr materielles Dasein, etwa eine verderbliche Dämonie, der die Menschen erliegen. Auf religiöser Ebene schließlich referiert Agricola die Meinung, an der Waffentechnik sei abzulesen, daß die Menschen durch die Potenz, die ihnen durch Montankunst und Metallurgie in die Hand gespielt werde, sich an die Stelle der Gottheit setzen. Die "Donnerbüchsen (Bombarden)" haben "Zeus die Blitze geraubt und aus den Händen gerissen". [34] Eine göttliche Macht versammle sich in der ungeheuren Vernichtungsenergie, durch welche die Menschen gottgleiche Herren über Leben und Sterben anderer würden. In all diesen Argumenten wird etwas spürbar von der Geschichte der Angst, die den Zivilisationsprozeß begleitet. Wenn man von Platon den Begriff des "guten Wissens" aufnimmt, so ist keine Gesellschaft bis heute sicher, ob ihre Entwicklung von einem "guten Wissen" angeleitet wird. Die Ängste, die bis heute der Wissenschafts- und Technikkritik zugrundeliegen, speisen sich aus der Ahnung, daß an der Grundstruktur der Wissenserzeugung etwas falsch sein könnte. Scheint es nicht so, als sei die Verbindung des Wissens zu dem, was das "Böse" ist - nämlich Zunahme an Gewalt, Unrecht und Vernichtung -, immer eine engere gewesen ist als die Verbindung zwischen Wissen und Glück? Die von Agricola aufgegriffene Deutung, in der das Eiserne Zeitalter das tragische ist und woraus dann der "Haß auf die Metalle" [35] aufbricht, hat etwas mit der "Dialektik der Aufklärung" zu tun, die vielleicht wirklich mit dem Eisernen Zeitalter einsetzt. Mitten in dem umwälzenden Modernisierungsprozeß des Bergbaus, den Agricola beschreibt und vorantreibt, muß die Unsicherheit stillgestellt werden, die über diesem liegt: es könnte sein, daß der Mensch in den gewaltigen Zivilisationsanstrengungen, die sein Leben verbessern und das Glück sichern sollen, bewußtlos sein Unglück, ja seinen Untergang herbeiführt. [36] Und diese Unsicherheit macht Angst. Der aufgeklärte Agricola geht auf diese Angst vor den tragischen Aspekten des Eisernen Zeitalters nicht eigentlich ein. Er verhält sich wie fortan nahezu jeder Fortschrittsvertreter: er stilisiert Einwände als rückschrittlich, klärt Zivilisationsangst als irrational auf und legitimiert den technischen Fortschritt durch seine Wertneutralität. Und er entwickelt eine Rhetorik, die sich fiktiv auf die Position der Gegner einläßt, um sie durch Aufweis innerer Aporien zu zerstören. Auch dies ist modern. Das läuft sinngemäß so: Ihr also Ihr Montanbau-Gegner, sagt, daß Ackerbau und Kleidungserzeugung notwendig sind, Bergwerke dagegen nicht, das unsichtbare Innere der Erde tabu. Sehen wir also nach: wieso eßt Ihr Fische? Leben diese nicht in unsichtbaren Erdteilen? Und Essen und Kleidung wollt Ihr doch auch. Sehen wir nach: geht dies ohne Technik? "Allein der Mensch vermag ohne Metalle nicht die Dinge zu beschaffen, die zur Lebensführung und zur Kleidung dienen." Das behaupte ich und beweise es Euch dadurch, daß "in der Land wirtschaft, die unserem Leibe den größten Teil des Lebensunterhalts gewährt, ... keine Arbeit geleistet und vollendet [wird] ohne Werkzeuge". Die im Gebrauch befindlichen "landwirtschaftlichen Werkzeuge sind aber meistenteils aus Eisen". Wie denn? Ihr wollt Landbau, aber keinen Bergbau ? Ja, Ihr wollt Euch waschen, ohne daß der Pelz naß wird. Und essen - wie wollt Ihr das ? Braucht der Töpfer nicht Metallwerkzeuge? Und, wie ich sehe, Ihr laßt Euch Wlldbret, Vögel und Fische munden? Wie aber habt Ihr sie gefangen? Etwa nicht mit Metallwerkzeugen? Und angezogen seid ihr auch, tragt, wie ich sehe, schöne Kleider "aus Wolle, Leinen, Federn, Haaren, Pelzen und Leder". Naturprodukte, sagt Ihr. Aber wie werden sie denn hergestellt? Arbeiten der Schafscherer, der Wollspinner, der Weber, der Tuchmacher, der Schneider, der Gerber, der Kürschner, der Schuhmacher etwa ohne Gerätschaften aus Metall? Und warm und trocken sitzt Ihr da beisamment Aber "die Gebäude endlich, die denselben Körper gegen Regengüsse und Winde, Kälte und Hitze schützen", können sie denn "errichtet werden ohne Äxte, Sägen und Bohrer"? Ach, Ihr Träumer "wozu bedarf es noch weiterer Worte? Wie denn die Metalle aus dem Gebrauche der Menschen verschwinden, so wird damit jede Möglichkeit genommen, sowohl die Gesundheit zu schützen und zu erhalten als auch ein unserer Kultur entsprechendes Leben zu führen. Denn wenn die Metalle nicht wären, so würden die Menschen das abscheulichste und elendste Leben unter wilden Tieren führen; sie würden zu den Eicheln und dem Waldobst zurückkehren, würden Kräuter und Wurzeln herausziehen und essen, würden mit den Nägeln Höhlen graben, in denen sie nachts lägen, würden tagsüber in den Wäldern und Feldern nach der Sitte der wilden Tiere umherschweifen. " [37] Dies ist ein rhetorisches Argument gegen die Technikkritiker bis heute: sie wollten zurück zu den schweifenden Sammlern und Jägern. "Da solches der Vernunft des Menschen, der schönsten und besten Mitgift der Natur, gänzlich unwürdig ist", so muß jeder Bergwerks-Gegner "töricht und hartnäckig" sein, einer, der sich aus dem Kreis der doch selbst natürlichen Vernunft ausschließt. Man darf sagen, daß es bei Agricola bereits die Erzeugung der Unvernunft in den Legitimationsstragegien der Vernunft selbst gibt. Jedes Denken nicht in den Bahnen der einmal gewählten Zivilisation, des Fortschritts und der Technik ist Ausdruck der Unvernunft. Die alte Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Natur wird nicht mehr gestellt. Ausgehend von der "normativen Kraft des Faktischen" - der historische Stand der Zivilisation und Technologie wäre ohne Bergbau nicht denkbarwird auf die Unausweichlichkeit von Technik überhaupt geschlossen. Aus der anthropologischen Tatsache, daß der Mensch ein Instrumente benutzendes Tier ist, daß er also arbeiten und eine eigene, soziale Umwelt schaffen muß, wird eine Rechtfertigung für den Typ wissenschaftlicher Zivilisation, wie sie Agricola als unausweichlich vorschwebt. Es ist diese höchst moderne Position, die Agricola von heute her als einen der Großen der Technikgeschichte erscheinen lassen. Mit Entschiedenheit hat Agricola zudem das Argument der Wertneutralität der Technik zur Geltung gebracht. Es ist irrational, sagt Agricola, dem Bergbau am Verderben der Menschen schuld zu geben. Wenn es kein Leben ohne Metalle gibt, ist das, was sie bedeuten, bestimmt durch das, was die Menschen aus ihnen machen. Die normative Frage nach dem "Gutsein" des Bergbaus ist falsch gestellt. Es hängt allein von der moralischen Qualität der Benutzer ab, ob Bergwerk, Metalle, Geld gut sind oder nicht. Zwietracht und Krieg sind den Metallen und ihrer Bearbeitungstechnik äußerlich. Unzweifelhaft ist, daß es ohne Bergbau und Metallurgie keine Zivilisation gibt. Und diese basiert auf der Doktrin: daß die Natur "dem Menschengeschlecht" zum" vielfachen und nötigen Nutzen" dient. [38] Es gibt keine andere Ordnung der Natur als die, welche ihr durch die Zwecke der Menschen gesetzt wird. Innerhalb dieser Zweckordnung ist der Bergbau und die Technik ein wertfreies Mittel. Agricola hat damit die Ideologie der Technologen vorformuliert. Technik und Wissenschaft sind jeder normativen Argumentation gegenüber immun. Dies ist der qualitative Sprung, der Agricola von der Deutungsgeschichte des Bergbaus in allen älteren Kulturen trennt. Er hat den Schritt m die Moderne vollzogen: Naturphilosophie, von der aus normative Argumente gegen Bergwerksausbeutung abgeleitet werden, ist verabschiedet; der Projektcharakter des Modells technischer Zivilisation bleibt im Gewand anthropologischer Notwendigkeit verdeckt; das Handeln der Experten und Techniker ist vom Zwang praktisch-moralischer Argumentation befreit.
Was bei Niavis und Agricola als Grenze zwischen zwei geschichtsmächtigen Deutungen des Bergbaus sichtbar wurde, ist nicht in em hlstorisches Kontinuum einzutragen. Die moderne technische Naturbearbeitung erwächst nicht entwicklungslogisch aus vormodernem Naturumgang. Zwischen beiden bestehr ein "epistemologischer Bruch". Was Mircea Eliade für das Verhältnis von Alchemie und Chemie demonstriert, nämlich die Diskontinuität zwischen beiden, gilt allgemein. In vielen Kulturen ist die Alchemie eine heilige Wissenschaft, die ihren Sakralstatus durch Teilhabe an der Heiligkeit der Erdmutter gewinnt. [39] Zwischen Alchemle und Chemie liegt der Bruch, der Heiliges und Profanes trennt Empirische Wissenschaft und Technik konnten sich erst konstituieren durch die Entheiligung der Materien, die nicht nur etymologisch, sondern durch eine mythische Genealogie an der Heiligkeit der Mater teilhaben. Wachsen die Minerale nicht als Embryonen im Inneren der Erde? Ist nicht metallurgische Kunst in Wahrheit Embryologie, Geburtshilfe-Wissen? Aus solchen Voraussetzungen kann sich eine empirisch-analytische Wissenschaft wie die Chemie nicht entwickeln. Chemie gibt es erst, wo die Materien nichts sind als profane, aber regelhafre Verbindungen von Elementen, die nichts bedeuten als sich selbst. Das chemische Zeichen ist eindeutig und nicht etwa ein "polysemantisches Zeichen" ein Signifikant z.B. des Merkur, was man elwa vom Quecksiiber annahm. Das Zeichenreich der Stoffe war bis in die Renaissance linguistisch, nicht naturwissenschaftlich. Natur ist Sprache, und alles Naturwissen ist semiologische, hermeneutische Kunst. Seit der Renaissance wurde der epistemologische Bruch, wie Foucault gezeigt hat [40], auf der Ebene der "Zeichen der Natur" strukturell und universell vollzogen. Dennoch ist wichtig, die historische Singularität dieser Übersetzung des materiellen Universums aus sprachlichen in mathematische und logische Zeichen festzuhalten. Gewaltige Wissensressourcen, die durch jahrtausende sich gebildet hatten und ubiquitär verbreitet waren, werden hierbei abgebrochen und ausgelöscht. In der Profanierung des Bergbaus spiegelt sich ein qualitativer Sprung in Naturbild und Technikform, der nur langsam bewältigt werden kann. Vielleicht sind die katastrophalen Effekte und Gefahren heutiger Technikformen auch als eine historische Unreife zu verstehen, die aus der Nicht-Bewältigung dieses singulären epistemologischen Bruchs resultiert. Zu dieser Unreife gehört, daß die Auszeichnung und Durchsetzung des Profanwissens mit einer intensiven Verdrängung verbunden war und immer noch ist. Vormodernes Wissen im Kontext sakralkulturellen Naturumgangs mußte rigoros "ausgeschlossen", "zensiert", "irrationalisiert" und "verschoben" werden, nämlich in den Aberglauben, die Täuschung, den Schein, den Wahnsinn und das Unbewußte sowie, durch Diskursdifferenzierung, in Kunst und Literatur. Mit zwei Folgen: dem Weiterwirken animistischer, mythischer oder auch nur leibnaher Wissensformen in Arkantraditionen oder sozial irrelevanten Subsystemen. sowie im unbegriffenen Weiterwirken affektiver Wertbesetzungen im Inneren der Wissenschaften selbst. Das zeigt sich an den geheimen Omnipotenz-Phantasien des wissenschaftlichen Rationalismus [41] ebenso wie an dem unheimlichen Fortwirken der Träume der Alchemisten in der neuzeitlichen, ja allerneuesten Technik. In der Symbolgeschichte menschlicher Machtergreifung kann das Bergwerk als umgekehrter Turm von Babel gelten. Wissen war bis zur Renaissance Wissen von der Natur als Physis, also vom Anderen des Menschen selbst. Bildete das Sich-Selbst-Verstehen vom Leibe her, so verstand man am eigenen Leib auch die Natur, von deren Leib der Mensch Leib hat und ist. Wie umgekehrt in der Natur als Organismus nichts prinzipiell Fremdes begegnet, sondern das, was man selbst ist, in anderer Weise. Diesen Zusammenhang von Mikro- und Makrokosmos zu begreifen macht den heiligen Charakter des Wissens aus. Indem man sich selbst z.B. im Ackerbau oder im alchemistischen Versuch oder der Schmiedekunst als Verständiger des Erdleibs erweist, hat man an dessen Heiligkeit teil. Nun hat man sich in der Perspektive wissenschaftlicher Aufklärung angewöhnt, die alte Redeweise von der Erde als Leib und Großer Mutter [42] als anthropomorph zu bezeichnen: Natur erscheint in der Bildgestalt, die der Mensch von sich selbst hat -: "metaphorische Projektion". Doch ist dies eine Sicht aus der heutigen Perspektive. Weil wir heute die Erde als profanes Materieaggregat verstehen, ist sie als Lebewesen eine Projektion des eigenleiblich Gespürten auf tote Objekte: Metalle, Gestein, Minerale. Es ist zweifelhaft, ob damit die vormodernen Einstellungen angemessen wiedergegeben werden. In den Alchemien der Völker erscheint es nämlich umgekehrt: die Fruchtbarkeit der Erde wird nicht als weiblich verstanden, weil man die Gebärkraft der Frauen als Schema der Erklärung auf die Produktionsrhythmen der Erde übertragen hat. Sondern die Priorität liegt auf seiten der Erde. Noch Platon, Philosoph der ersten Aufklärung, erinnert sich: "Denn die Erde hat nicht den Frauen nachgeahmt Schwangerschaft und Geburt, sondern diese ihr." (Menexenos 238a) Jede individuelle Geburt - allgemeiner jede demiurgische, besonders künstlerische Produktion - wiederholt den kosmischen Prozeß und die "Entstehung des Menschengeschlechts, die als Auftauchen aus der tiefsten chtonischen Matrix-Höhle verstanden wird". [43] Die Geburt ist Mimesis, durch die die Frauen die heiligen Gebärvorgänge der Erdmutter wiederholen. Insofern wäre ohnehin statt von anthropomorphen genauer von gynakomorphen Vorstellungen zu reden. Geburt und Tod des Menschen spielen in demselben Kreislauf, in welchem der mütterliche Erdkörper alles Leben aus sich hervorbringt und - im Tod in seinen Schoß zurücknimmt. Oft besteht der Glaube, daß die Entstehung der Erde sich dem Selbstopfer eines Gottes verdankt, aus dessen zerstückeltem Leib alles wächst: Erde, Metalle, Steine Pflanzen, Tiere und Mensch. Menschenopfer sind hiernach Mimesis der Kosmogonie. Das Opfer stellt die Übereinstimmung mit ener ursprünglichen Geburt der Erde im "Selbstopfer eines Gottes" her und sichert damit die heilige Ordnung der Welt und ihre Fruchtbarkeit. Oder die Welt geht aus der heiligen Hochzeit eines archaischen Götterpaares zurück: Natur ist zuerst sexuelle Genealogie. Für Eliade ist das Ritual von Leiden, Tod und heiliger Hochzeit, das Drama der produktiven Wandlung durch den Tod hindurch zu einer höheren Ebene des Daseins auch das Schema des alchemistischen Prozesses. Die Alchemie taucht in verschiedenen Kulturen mit der Entstehung des Bergbaus und der Schmiedekunst auf. Bergbau und Metallurgie hatten gewaltige Folgen für die Effektuierung des Ackerbaus, aber auch und vor allem für die Kriegstechnik und Staatenbildung. In den Mythologien vieler Völker ist das Eiserne Zeitalter darum auch eine Zeit des endlosen Schreckens, der grausamen Kriege, der Versklavungen und Verelendungen: das abgefallene Zeitalter, großartig und schrecklich. Auch darin spiegelt sich der Zivilisationsschub, der durch den Bergbau und die Beherrschung der Schmiedekunst möglich wurde. In den tragischen Mythologien der Eisenzeit wird zum ersten Mal der Gedanke gefaßt, daß der Mensch seinen Inventionen und der dadurch vervielfältigten Macht womöglich nicht gewachsen ist. Doch sind dies spätere Überlieferungen, mit denen die Rituale der Bergleute, Schmiede und Alchemisten zunächst nichts zu tun haben. Eisen war den Menschen zunächst nur als meteoritisches Eisen bekannt und deswegen heilig: stammte es doch vom Himmel und war mithin Zeichen des Göttlichen. Erst etwa von 1200-1000 v. Chr. wurden in Armenien sichere metallurgische Verfahren entwickelt, die sich von hier aus über die Welt ausbreiteten (außer Amerika) und die Grundlage für das "Zeitalter der Metalle" [44] legten. Die durch Bergbau und Erzschmelze gewonnenen Metalle behielten jedoch den heiligen Status des "himmlischen" Eisens. Die Vorstellung der mütterlichen Erde ließ nun aber die Metallverarbeitung als gynäkologischen Prozeß verstehen. In der Gebärmutter (Matrix, delph, delta) der Erde wachsen noch immer die Metalle als Embryonen, reifen ihrem Ziel entgegen - und das ist das Gold, in welches, ließe man der Erde nur genug Zeit, alle Metalle sich transformieren würden. Daß diese Vorstellung bis ins 18. Jahrhundert lebendig blieb, belegt Eliade mit einem französischen Alchemisten, der 1741 schreibt: "Wenn es keine äußeren Hemmnisse gäbe, die sich der Ausführung ihrer Pläne entgegenstellten, würde die Natur ihre Pläne vollenden.... Deshalb müssen wir die Geburt der Metalle als ebenso unvollkommen betrachten wie diejenigen der Fehl- und Mißgeburten, die nur erfolgen weil die Natur von ihrem Tun abgelenkt wird und einem Widerstand begegnet, der ihr die Hände bindet, und Hemmnissen, die sie daran hindern, in der gewohnten Ordnung zu wirken... Das ist auch der Grund, weshalb sie mehrere Metalle herstellen muß obgleich sie nur ein einziges Metall herstellen möchte. " [45] Und dies ist das Gold, "das Kind ihrer Sehnsucht", "ihr legitimer Sohn, weil nur das Gold das wahre Produkt ist". [46] Die religiöse Sättigung des Goldes beruht auf dieser Vollkommenheit, Ziel und Ruhepunkt zugleich der Zeit zu sein: erreichte Unvergänglichkeit und Erlösung. Die alchemistische Synthese des Goldes zielt darum weniger auf den ökonomischen als den sakralen Wert des Goldes: der Alchemist versucht, die Schwangerschaft der Erde in seinem Labor nachzuahmen und zu beschleunigen, sich also, wie Eliade bemerkt, an die Stelle der Zeit zu setzen, um ein Ziel zu erreichen das jenseits der Zeit liegt: Symbol des Goldes, das nicht der Kontingenz verfällt, vollkommenes, ersehntes Erzeugnis der Magna Mater selbst [siehe Abb . 13] . Alchemie ist wie der Bergbau und die Metallurgie zunächst Sakralpraxis. Schmiede, Alchemisten, Bergleute sind Techniten und zugleich "Verbreiter der Mythologien, Riten und metallurgischen Mysterien". [47] Sie sind damit Kulturträger und Initiationsmeister, jene Weisen, die den Zusammenhang der Kultur mit der Ordnung des Heiligen sicherstellen. Technik ist also eingelassen in einen kosmologischen und eschatologischen Kontext. Sehr wohl akkumulieren die Bergleute und Alchemisten instrumentelle Fertigkeiten und technisches Wissen. Doch "bedeutet" die instrumentelle oder apparative Struktur der Technik immer auch anderes, das durch die Art der Konjunktion und Koalition mit dem mütterlichen Erdleib bestimmt ist. Die Überzeugung von der Lebendigkeit der Natur erfüllt wohl alle vorneuzeitlichen Kulturen. Es sind Erfahrungen und Mysterien zugleich, wenn der Mensch in das Leben der Materien wissend eindringen und die Lebensrhythmen der Stoffe beeinflussen, ja steuern kann. Das erklärt die Verantwortungslast, welche "die Bergleute und Metallurgen mit dem Eingriff in den verborgenen Wachstumsprozeß der Erze übernehmen". [48] Ihre Technik ist Auseinandersetzung mit der gewaltigen Sexualität der Erde. Deshalb findet sich bei Schmieden und Montanen eine Fülle von Beschwichtigungsriten, Opfern, Vorsichtsregeln und sexuellen Abstinenzgeboten für die Zeit vor und während des Werks. Initiationslenker führen Schmiede und Bergleute in ihr Handwerk ein, indem sie diese einen Prozeß der Auflösung, Zerstückelung, des "kleinen Todes" (H. P. Duerr) [49] durchlaufen lassen. Seltsame Beziehungen bestehen zwischen der eigenen Sexualität und der Sexualität der Erde. Reinheit des Leibes, d.i. die ganz in ihm versammelte Kraft des Lebens, unterstützt die sexuellen Konjunktionen der Metalle. Meditative Vorbereitung ist selbstverständlich. Der sexuelle Sinn der rituellen Praktiken erklärt sich aus der sexualisierten Sicht der Erde selbst. Der Zusammenhang des Kosmos wird gebildet durch Sympathien, die die Stoffe miteinander verbinden. Hochzeit der Metalle; Zeugungen von Stoffen und Menschen im Hierosgamos von Himmel und Erde, Gott und Erdmutter; Wachstum der Erze in der Erdmatrix; Geburten und Aborte in den Schmelzöfen und Retorten: überall begegnet die Kraft der Sexualität als Mitte des kosmischen Lebens. Sehr früh entwickelt sich die Unterscheidung von einer exoterischen und einer esoterischen Seite der Montan- und Schmiedekunst. Es ist ein eschatologischer Impuls, der in die Alchemie eingeht. Die Suche nach dem Gold, dem Stein der Weisen, der roten Tinktur, dem Elixier des Lebens, dem arbor philosophorum, das Zeugen des "Sohns des Philosophen" - all dies zielt auf einen U-Topos, die Inseln der Seligen, jenseits der Zeit. Die alchemistische Vervollkommnung der Natur- im Bergwerk oder in der Retorte - zielt auf die Entbindung von der Zeit, zielt auf Unsterblichkeit und Unendlichkeit, auf die metallisierte, goldene Existenzform, die den Tod durchschritten und Teil am Göttlichen hat. [50] Das alchemistische Werk, das den Makrokosmos nachahmt, ist zugleich ein meditativer Prozeß des Alchemisten, der in der Wandlung der Metalle seine eigene Wandlung betreibt. [51] Wird die Metallwandlung nur möglich durch vorausgehende Auflösung der Stoffe in die prima materia, so entspricht dem auf seiten des Alchemisten, meditativ einen Regreß "auf das vorgeburtliche, embryonale Stadium" [52] zu durchlaufen [siehe Abb. 14]. Dies ist eine charakteristische Meditationsfigur der Alchemie. Es ist der Glaube, daß die vorwärtstreibende Grenzüberschreitung der symbolischen Rückkehr an den Ursprung bedarf. Das philosophische Gold erreicht nur, wer die Kosmogonie zurückgelaufen ist, sich in ihren Anfang auflöst und von dort aus wiedergeboren wird im utopischen Raum, dem goldenen Zustand der Vollkommenheit. Dies sind Denkfiguren, die die hermetische Tradition bestimmen bis hin in die Renaissance-Alchemie und Montan-Kultur. So erklärt Paracelsus, daß der, welcher "zum anderen Male geboren und clarificiert" werden, also ins Reich Gottes eingehen wolle, die Separation von Leib, Seele und Geist durchlaufen müsse urid dabei "m seiner Mutter Leib ... wiederum muß und in ihr das irdische natürliche Fleisch verlieren". [53] Und noch bei Georg von Welling, dessen Werk Goethe 1768 von Susanna von Klettenberg zum Studium erhält, heißt es: "DENN ich kann das Himmelreich nicht gewinnen, wenn ich nicht ein zweites Mal geboren werde. Deshalb möchte ich in den Schoß meiner Mutter zurückkehren, um wiedergeboren zuwerden, und das werde ich bald tun." [54] [Siehe Abb. 15] Damit befinden wir uns bereits in den Voraussetzungen der hermetischen Naturphilosophie Goethes, die bis in den späten Faust und die Wanderjahre ihre Faszinationskraft nicht verlieren. [55] Und wir befinden uns im Kern einer Reihe von romantischen Erzählungen. Hierzu gehört zuvorderst die Initiationsreise Heinrich von Ofterdingens in das Berginnere; dazu gehört das Sterben des Elis Fröbom im Bergwerk zu Falun, der archaischen Zone der Bergkönigin (E.T.A. Hoffmann); ferner die Tannhäuser-Erzählung und die Runenberg-Novelle von Tieck sowie die darauf beruhenden Opern-Libretti von Richard Wagner und Hofmannsthal. [56] Es sind alte naturmystische Praktiken der Initiation, des kleinen Todes und des rebirthing. Sie tauchen, ihres alchemistischen und meditativen Hintergrunds entfremdet, um 1800 wieder an der historischen Nahtstelle auf, wo eine alte Kulturpraxis nun das Symbolreservoir hergibt für die epochale Entdeckung des Unbewußten: in diesem begegnet die Alchemie und das Bergwerk wieder Bergwerk und Unbewußtes sind Archive der Erinnerung. Die Initiation in den mütterlichen Erdleib ist nach 1800 nur noch Moment einer als neurotisch, gar psychotisch geltenden Regression Das alte alchemistische Wissen sinkt buchstäblich ins Unbewußte ab. Durch keine Rituale und Kulturpraktiken mehr abgesichert wuchert die Verbindung mit der Magna Mater Erde in den Phantasmen und Obsessionen von seltsamen Jünglingen - als Bedrohungen und zugleich Kritik der - wie Novalis fürchtet - versteinerten Identität der Vernunft. Um 1900 geht die Struktur des alchemistischen Wandlungsprozesses unbegriffen in das Szenario jener Wissenschaft ein, die das Unbewußte zum Gegenstand hat: die Psychoanalyse. In der alchemistischen Medizin war selbstverständlich, daß Heilung nur gelingen kann, wenn man die Reise zurück zu den Ursprüngen wagt - eben den "kleinen Tod" erleidet, den Zustand der Entdifferenzierung, den die Alchemisten die nigredo, die Schwärze nennen. Nur durch Regression und Wiederholung ist Heilung höhere Integration und vielleicht Vollendung möglich. Das ist der Sinn des Initiationstodes. Es ist die Psychoanalyse, die diese alchemistische Grunderfahrung zum Setting einer nun profanen Therapie macht: der Patient löst - unter der methodischen Anleitung des Analytikers (Initiationsmeisters) - seine gegenwärtige Subjektformation im Regreß auf die genetischen Wurzeln seiner Herkunft auf, er entdifferenziert sich, leidet die nigredo durch, lebt die Prozesse seiner psychischen, manchmal auch der physischen Geburt nach, wiederholt das Drama der mikrokosmischen Schöpfung und gewinnt im Durcharbeiten dieser Wiederholung - so verspricht es der Analytiker wie der Alchemist - jene neuen Energien ("neuen Stoffe"), die ihn zur Wandlung seiner Ich-Strukturen befähigen. Dle romantischen Bergwerks-Erzählungen bilden die Schnittstelle, wo durch das Ableben vormoderner Montanpraxis diese frei wird für neue symbolische Besetzungen, die die protopsychoanalytische Phase bilden: Naturgeschichte geht in Subjektgeschichte über. Das Bergwerk wird zur Szene des Subjekts.
Beschränkt man den Blick auf das Bergmanns-Kapitel des Ofterdingen-Romans, so könnte man annehmen, daß das Montan-Motiv der Romantik keinerlei Kontakt zur Geschichte und Gegenwart des Montanbaus hat, sondern nichts als poetische Metapher ist. Daran ist zu zweifeln. Erstaunlich ist eher die hohe Zahl von Montan-Fachleuten unter den Autoren um 1800: Alexander von Humboldt, Franz von Baader, Novalis, Theodor Körner und Henrik Steffens haben an der Freiberger Berg-Akademie studiert oder waren Schüler des dortigen weitberühmten Montan-Lehrers Abraham Gottlieb Werner. Auf Reisen waren Besichtigungen von Bergwerken ebenso obligat wie Theaterbesuche oder die Inspektion von Irrenhäusern. Wenn Tieck, Ernst Moritz Arndt, Gotthilf Heinrich Schubert, Johann Peter Hebel, Achim von Arnim, E. T. A. Hoffmann, Joseph von Eichendorff, Wilhelm Hauff über Bergwerke schreiben, wissen sie, allermeist, aus eigener Anschauung und Kenntnis, wovon sie reden. Hinsichtlich Friedrich von Hardenbergs (Novalis) ist seit den Erforschungen seines beruflichen Werdegangs die Legende vom ätherischen Romantiker zusammengebrochen. [57] Zwei Studiengänge Jura in Jena, Leipzig und Wittenberg 1790-94 sowie Montanwissenschaft in Freiberg 1797-99) zeigen Hardenberg wissenschaftlich qualifiziert ausgebildet. Der technische Entwicklungsstand des Bergbaus und dessen komplexe kameralistische, juristische und administrative Verwaltungsstruktur erfordern professionalisierte Experten in Technologie und Management (Novalis wird Fachmann der neu entstandenen "Berg-Kameralwissenschaft"). Als solcher Experte war Hardenberg diszipliniert, engagiert, loyal, effizient, ehrgeizig, mit einer für sein Alter glänzenden Karriere und hervorragenden Aussichten für die Zukunft. "Die Schriftstellerei ist eine Nebensache... dem praktischen Leben", schreibt Novalis am 5.12.1798. Naturwissenschaften und Berufspraxis bildeten mehr als bei jedem anderen zeitgenossischen Autor, und entschiedener noch als bei Goethe, den Mittelpunkt dieses kurzen Lebens. An Caroline Just schreibt er im Februar 1796: "Die Ordnung... wird mir jetzt Bedürfniß ... Ich lebe jetzt auch mit Liebe ganz meinem Geschäfte ...Ich muß mir ein gutes Schicksal verdienen und nur die Tugenden eines Geschäftsmanns führen den belohnendsten aller Wege. Jeder Fehltritt, jede Declination wird zum Hinderniß, zur Säumniß. Selbst die langen Entbehrungen gewöhnen mich an die wohlthätigsten Tugenden - zum geduldigen Fleis und zur Genügsamkeit. Das Feuer muß einen Ausgang haben ... nur die Ordnung der Arbeitsamkeit bleibt ihm übrig." - Das klingt wie der Katechismus einer abgerungenen Leistungsethik im Geist des Kapitalismus. Nach den Freiberger montanwissenschaftlichen Studien, Hardenberg ist nun schon Salinen-Assessor, heißt es am 10.12.1798 an Friedrich Schlegel: "Der Kaufmann ist jetzt an der Tagesordnung, Chymie - und Mechanik oder Technologie im allg [emeinen] müssen jetzt vorzüglich dran. Das Andre muß warten . " In diesem Sinn hat Hardenberg bis zu seinem Tod an der Front aufgeklärter Wissenschaft und Technik gearbeitet. Anders als seine "symphilosophischen" Fragmente oft vermuten lassen, hat Hardenberg eine strenge wissenschaftliche, juristische und verwaltungstechnische Berufshaltung. Er entfaltet diese exoterische Seite seines Lebens in jenem Feld, welches im Zuge des sogenannten Retablissements des Kurfürstentums Sachsen nach dem Siebenjährigen Krieg sich zum Zentrum wissenschaftlich technischer, ökonomischer und administrativer Innovationen entwickelt: dem Salinen- und Montanwesen. [58] Dieses kann als Paradigma der Synthese feudal-absolutistischer Staatswirtschaft und wissenschaftlicher Aufklärung gelten. Freilich wäre Hardenberg nicht Novalis, wenn dieser exoterischen Seite nicht eine esoterische entspräche. Sie wird vor dem Vater und den Vorgesetzten weitgehend verborgen und findet in den berufspraktischen Studien und Schriften keinen Ausdruck. Zu Beginn des Studiums in Jena und Leipzig studiert er keineswegs pflichtgemäß Jus, sondern tut in den schönen Wissenschaften frei sich um. Es bedarf erzieherischer Ermahnungen, so etwa von Schiller, um den Jüngling zur Ordnung zu motivieren. Die Aufrufe zur Pflicht hat Hardenberg zu einem Bedürfnis nach Ordnung verinnerlicht. Und er hat - wie in einer Kompromißbildung - die Welt der Pflicht insgeheim zu einem Glied in einem philosophisch-poetischen Konzept verwandelt. "Jeder Federzug" der nüchternen Praxis, schreibt er, "ist Glied in der teleologischen Kette" (an Caroline Just, 23. 2. 1796). Und im Brief vom 8. 7. 1796 an Friedrich Schlegel, worin er von der rastlosen Arbeit im Beruf schreibt, heißt es: "Ich fühle in Allem immer mehr die erhabenen Glieder ein [es] wunderbaren Ganzen - in das ich hineinwachsen, das zur Fülle meines Ichs werden soll." Realsymbol dieser teleologischen Steigerung der Alltagsgeschäfte ist Sophie von Kühn, von der es darum im selben Brief heißen kann: "Mein Lieblingsstudium heißt im Grunde, wie meine Braut. Sofie heißt sie - Filosofie ist die Seele meines Lebens und der Schlüssel zu meinem eigensten Selbst." Sophie zu lieben, ist für Novalis die Fortsetzung seiner unterdrückten Liebe zu den schönen Wissenschaften, die er der aufgeklärten Berufsmoral aufzuopfern hatte. Sophie wird ihm zum Anlaß einer poetischen Verwandlung, durch die die wissenschaftlich-technische Welt zum Element einer ästhetischen Teleologie wird. In den Jahren 1795 bis 1797 ist dies noch nicht der kognitiv rekonstruierbare Entwurf eines ästhetischen Programms; eher handelt es sich um die psychische Balancierung des anders nicht haltbaren Widerspruchs zwischen den Ansprüchen des Herzens und der Einbindung in eine streng-nüchterne Praxis. Entsprechend katastrophal wirkt der Tod Sophiens im März 1797. Im Verlauf der Trauerarbeit, die an den Briefen nach dem 19.3.1797 abzulesen ist, richtet Novalis das verlorene Realsymbol Sophie in seinem Inneren als "Bild", als "Wunderbild" seines "besseren Selbst" (IV, 211) [59] wieder auf . Dieser Vorgang, in gemilderter Form Bestandteil jeder Trauer, steht bei Novalis im Dienst der Abwehr einer Angst: daß er, beraubt um das "Lebendige", für das "kein Ersatz" (IV, 211) ist, zu einer "entsetzlichen Verknöcherung des Herzens" (IV, 215) verurteilt sein könnte. Der "Usurpator" "Verstand" und "indifferente Kälte" drohen versteinernd von ihm Besitz zu ergreifen (IV, 215, 207/08). Das wäre die Depression als Preis der Rationalität. Novalis deutet Wissenschaft und Beruf als einen Prozeß, durch welchen der Verstand "unvermerkt das Herz aus seinen Besitzungen verdrängt" hatte (IV, 215). Den Schmerz dieser Verdrängung in der gehorsamen Pflichterfüllung hatte Sofie/ Filosofie gemildert. "Sofie gab dem Herzen den verlorenenTraumwieder." (ebd.) Ihren Tod verarbeitet Novalis in einer Form, die das Verhältnis von exoterischer Rationalität und esoterischer Poesie strukturieren wird . In der Angst vor dem lebenden Tod, der ćVersteinerung" (IV, 207) durch den Verstand identifiziert sich Novalis mit dem toten Liebesobjekt, um sein "Herz", sein "Lebendiges" zu retten. Das isttparadox. Der Todeserfahrung den höheren Gesichtspunkt des Lebendigen zu entnehmen, soll ihn vor dem Kältetod der "Offizialgeschäfte" (IV, 215) und der Wissenschaften schützen. Der Wunsch, Sophie nachzusterben, wird zum Begehren der Poesie und zum esoterischen Motiv der wissenschaftlichen Arbeit: "Die Wissenschaften", schreibt er bereits am 29.3.1797, "gewinnen ein höheres Interesse für mich, denn ich studiere sie nach höheren Zwecken - von einem höheren Standpunkte. In ihnen, in Aussichten auf die unsichtbare Welt, in wenigen Freunden und in Pflichtgeschäften, will ich bis zum letzten Athemzuge leben, der, wie mir scheint, so entfernt nicht ist, als ich oft fürchte." (IV, 215) Das folgende Freiberger Semester, das Hardenberg mit der Spitze der Montan-Wissenschaft vertraut macht, enthält von Beginn an einen hermetischen Kern. Er ist lebensgeschichtlich motiviert, bildet sich in der Folge jedoch dahin aus, daß Novalis - abseits des akademischen Lehrprogramms und seiner späteren montanen Verwaltungsarbeit - ein intensives Studium hermetischer Schriften hinter sich bringt. [60] Dadurch erst wird möglich, daß er im Ofterdingen der eigenen bergbauwissenschaftlichen Praxis das Bild eines hermetischen Montanwissens, einer "Montan-Sofie" (H. B.) entgegenhält. Er rettet darin, obwohl der Verlust der realen Sophie verarbeitet scheint, ihr Bild als Schlüssel zur poetischen Ausbildung seines "eigensten Selbst" (IV, 188). - Ob dies gelingen kann, mag fraglich sein, wenn irgend die "Seelenauszehrung", die er im März 1797 nach dem Tode Sophies fürchtet, mit der physischen Auszehrung im Winter 1800/01 in einem wohl nie endgültig entzifferbaren Zusammenhang steht.
Im Bergwerk-Kapitel des Ofterdingen spiegeln sich die Freiberger Studienjahre Hardenbergs. Freiberg, seit 1168 Silberbergbau-Stadt, hat 9400 Einwohner und betreibt 1794 219 Zechen mit 5043 Bergleuten. [61] Der Regent Sachsens, Xaver, stiftete im Zuge des sächsischen Retablissements 1765 eine der ersten technischen Hochschulen der Welt. Sie wird schnell zum internationalen Zentrum der Montanwissenschaft. Als Hardenberg sich im Dezember 1797 inskribiert, ist er der 493. Student des Jahrgangs. Die Ausbildung folgt auf hohem wissenschaftlich-technologischem und praktischem Niveau. Ziel des Landesherrn ist es, den seit dem 17. Jahrhundert unrentablen Bergbau durch massiven Einsatz wissenschaftsangeleiteter Technik zu einer staatswirtschaftlich einträglichen Quelle zu verwandeln: sowohl hinsichtlich der Salinen wie der Kohle- und Erzbergwerke. [62] Die Bergakademie-Gründungen (1770 folgten Berlin und Chemnitz) und der Zusammenschluß der Montanwissenschaftler und Kameralisten zur "Societät der Bergbaukunde" 1786 sind Symptom der Verwissenschaftlichung des Montanbaus. Im Vorwort des ersten Sammelbandes der Sozietät heißt es programmatisch: "da wir sehen, daß eine lang vernachlässigte, von den Antipoden des Lichts ängstlich verhinderte Aufklärung, auch in den Regionen unter der Oberfläche der Erde wirklich für so wichtig geachtet zu werden anfängt, als sie geachtet zu seyn schon längst verdient hätte" [63], bedurfte es dringlich einer Selbstorganisation aller Montankundigen. Dies ist die Sprache der Aufklärung: Licht zu bringen in sämtliche Praxisräume, selbst unter die Oberfläche der Erde (wie schon längst am Himmel). Nach dem frühkapitalistischen Entwicklungsschub von 1450 bis 1550 erfolgt jetzt die eigentliche Verwissenschaftlichung. Im Bergbau - so erkennt man - herrscht zu viel naturwüchsiges Praxiswissen, das regional begrenzt und zudem geheimgehalten wird [64]; man arbeitet getrennt und unsystematisch. Auflklärung tritt an mit dem Programm systematischer Veröffentlichung und Beschleunigung des Montanwissens. Der Kampf der Sozietät gegen die "bey verschiedenen Bergwerken üblichen Manipulationen, sogenannte Geheimnisse, entweder einzelner sterblicher Menschen, oder Handwerksmäßiger Innungen" [65] entspricht dem Modell neuzeitlicher Wissenschaft: Zugänglichkeit und Kontrolle, organisierte Produktion und internationale Kommunikation des Wissens. [66] War der Bergbau traditionell Sphäre des Geheimnisses und der hermetischenWissenschaft, so ist dies der Montan-Entwicklung endgültig hinderlich. Die "Vortheile des Bergbaus" sind nicht mehr umstritten . Ethische, religiöse oder naturphilosophische Bedenken, die es um 1500 noch zu überwinden galt, bestehen nicht. Die montane Ausbeutung ist durch keinerlei Schranken gefesselt. Bergbau, so steht den Gründungsmitgliedern der Sozietät fest, "ist die erste Quelle der Reichthümer". [67]Doch gilt dabei auch, was generell für moderne Wissenschaft zutrifft: ihre Blindheit gegenüber der Macht. Das Interesse der Wissenschaftler an Forschung hat sich dem ökonomischen Interesse und der Kontrollmacht des Staates anzubequemen. In der Satzung der Sozietät wird deswegen das Prinzip Öffentlichkeit sofort eingeschränkt: "Hier ist zu erklären, daß politische und Finanzgeheimnisse, nicht mitverstanden sind. " Die Verflechtung von Wissenschaft und Staat ist etwa auch an A.G. Werner zu beobachten: eine seiner großen wissenschaftlichen Leistungen ist die kartographisch-geognostische Erschließung der sächsischen Bodenschätze. Novalis wirkt an diesem Projekt, in welchem er "wichtige Capitel aus der Grammatik dieser Sprache der allgemeinem Physik" und "Urkunden dieser uralten Naturgeschichte" zu entziffern hofft (IV, 298), vorübergehend mit. Das Gesamtprojekt wird nach über 20 Jahren, ein Jahrzehnt nach Novalis' Tod, abgeschlossen: Werner versteht sein Modell geognostischer Geographie als paradigmatischen Beitrag zur Naturgeschichte; wirklich aber ist es die Grundlage der industriellen Ausbeutung der Bodenschätze Sachsens im 19. Jahrhundert. [68] In diesem Klima und solchen Widersprüchen erfährt Novalis seine Ausbildung und praktiziert er seinen Beruf. Er gehört nicht zu den "Antipoden des Lichts". Als Aufklärer entdeckt er das Dunkel, als Wissenschaftler erschließt sich ihm das Fremde und Andere des Berges; als Mann der Sichtbarmachung entdeckt er, was der Sicht der Rationalität entgeht. Gehört er als Montankundiger zur zweiten Revolution des Bergbaus, so greift er als Dichter auf die Legitimationsprobleme und die kulturelle Phantasmatik des Montanwesens zurück, die im 16. Jahrhundert unterzugehen begann. Die Spannung zwischen Montankunde und Montanpoesie hat Novalis vermutlich mit Widersprüchen der Verwissenschaftlichung selbst verbunden, die er an seinem Lehrer Werner beobachten konnte - was hier nur angedeutet werden kann. Die Leistungen Werners in der Mineralogie können, von Foucault her, dem Typus des klassifikatorischen Tableaus räumlich angeordneter Naturgeschichte zugeordnet werden; während er in der Geognosie dem von Lepenies beschriebenen Prozeß der Verzeitlichung der Wissensformen angehört. [69] So ist die neptunistische Lehre etwa deren dogmatischer Verfechter Werner auch noch ist, als viele seiner eigenen Schüler wie z. B . A. v. Humboldt sich davon abwenden, zwar wissenschaftlich falsch, jedoch forschungspsychologisch verständlich und entschieden historisch ausgerichtet. Ist Werner darin eine zugleich rückwärts- wie vorwärtsgewandte Übergangsfigur der Wissenschaftsgeschichte am Ausgang des 18. Jahrhunderts, so konnte Novalis an ihm weitere Züge wahrnehmen, die ihm wichtig wurden. Zum einen war Werner nicht eigentlich schriftorientiert, sondern, wie vielfach bezeugt ist, ein charismatischer Lehrer von hinreißendem Vortrag, von patriarchalischer Souveränität und Fürsorglichkeit. [70] Darin wirkt das Meister-Adepten-Verhältnis fort, wie es Novalis in den Lehrlingen zu Sais und im Ofterdingen als vorneuzeitliche Form der Wissensvermittlung porträtiert. Wichtiger aber ist, daß der epistemologische Aufbau der Wernerschen Fossilienlehre eigenartig widersprüchlich ist. Neben moderner chemischer und physikalischer Klassifikation hält er, der über ein eidetisches Gedächtnis und differenzierte physiognomische Wahrnehmungskunst verfügt, an sinnlicher Erfahrung fest. [71] Ja, Werner hat eine entschieden vormoderne Scheu vor instrumenteller Datenerhebung. Eben dies meint Novalis, wenn er vom "divinatorischen Sinn" (IV, 298) Werners spricht. Leibvermittelte Eindrücke, sinnliche Anschauung, naturphysiognomisches Urteil schließt Werner nicht nur nicht aus der Wissenschaft aus, sondern hält sie in jeder forscherischen Naturbeziehung für unabdingbar. Diese auch bei Goethe [72] beobachtbare Abwehr der Dazwischenkunft von Beobachtungsapparaten zwischen sinnlichem Leib und Gegenstand hindert Werner daran, in der Mineralogie den Schritt zu gehen, der seit Galilei die Astronomie als Wissenschaft begründete oder wodurch Newton die Optik zum Paradigma erheben konnte: strikte instrumentelle Forschungstechnik. Diese epistemologische Spannung im Wernerschen System mag dazu beigetragen haben, daß Novalis in seinem Beruf ein aufgeklärter Technologe war, während er in der Poesie jene vormoderne Linie zog, die bei Werner in der engen Konjunktion von Leib und Mineral angelegt war: nämlich in holistischen Strukturen zu denken, in der Einheit von Mensch und Natur. So heißt es in einem Fragment von 1798: "Erwerbsbergbau - wissenschaftlicher, geognostischer Bergbau. - Kann es auch einen schönen Bergbau geben ?" (II, 543) . Diesen "schönen Bergbau", in dem die Zeichenschrift der Natur durch Asthetik entziffert wird, hat Novalis im Ofterdingen entworfen. Er konnte dies nur im Rückgriff auf alte Symboliken, in denen sich Praktiken des Montan-Baus spiegeln, die der Berg-Akademiker Hardenberg längst hinter sich gelassen hatte.
An Schleiermacher schreibt Friedrich Schlegel im Mai 1800 über den Ofterdingen: "Das Ganze soll eine Apotheose der Poesie seyn, es sind indessen vor der Hand herrliche Bergmannsträume, das Centrum das Symbol des Goldes." [73] Novalis notiert in der Freiberger Zeit über Bücher: "Wenn Geist gleich edlem Metall ist, so sind die meisten Bücher Ephraimiten. (Münzen mit geringem Edelmetallgehalt, H. B.) Unsre Bücher sind ein unförmliches Papiergeld, das die Gelehrten in Kurs bringen. Diese Papiermünzliebhaberey der modernen Welt ist der Boden, auf dem sie, oft in Einer Nacht, emporschießen . " (II, 462) Mehreres ist hieran bemerkenswert. Schlegel konnte noch nicht sehen, daß die "Bergmannsträume" eine wichtige Stufe der Einweihung Heinrichs ins Geheimnis der Kunst darstellen. Bergwerk und "Apotheose der Kunst" gehören zusammen. Von "Bergmannsträumen" zu sprechen, ist ein Hinweis auf die vielschichtige Bedeutung des Erdinneren und Montanen im Roman. Es geht aber nicht allein um Bergwerk. Die Bezüge des Montan-Kapitels zu den beiden Träumen Heinrichs wie zum Klingsohr-Märchen machen deutlich, daß die unterirdische Welt (1) zur Topographie des Subjekts gehört, nämlich das Unbewußte, Traumhafte, Imaginäre bezeichnet; (2) aber, insbesondere in der Gestalt des subterranen Metallgartens mit künstlichen Grotten und (metallischen) Wasserspielen, die Zone höchster Artifizialität und damit der Kunst überhaupt symbolisiert. [74] (3) Schließlich erkennt Schlegel richtig die zentrale Bedeutung des Goldes. Es ist der König der Metalle, Ziel aller metallurgischen Prozesse; es ist als "philosophisches Gold" Ziel der Initiationen und Zustand der Vollkommenheit; es ist Symbol der Weisheit und des Reichtums, der Fülle und der Souveränität; es ist schließlich in der Formel "goldne Zeit" sowohl Ausdruck der Zeitenruhe, der Ewigkeit und Vollendung wie auch Ursprung und Ziel aller Zeiten, dasienige nämlich, das den Zeitfluß nicht als leeres Verstreichen, sondern als teleologische Ordnung erscheinen läßt; das Gold ist also Metapher der Geschichtsphilosophie . [75] Aus der Notiz des Novalis zum Gold der Bücher und zur "Papiermünzliebhaberey der modernen Welt" geht hervor, was der Roman Heinrich von Ofterdingen selbst sein soll: nämlich goldenes Buch, der unendliche, absolute Roman, welcher einer Buchproduktion entzogen werden will, die vom Geld-Ware-Geld-Kreislauf ergriffen ist. Die Initiation ins Bergwerk soll Heinrich mit der esoterischen, "goldenen" Seite der Kunst vertraut machen, die der Roman des Novalis in sich selbst bereits zu realisieren sucht. Die Formstruktur des Romans ist der alchemistischen Goldherstellung analog: wie diese aus den unedlen Metallen das Gold, so prozessiert der Roman aus den historischen Lagerstätten der Gattungsformen und Sprechweisen das absolute Buch, die goldene Chiffrenschrift der Erlösung. [76] Darin ist jene Wendung gegen die moderne Vermarktung der Bücherwelt enthalten, die Heinrich hinsichtlich des Montanbaus vom alten Bergmann lernen soll.
Heinrich wird auf seiner Reise durch Mentoren und symbolische Begegnungen mit dem Weltwissen ebenso wie mit dem Universum poetischer Sprechweisen vermittelt, damit er werde, was ihm von Beginn an, in den Träumen, vorgezeichnet ist: Dichter. Es sind Situationen nicht psychologischer Reifung, sondern stufenweiser Initiation in die für Novalis zentrale geschichtsphilosophische Instanz der Poesie. Im gegenwärtigen zerrissenen Weltzustand hat die Poesie die Aufgabe, in Erinnerung an ein vormals goldenes Zeitalter auf eine künftige Versöhnung von Mensch, Geschichte und Natur durch Aufhebung aller zerstreuten Diskurse hinzuarbeiten. Auf dieser Reise nun begegnet Heinrich dem alten Bergmann. Dieser Bergmann hat "von Jugend auf ... eine heftige Neugierde gehabt zu wissen, was in den Bergen verborgen seyn müsse, wo das Wasser in den Quellen herkomme, und wo das Gold und Silber und die köstlichen Steine gefunden würden, die den Menschen so unwiderstehlich an sich zögen" (I, 239). Der "Wille zum Wissen", die erotische Neugierde aufs verborgene Innere der Natur ist Urmotiv des Montanen, nicht Aneignung und Reichtumserwerb. Bergbau ist kein bloßes Handwerk, sondern "seltne, geheimnisvolle Kunst" (I, 241). Die erste Einfahrt in den Berg wird mit Zeichen der Ergriffenheit und Wunscherfüllung beschrieben. Dem Initianden scheinen die Bergleute nicht Arbeiter, sondern "unterirdische Helden" zu sein, in "ernstem, stillem Umgange mit den uralten Felssöhnen der Natur" (I, 241) . Die Messe am Morgen erinnert, selbst in ihrer christlichen Form, an rituelle Praktiken zur Versöhnung der Erde, wenn man das Sakrileg begeht, in ihr Inneres einzudringen. Bei Novalis bleibt die Feierlichkeit noch spürbar, die Vorsicht und der Respekt, die den Bergmann bei der ersten Einfahrt dauerhaft prägen sollen. In offenbarer Gleichgültigkeit gegenüber der Tatsache, daß der Herzog von Böhmen aus den Bergwerken "ungeheure Schätze" gewinnt, von den Besitzverhältnissen also absehend, verpflichtet sich der Bergmann auf eine Berufsethik freiwilliger Armut. Der historische Grund davon wird unterschlagen, damit der Bergbau als poetischer Entwurf, als "ernstes Sinnbild des menschlichen Lebens" (I, 246) gerettet wird: Bergbau als Kunst- und Lebenslehre. Es ist ein spezifisches Wissen, das dem Bergmann die ökonomische Naturausbeutung verbietet: "Die Natur will nicht der ausschließliche Besitz eines Einzigen seyn. Als Eigenthum verwandelt sie sich in ein böses Gift, was die Ruhe verscheucht, und die verderbliche Lust, alles in diesen Kreis des Besitzers zu ziehn, mit einem Gefolge von unendlichen Sorgen und wilden Leidenschaften herbeylockt. So untergräbt sie heimlich den Grund des Eigenthümers, und begräbt ihn bald in den einbrechenden Abgrund, um aus Hand in Hand zu gehen, und so ihre Neigung, Allen anzugehören, allmählich zu befriedigen." (I, 245) Zweifellos ist dies ein Einspruch gegen die Kapitalisierung des Bergbaus, der Natur überhaupt. Eine romantische Haltung: Antikapitalismus als moralischer Protest, der aus Tabus herrührt, die der Natur selbst entnommen zu sein scheinen. Der Bergmann verhält sich abstinent gegen die Bildungen des Berginneren, sobald sie an den Tag getreten sind: "Sie haben für ihn keinen Reiz mehr, wenn sie Waaren geworden sind." (I, 244) Seine Kunst befriedigt sich nicht am Nutzen, sondern erfüllt sich in sich selbst, d. h. im Inneren des Berges. Montankunst und Autonomie-Ästhetik liegen nahe beisammen. Denn Bergbau ist nicht nur Symbol alchemistischer Praxis, sondern auch ästhetischer Produktion. Die gehobenen Schätze, die in den verderbenbringenden Kreislauf des Geldes eingespeist werden, schaffen offensichtlich eine Macht, die der Bergmann nicht will: was den Herzog nur freuen kann. [77] Novalis kontrastiert zwei Praktiken: Bergbau und Metallurgie im Kapital-Kreislauf und die Montankunst, die jede Nutzenkalkulation verbietet. Für den Bergmann ist Profitgier, der Metallhunger, ein "gefährlicherWahnsinn" (I, 244). Sein eigenes gefährliches Geschaft begehrt andere Lust und anderes Wissen. Der zwischen sakralen und ästhetischen Momenten pendelnde Praxisbegriff des Bergmanns begehrt die "wundersame Freude an Dingen, die ein näheres Verhältniß zu unserem geheimen Daseyn haben mögen" (I, 242). Berginneres, Metalle, Erzadern und die "geheime" Subjektform des Bergmanns stehen in einem seltsamen Zusammenhang.
Dieses Geheimnis ist nicht in Prosa, sondern nur in Poesie sagbar. Im Gedicht spricht die verborgene Wahrheit des Bergmanns:
Wer ihre Tiefen mißt, Und jeglicher Beschwerde In ihrem Schooß vergißt. Wer ihrer Felsenglieder Geheimen Bau versteht, Und unverdrossen nieder Zu ihrer Werkstatt geht. Er ist mit ihr verbündet, Und inniglich vertraut, Und wird von ihr entzündet, Als wär' sie seine Braut. (I, 247)
Die Deutung des Berges als Lebewesen tritt hervor, nicht ohne Iyrische Peinlichkeit. Die Erde ist weiblicher Leib, Braut und Mutter. Bergbau ist Einfahrt in den Schoß der Erde: Montankunde, Erotik und Sexologie in einem. Die Erde als Leib ist eine zentrale Metapher der Romantik, wobei Tieck, Hoffmann, Arnim, Schubert, Eichendorff durchweg auf Novalis zurückgehen. Novalis aber hat dieses Deutungsmuster wie auch das des Montanbaus als gynäkomorphe Technik den Schriften der Alchemie entnommen. Der Bergmann befindet sich zur Natur in einer Allianzbeziehung. Seinem Handeln begegnet willig die Natur. Die Allianz zwischen Montanen und Berg ist erotisch; Bergbau ist coitales Eindringen in die Wachstumsstätten des Erdleibes, Penetration und Geburtshilfe in einem. Diese Lust hat ihren Lohn in sich; sie fordert Abstinenz, soziale Isolation, "innerweltliche Askese". Darin sind Bergmann und Künstler verwandt. Im Bergbau erfährt Heinrich, was zur Ausstattung des romantischen Künstlers (und Alchemisten) gehört: das Wissen um die Leiblichkeit der Erde und die Liebe zur Natur. Bergmann und Künstler realisieren das Prinzip der Natur, "Allen anzugehören"; sie respektieren ihre Lebendigkeit und gewinnen statt Geld das philosophische Gold einer Erfahrung, in der sie sich mit der Natur, wie mit einer Braut, vereint wissen - doch auch dies nur symbolisch. [78] Dieser Stufe der Einweihung folgt in einem zweiten Lied, "dunkel und unverständlich", eine weitere. Das Gedicht erzählt, unter Aufnahme des Atlantis-Mythos, von einem versunkenen Schloß, einem darin eingeschlossenen König - dem Gold - und seinen Untertanen. Novalis verschmilzt romantische WasserPhilosophie und Montan-Legende. Der König hört den von den "Gestirnen" erzählenden Quellen zu und ...:
Wäscht sauber seine zarten Glieder Und seine Stralen blinken wieder Aus seiner Mutter weißem Blut. (I, 249)
Deutlich ist die matrilineare Codierung des Motivfeldes. Der König (=das Gold: eine alchemistische Gleichsetzung) symbolisiert die Verschmelzung mit der mütterlichen Natur. Ganze Geschlechter leben, wie es heißt, in Bann dieses inkorporierten Königs -: ein gleichsam voraufgeklärtes, in Natur (ihrem Blut, Strom) eingeschlossenes Leben. Diesen Frühzustand der Menschheit versteht Novalis als symbiotischen Bann der Natur. Es ist ein "Goldenes Zeitalter", doch auch Zeit einer unbewußten Gefangenschaft der Menschen:
Und ahnden nicht, daß sie gefangen. (I, 249)
Das Bewußtsein hiervon wird durch wenige geweckt, die "schlau und wach" sind: das Werk umfassender Aufklärung beginnt, an deren Ende der "Tag der Freyheit" steht. Geheimnis und Bau des Schlosses werden durchdrungen, das "Innere entblößt", der König aus seiner "Kammer" geholt; Montanbau und Aufklärung werden eins. Der Mensch wird "Meister" der "wilden Fluten". Diese terrestrische Kulturarbeit, welche die im König-Gold repräsentierte Macht der Natur beherrschen lernt, schlägt auf der dritten Stufe merkwürdig um:
Das Meer die leere Burg durchdringen Und trägt auf weichen grünen Schwingen Zuruck uns in der Heymath Schooß. (I, 250)
Die apokalyptische Flut als Befreiung des Menschen von der Geschichte und Rückstrom ins amorphe Urelement der Natur. Die Kultur- und Befreiungsarbeit wird eingeklammert durch die Identität von Geburt und Tod im Meeres- und Mutterschoß, dem mythischen Kreislauf der Natur, deren Bild der pränatalen Homöostase entnommen ist. Dies ist das Wissen, auf das als letztes sich die Kunst des Bergmanns bezieht und das Heinrich von diesem lernen soll.
Hiernach ist Heinrich reif für eine weitere Initiation. Riesige Höhlen liegen in der Nähe. In Begleitung des Bergmanns will man sie besuchen. Auf dem Weg dorthin heißt es: "Der Mond stand in mildem Glanz über den Hügeln, und ließ wundersame Träume in allen Kreaturen aufsteigen. Selbst wie ein Traum der Sonne, lag er über der in sich gekehrten Traumwelt, und führte die in unzähligen Grenzen getheilte Natur in jene fabelhafte Urzeit zurück, wo jeder Keim noch für sich schlummerte, und einsam und unberührt sich vergeblich danach sehnte, die dunkle Fülle seines unermeßlichen Daseyns zu entfalten." (I, 252) Die Initiation tritt ins Zeichen des Mondes, der Luna, Herrscherin über Nacht und Traum. Luna erscheint "selbst wie ein Traum der Sonne", sie ist deren Inversion, Inversion des Tages und Bewußtseins. Im Zeichen Lunas ist die ganze Landschaft invertiert, "in sich gekehrte Traumwelt", die einen Regreß des unendlich Verstreuten auf das uranfänglich Einfache ermöglicht, den "Keim", der selbst eine Inversion, Introversion, die "Sehnsucht" seiner unermeßlichen Möglichkeiten darstellt. Diese Kette der Korrespondenzen und verinnernden Einschachtelungen soll erfahren werden. Die Traum-Metaphorik bringt Mond und Berginneres in die Nachbarschaft des Unbewußten und Vorgeschichtlichen. Beides gehört zusammen: der Traum vermittelt in der Sprache des Unbewußten die individuelle Frühgeschichte. Weite Dimensionen liegen jenseits des Wachbewußtseins des bürgerlichen Subjekts: es ist Heinrich, als habe sich "eine versteckte Tapetentür in ihm (sich, H. B.) geöffnet. Er sah sein kleines Wohnzimmer dicht an einem erhabenen Münster gebaut, aus dessen steinernem Boden die ernste Vorwelt emporstieg." (I, 252) In der Berghöhle geht es um eine qualitative Erweiterung der Topographie des Subjekts. Wenn Novalis einmal notiert: "Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns" (II 417/18), so liegt dies auf derselben Ebene: Novalis entdeckt in der Erschließung des Weltalls wie des Erdinneren, Ereignissen der Naturwissenschaft, zugleich einen psychohistorischen Sprung. Das "kleine Wohnzimmer" des Bewußtseins ist durch "versteckte Türen" mit weiten Dimensionen der individuellen und naturgeschichtlichen Zeitentiefe verbunden. In der Höhle, die Heinrich betritt, begegnet er seiner eigenen Geschichte. [79] Und die uralten Knochenreste und Felsbildungen vermitteln ihm die erdgeschichtliche Dimension: Paläontologie und Geologie. Seltsame Assoziationen wecken die Knochen in der Höhle. Während die Bauern im mythischen Bann der Angst bleiben und den Hohlraum der Erde mit dem eigenen Grauen anfüllen, heißt es von Heinrich: "Wie, dachte er bey sich selbst, wäre es möglich, daß unter unsern Füßen eine eigene Welt in einem ungeheurem Leben sich bewegte? daß unerhörte Geburten in den Vesten der Erde ihr Wesen trieben, die das Feuer des dunklen Schooßes zu riesenmäßigen und geistesgewaltigen Gestalten auftriebe? Könnten dereinst diese schauerlichen Fremden, von der eindringenden Kälte hervorgetrieben, unter uns erscheinen, während vielleicht zu gleicher Zeit himmlische Gäste, lebendige, redende Kräfte der Gestirne über unsern Häuptern sichtbar würden? Sind diese Knochen Überreste ihrer Wanderungen nach der Oberfläche, oder Zeichen einer Flucht in die Tiefe?" (I, 253/54) Das unterirdische Reich erweitert grandios den Vorstellungsraum Heinrichs. Die Knochen könnten Reste subterranen wie supralunaren Lebens sein. Die plane Lebensvorstellung gewinnt an Tiefe und Höhe zugleich. Zwischen Kosmos, irdischem Leben und Erdinnerem wird ein ständiger Austauschprozeß phantasiert. Auch dies ist ein alchemistischer Gedanke: zwischen Kosmos, Erde und Mikrokos- mos fließen Korrespondenzen, Analogien, Sympathien, ablesbar an den Signaturen der Dinge, die ein dynamisches Netz von Chiffren bilden. Auf diese den Dingen eingravierte Schrift zielt das kosmologische Geheimwissen des Weisen - und der Roman des Novalis. Um die Einweihung des künftigen Poeten in dieses Wissen der Natursprache, lingua naturae, geht es [80] - der romantische Künstler als Erbe des Alchemisten. Denn alchemistisch ist auch die andere Ebene der Phantasie Heinrichs: das Erdinnere als Schoß, der Lebewesen aus sich gebiert und in den Lebewesen sich flüchten. Der Austausch zwischen Kosmos und Erde wird als Aus- und Eingehen im Erduterus verstanden. Geburt und Tod sind miteinander verschlungen. Heinrich hat also die Lektion der Gedichte begriffen. Der alchemistische Hintergrund davon ist: die Destillationsund Metallurgiekunst ist Imitation, ist Mimesis der Geburten und des Todes (der nigredo), welche die Erde von sich aus in ihrem Inneren veranstaltet. Alchemie ist immer auch männliche Aneignung der Gebär-Potenz und ist der Wille, Souverän des Todes zu werden. Sind Bergbau und Alchemie traditionell assoziiert, kommt bei Novalis ein Drittes hinzu: die Assoziation beider mit Kunst. Der Dichter spricht aus dem intimen Wissen um das Innere der Natur, er ist Mimetiker der verkörpernden (gebärenden) wie inkorporierenden (tödlichen) Potenzen der Weiblichkeit. Romantische Dichtung, in die Heinrich eingeführt wird, ist eine sexuelle Codierung der Welt, die von Phantasmen der omnipotenten Magna Mater erfüllt ist. Der Einweihungsort - das Delta der Erde - und die Modalität (Phantasie und Traum) - verweisen darauf, daß der romantische Naturbegriff herzuleiten ist aus den ins Unbewußte abgesunkenen Symbolbildungen, die im Diskurs der Wissenschaften keinen Ort haben. Darum wird die romantische Rede über Natur- als Kontrafaktur des montanwissenschaftlichen Diskurses - angeschlossen an vorrationale Praktiken der Alchemie und der Sakralkultur des Bergbaus. Deren Zitierung in einem Roman von 1800 hat jedoch zugleich die Funktion, Chiffren des Verdrängten und Unbewußten zu bilden, das unter dem Druck der Rationalität sich als "erdzugewandte" Zone im Inneren des Subjekts auskristallisiert. Der hermetische Montan-Diskurs bei Novalis ergibt sich aus dem Verhältnis zur aufgeklärten Bergbauwissenschaft einerseits und den Verdrängungsleistungen des Berg-Kameralisten Hardenberg andererseits. In der Kunst findet die verlorene, durch Wissenschaft ausgegrenzte Naturphilosophie der sogenannten "chemischen Philosophen" der Renaissance ihren Ort der Erinnerung; und die Kunst wird zum Medium der Einbehaltung dessen, was das aufgeklärte Subjekt in der Phase seines Autonom-Werdens zum Opfer bringen mußte [siehe Abb. 16].
Schließlich ist das Berginnere der Ort, an welchem sich Heinrich das Ineinanderspiel von Lebensgeschichte, Menschheitsgeschichte und Naturgeschichte offenbaren soll. Man trifft in der Höhle einen Einsiedler, der - nach einem umhergeworfenen Leben zwischen Krieg und Politik- sich in den Berg zurückgezogen hat: Ort der vita contemplativa. [81] Im Gespräch zwischen Einsiedler und Bergmann wird der kosmosund naturgeschichtliche Sinn des Bergbaus enthüllt: "Ihr seyd beynah verkehrte Astrologen, sagte der Einsiedler. Wenn diese den Himmel unverwandt betrachten und seine unermeßlichen Räume durchirren: so wendet ihr euren Blick auf den Erdboden und erforscht seinen Bau. Jene studieren die Kräfte und Einflüsse der Gestirne, und ihr untersucht die Kräfte der Felsen und Berge, und die mannichfaltigen Wirkungen der Erd- und Steinschichten. Jenen ist der Himmel das Buch der Zukunft, während euch die Erde Denkmale der Urwelt zeigt." (I, 260) Daß Bergbau und Astrologie verbundene Wissensformen sind, entnimmt Novalis erneut der Alchemie. [82] Gestirne und Erdinneres schließen die Geschichte in Naturkonstellationen ein, durchziehen die Historie mit einem universalen Spannungsfeld sich durchkreuzender Signifikanten, die zu erkennen der Stein der Philosophen wäre. Für Novalis heißt dies: Himmelskunde und Geognosie sind die entferntesten und zugleich umfassendsten Klammern von Geschichte und Geschichten. Historie ist zuletzt immer Universalgeschichte der Natur, nicht Handlungsgeschichte des Menschen. Der Blick des Adepten wird dadurch weiträumiger: Erde und Kosmos, naturgeschichtlich betrachtet, verändern den Begriff von Natur (als stumme Materie und Kausalmechanismus) und das gesellschaftliche Selbstbewußtsein des Subjekts. Montankunde weckt den Blick dafür, daß die Erde eine dramatische, gleichsam heroische Vorgeschichte hat, in der menschliches Leben nicht möglich war (I, 261/2). Diese wilde Produktionsphase bildete die gewaltige Retorte der Natur, in deren wüstem Inneren jene stofflichen Ressourcen geschaffen und ausgeboren wurden, die viel später das menschliche Leben tragen. Die Epoche "jener grausenvollen Geburtswehen" ist vorbei, eine "allmähliche Beruhigung der Natur" (I, 261) trat ein. An die Stelle gewaltiger Produktion, die den Menschen vernichten würde, tritt jetzt eine Sänftigung der "erzeugenden Kraft". Novalis drückt diesen Epochenwechsel symbolisch so aus: der "wildgeborene Fels" wird durch die "stille treibende Pflanze, eine stumme menschliche Künstlerin" (I, 262) abgelöst. [83] Diese erdgeschichtliche "Entwilderung" (I, 87) ermöglicht den Menschen. Natur, in ihrer gegenwärtigen Form, bietet dem Menschen Allianzen an: "innigeres Einverständnis", "friedlichere Gemeinschaft", "gegenseitige Unterstützung und Belehrung" (I, 261/62). Der geognostische Blick läßt Heinrich erkennen, daß die beruhigten Naturformen als Angebot an den Menschen gelesen werden können. Wer Natur nur in eingeschränkter Gegenwart einnimmt - der Kaufmann, der Techniker, der Herrscher- oder im mythischen Bann der Vergangenheit - wie die Bauern -, der erkennt nicht die Allianzen, die nach den "grausenvollen Geburtswehen" nunmehr zwischen Mensch und Natur bestehen. "Wir können immer besseren Zeiten entgegensehen" (I, 261/62) - dieser Satz gilt nicht für den rationalistischen Naturdompteur, sondern für die ästhetisch-geognostische Perspektive hermetischer Montankunst. Durch sie ist zu erkennen, daß die Natur von sich aus friedliche Kreisläufe anbietet (Symbole: Pflanze als ruhige Form des Werdens, Stein als beruhigte Form ehemals dramatischer Erdgestaltungen). So kann der Mensch als alliierter Sohn der Erde sein Überleben sichern. Wo Selbsterhaltung nicht in eine auch naturangemessene Technik und Praxis umgesetzt wird, besteht auch nicht die Aussicht auf "immer bessere Zeiten". In der Naturphilosophie liegt die Wurzel des romantischen Antikapitalismus und der Technikkritik. Das Symbolfeld des Bergbaus erschließt eine Interpretation der Erde als anderes Subjekt, Gegenüber und Mitspieler des Menschen, als dessen Vergangenheit im individuellen und erdgeschichtlichen Sinn. Bergbau symbolisiert das Unbewußte und Historische, das in den "Höhlen" des Subjekts abgelagert ist. Selbsterkenntnis und Naturerkenntnis fließen zusammen, erweitern sich zugleich in eine universale Naturgeschichte von Kosmos und Erde, die die Rahmenbedingungen der menschlichen Geschichte bilden. Die Poesie wird zum Medium des Naturzusammenhangs und tritt darin die historische Nachfolge der Alchemie an. Der davon abgeleitete Naturumgang ist als Entwurf von Allianztechnik (Bloch) zu lesen: sie ist vom Wissen um das historische Prozessieren der Materien selbst bestimmt. Dieses Wissen geht jeder Einzeltechnik normativ voraus. Rücksichtnahme, Respekt, Schonung, Vorsicht, Koalition kennzeichnen die angemessenere Haltung des Menschen zur Natur. Diese Haltung hat in der unzensierten Begegnung mit dem Unbewußten und Imaginären im Subjekt ihre Voraussetzung. Sie überwindet die archaische, nackte Angst vor einer bösen und das sehnsüchtige Hoffen auf eine gute Natur ebenso wie die die angemaßte Autonomie, die von Natur nichts zu fürchten und nichts zu hoffen hat, weil diese jener durch Gewalt unterworfen ist.
E. T. A. Hoffmann ist wie Novalis ein Alchemist dem Geiste nach, ein entschieden wilderer, ganz und gar ungläubig, ohne das natur philosophische Geraune und den grandiosen Anspruch aufs "goldene Buch", doch, was die alten Motive angeht, ungleich spielerischer, experimenteller, artistischer als Novalis. Schmelztiegel geheimnisvolle Elixiere und Mixturen, nächtliche Stoffsynthesen durch Hexen oder Zauberer, wundersame Salben, rätselhaft wirkende Steine, Metalle, Kristalle -: Hoffmann belebt das ganze Arsenal alchemistischer Künste und Utensilien wieder, schreibt es jedoch, ähnlich und doch gänzlich anders als Novalis, in neuc Diskurse ein: den über den Künstler, der der eigentliche Nachfahre der Alchemisten in der Moderne ist, und den der Sexualität. Natürlich mobilisiert Hoffmann auch die alte Verbindung von Magie und Technik. Dunkle Mechaniker treiben ihr Spiel - als bewegten wir uns nicht in der Protophase der industriellen Revolution, sondern im 16. und 17. Jahrhundert, wo die Kombination von Magie und Mechanik noch offen zutage lag. Zur alchemistischen Technik gehören die Homunculi und Androide, die in der Hoffmannschen Welt ihren festen Platz haben: Musikmaschinen, sprechende Puppen, astrologische Apparate, Schachautomaten und schließlich die künstliche Frau, Olimpia, Krönung des Androiden-Traums. Auch Mensch-MaschinenSynthesen, in denen der Mensch auf furchtbare Weise sich den apparativen Strukturen der Maschinen anpassen muß, finden sich (so im Kater Murr). Insgesamt ein Reservoir dämonischer Bilder von Technikangst wie von technischer Omnipotenz. Der Mensch als "zweiter Schöpfer" beginnt fratzenhaft zu werden. Die dämonischen Verkoppelungen von Menschenkörper und Maschine bei Hoffmann führen aber nicht nur auf die Alchemie und magische Mechanik zurück, sondern verweisen auch voraus auf E. A. Poe und Villiers de l'Isle Adam (Die Eva der Zukunft) [84] und über diese hinaus auf Kafka (In der Strafkolonie) und die Junggesellenmaschinen des 20. Jahrhunderts . [85] In der Erzählung Der Sandmann wird von dem psychotisch desintegrierten Nathanael, einer der scheiternden Künstlerfiguren Hoffmanns, als Knabe eine typisch alchemistische Szenerie belauscht oder phantasiert: sein Vater versucht zusammen mit dem Advokaten Coppelius, der vielleicht auch identisch ist mit dem Mechanikus Coppola, einen künstlichen Menschen zu zeugen: mitten im bürgerlichen Haushalt ist ein alchemistisches Labor verborgen! [86] Synthetisches Leben ist ein alchemistischer Urtraum, wie die Synthese des Goldes. Leben künstlich zeugen: das ist die Eroberung des letzten Geheimnisses der Mutter Erde, die den lebenserzeugenden Prozeß als Naturrätsel, nämlich als Rätsel des Uterus, für sich behält. Dagegen protestierte schon der Mensch im Iudicium Iovis des Niavis; und Alchemisten jeder Prägung versuchten den Schleier des Zeugungsgeheimnisses zu lüften; sie wollten das Unsichtbare sehen und das Gesehene machen. Selbst Paracelsus hält die künstliche Zeugung für möglich. Daran knüpft Hoffmann an. Er ist vielleicht der erste, der entdeckt, daß hierin eine grandiose Männerphantasie spukt. Wie immer bei ihm, führt die Spur auf die Nachtseite der gesitteten Ordnung, die vor Augen und im Bewußtsein liegt. Es sind Männer, ehrenwerte Bürger, Beamter wohl und Advokat, die nächtens den Androiden zeugen, Gott nachahmend und vielleicht überbietend. Gewiß ist dies zuerst ein Sakrileg gegen den patriarchalischen Gott, der freilich selbst schon die schöpferische Produktivität der Frauen und der weiblichen Natur in eigene Regie und Macht nimmt. Bei Hoffmann geht es dabei auch weniger um die Revolte luziferischer Technik. Vielmehr verschlüsselt die Alchemie-Szene eine männerbündische Koalition, welche die Angst und den Respekt vor der Gebärkraft der Frau zu brechen sucht. Zeugen und Gebären werden der Natur entrissen und zu Problemen technischer Manipulation und künstlicher Produktion von Männern. Das aufgedeckte Rätsel stürzt die Sphinx-Natur in den Abgrund. Der "Tod der Natur" (C. Merchant) vollendet den Triumph des Menschen, wenn sie als namenloses Anderes und verschleiert Fremdes getilgt ist: und das wäre in der Herrschaft über den Zeugungsvorgang. Die Gen-Techniker und Retorten-Produzenten heute wirken, als wären sie den Phantasmen der Alchemisten entwichen, Entsprungene der romantischen Bücher Hoffmanns, worin der Omnipotenz-Traum schon umgesetzt ist, Kleinbürger, die ihr Götterhandwerk im Geheimraum der bürgerlichen Familie und zivilen Ordnung betreiben. Freilich ist dies nicht der ganze Sinn der Hoffmannschen Szene. Nicht zufällig nämlich wählt Hoffmann zum Ort der künstlichen Zeugung den Taburaum des Elternhauses - und welches wäre dieser für Nathanael, wenn nicht das elterliche Schlafzimmer. Er will, selbst ein kleiner Alchemist, um jeden Preis,wissen, sehen und hören: "den Kopf lauschend durch die Gardine hervorgestreckt", "auf die Gefahr entdeckt ... und hart gestraft zu werden" (III, 27). Seinem verstörten Blick öffnet sich "eine schwarze Höhlung": Herd, "blaue Flamme", "seltsames Gerät", Retorten, "hellblinkende Masse", Dämpfe, Metalle. Dies ist das alchemistische Labor als Mimesis der uterinen Erdhöhle. Es gehört nun aber zur Raffinesse der Hoffmannschen Erzählung, daß er das Motiv der Homunculus-Synthese mit dem Diskurs über die Sexualität in der bürgerlichen Familie verbindet. Denn wie die Neugier auf das unsichtbare Innere weiblicher Generativität den Bergmann und Alchemisten in den Berg oder ins Labor treibt, so drängt es in der Form voyeuristischer Sucht den kleinen Nathanael in jenen Raum des Elternhauses, wo das Geheimnis der Menschenzeugung, also der Eltern-Sexualität, verborgen zu sein scheint. Sexualität in der bürgerlichen Familie hat bei Hoffmann den durch Verdrängung und Mystifikation erzeugten dämonischen Status, der auch die Zeugungsversuche der Schwarzkünstler charakterisiert, die durch Schweigen, dunkle Chiffrierungen und Geheimbünde ihr Tun auf der Nachtseite des wissenschaftlichen Lichts gegen neugierige Zugriffe schützen. Vielleicht aber ist dort nichts - außer der Phantasie der Ausgeschlossenen. Hoffmann legt nahe, daß es im alchemistischen Versuch und in der Sexualität um dasselbe geht, um Zeugung, Geburt, unbekannte Lust. Im Labor des Elternhauses wird mit der Alchemie zugleich die Sexualität der Eltern den Kindern entzogen. Hoffmann verfährt dabei präzise in alchemischen Konfigurationen. In der Ikonographie des alchemistischen Prozesses - so etwa im Rosarium Philosophorum (um 1550) - erscheinen Bilder, auf denen ein coitierendes Paar zu sehen ist: der Frau ist der Mond zugeordnet, dem Mann die Sonne. Beide sind nackt, tragen aber Kronen, denn ihr Coitus symbolisiert die höchste Synthese der Alchemie, die heilig-königliche Hochzeit der entgegengesetzten Gestirne, Geschlechter und Elemente. Das coitierende - manchmal geflügelte - Paar schwimmt auf dem Wasser; diesem gleichsam entstammend, schwimmt Luna auf dem Rücken und empfängt Sol. [87] Auf der Illustration der Stufe solutio perfecta des alchemistischen Prozesses steht eine große Retorte in einer fruchtbaren Landschaft; in der Retorte schwimmend das coitierende Paar. [88]In einer anderen Abbildung schwimmt das Paar in einer halb von Wasser gefüllten Erdgrotte: Coitus von Luna und Sol in der Erdmatrix. [89] Das führt auf den Bergbau zurück, der gezeigt hatte, daß die natürliche Metallurgie der Erde als Ergebnis sexueller Konjunktionen des Erdschoßes mit Planeten, vermittelt über deren Einstrahlungen, zu verstehen ist. Wie auf der Illustration zum "Tresor des Tresors" die Elementenhochzeit in einer Retorte, so geschieht bei Hoffmann der alchemistische Akt in einer "schwarzen Höhlung". In dieser Sprachwendung werden Uterus, Erddelta und Laboratorium identisch [siehe Abb. 17]. Nathanaels Vater und Coppelius bilden die Elementenhochzeit nach, um den Homunculus zu zeugen. Die alchemistische Dämonie schreibt Hoffmann in die Urgeschichte sexueller Codierungen der bürgerlichen Familie ein. Der alchemische Akt wird von Nathanael erlebt als Verwandlung des Vaters in ein "Teufelsbild", als gewaltförmige Handlung: eine "glutrote Zange" wird geschwungen, glühende Metalle werden in der "Höhlung" des Schmelzofens gehämmert. [90]Sexualität ist Gewalt des Vaters. Die Homunculus-Synthese scheint fast gelungen, es fehlen nur die Augen. Als Coppelius dies ausruft, schreit der im Lauschversteck verborgene Nathanael auf. Coppelius ergreift ihn und will ihm die Augen entreißen: "Nun haben wir Augen - Augen - ein schön Paar Kinderaugen." (III, 29) An dieser Stelle wird Nathanael von psychotischen Ängsten überflutet. Vom Vater gerade noch gerettet vor der Herausnahme der Augen, wird er von Coppelius auseinandergeschraubt wie ein mechanischer Android. Was Nathanael, psychoanalytisch gesehen, als eine ihn panisch überflutende Fragmentierungsangst erlebt, erscheint von der Motiv-Tradition her anders: als Anatomie des menschlichen Körpers, den man zergliedern können muß, um das Geheimnis seiner Synthese verstehen zu lernen. Dieses Motiv bestimmt die Puppe Olimpia, die Nathanael später "bis zum Wahnsinn" liebt, ein Produkt des Physikers Spalanzani und des Mechanikus Coppola. In der Fragmentierungsangst des Jungen also wieder ein doppeltes: die Kodierung des männlichen Kindes in der Konfrontation mit der sexuellen Urszene und dem in ihr verborgenen Geheimnis der eigenen Herkunft; und das Geheimnis alchemistischer Analyse und Synthese, das als teuflisch und sexuell in einem erscheint: denn der Alchemist zielt indem er der Natur die Technik der Zeugung abgewinnen will, auf Göttlichkeit - das ist luziferisch. Der Mann, der den weiblichen Schoß in einen von ihm beherrschten künstlichen Uterus, in ein Labor also umbaut, dieser Mann ist souverän wie Gott. "Der Alte hat's verstanden"!, "zischte und lispelte Coppelius", als er Nathanael auseinanderschraubt (III, 28). Der Alte: Gott-Vater. An dieser Stelle wird Nathanael ohnmächtig. Die grausige Begegnung mit Alchemie und Sexualität versetzt ihn in einen "Todesschlaf", aus dem erwachend er ins Auge der Mutter blickt, die den "wiedergewonnenen Liebling" herzt. Es scheint, als habe Nathanael im alchemistischen Coitus die Mutter gelöscht, der er angehört nur außerhalb der elterlichen Sexualität, dem Labor der Lüste des Vaters. Die Exklusion der Mutter ist aber nur Schein. Ein Jahr später wiederholt sich das alchemistische Experiment mit tödlichem Ausgang: ein "entsetzlicher Schlag geschah", der Vater ist "tot mit schwarz verbranntem, gräßlich verzerrtem Gesicht" "die Mutter ohnmächtig daneben!" (III, 29) Unauffällig markiert das Ausrufezeichen: die Mutter war doch dabei. Und sie war es wirklich. Die "schwarze Höhlung", der "dampfende Herd" und die "Masse" bilden den mütterlichen "Sexualapparat", in dem die Väter manipulieren. Nathanael registriert nur die verzerrten Züge, die zuckende Bewegung, das Schwingen der glutroten Zange, das Hämmern der "Väter". Aber er löscht, um die Beziehung zur Mutter nicht zu verlieren, diese aus dem Bild. Hoffmann schildert das Szenario patriarchalischer Sexualität: die Frau ist passive Retorte, Schmelztiegel, Hohlraum, Labor männlicher Sexualität; der Vater gewalttätig, zwingend, zerstückelnd, todesdrohend. Im Advokaten Coppelius, der später im Mechanikus Coppola wiederkehrt, ist dies alles zur Namenschiffre geworden: coppo ital. = die Augenhöhle; copella = der Probiertiegel bei alchemistischen Operationen; die Copula = die Verbindung und die Begattung; die Copulation = die eheliche Verbindung (Verheiratung) und die Verschmelzung der Geschlechtszellen bei der Befruchtung. [91] Coppelius/Coppola tritt immer auf (III, 24-26), wenn die Sexualität der Geschlechter aneinanderzukoppeln ist, Copula der Eltern; tritt auf als alchemistische Koppelung der polaren Elemente; tritt auf als sexuell-alchemischer Coitus; als Copula, Verbindung, trennt er zugleich das Element ab, das von der Verbindung ausgeschlossen ist; so ist er die Copula "und" wie gleichzeitig das "nicht", die Negation: das alpha privativum der Lust der Kinder und besonders des Nathanael; er ist der, der die Augen zu rauben droht und die Kastrationsdrohung repräsentiert; er ist darum schließlich der Tod, "riesengroß" unter den Menschen zu Füßen des Turmes aufragend, von dem Nathanael sich herabstürzt (III, 52). Das alchemistische Experiment wird von Hoffmann umgestaltet zur Szene der psychosexuellen Sozialisation Nathanaels. Diese ist oft genug analysiert worden, sie muß hier nicht noch einmal nachgezeichnet werden. [92] Anzumerken bleibt, daß Nathanael von der Urangst immer eingeholt wird, wenn er als Mann sich zu identifizieren sucht. Die Alchemisten-Szene blockiert fortan seine Sexualität. Er weicht in der Liebe zu Olimpia, dem androiden Produkt eines Vaterpaares, auf narzißtische Positionen aus. Sein Selbst, das er über Olimpia als Spiegel-Selbst zu heilen versucht, verbleibt, insofern diese sich als fragmentierbare Puppe des Vaters erweist, vollständig in dessen Gewalt, unauflöslich abhängig vom Gesetz des Vaters. Es scheint so, als bestünde der psychotische Schub Nathanaels darin, daß das Phantasma von ihm Besitz ergreift, er selbst sei das Produkt der alchemischen Omnipotenz des Vaters, d. h. Erzeugnis einer Vergewaltigungssexualität, im Verhältnis zu der Nathanael, mit der Mutter identifiziert, sich immer als der "Auseinanderschraubbare", als synthetischer Android phantasiert. Er ist kein phallischer Mann, kein alchemistischsexueller Technit, sondern dessen Objekt. Psychoanalytisch gesehen ist Nathanael, wie schon Freud annahm, in der femininen Position, die er zum symbolischen Vater behält, der latent Homosexuelle; er widersetzt sich in der Beziehung zur Verlobten Clara unbewußt dem heterosexuellen Begehren. Psychiatrisch gesehen, ist er der suizidale Psychotiker, Rätselhild des Wahnsinns. Alchemistisch gesehen figuriert er den Hermaphroditen, das männlich-weibliche Produkt der alchemistischen Hochzeit. Im romantischen Blick aber ist er der scheiternde Künstler ohne soziale Heimat und ohne das für Hoffmann so wichtige, identitätssichernde ästhetische Ideal. [93] - Und wer ist Nathanael ohne diese Blicke? Niemand. Er hat leere Augenhöhlen, die sich mit Leben erst füllen, wenn ihm der Leser Augen einsetzt, die seine eigenen sind. Ein Schibboleth der Deutungen.
Der literarische Bruder Nathanaels, Elis Fröbom aus der Erzählung Die Bergwerke zu Falun führt zurück in die Welt der Berge, von denen der schauerliche Sandmann sich scheinbar entfernt hatte. Bei Hoffmann ist der Montanbau, ist die Alchemie nicht mehr Zitat versöhnter Naturbeziehung, sondern erfüllt mit den Unheimlichkeiten bürgerlicher Sexualität, an denen Novalis mit seinen friedvollen Naturbildern besänftigend vorbeifabelt. - Wie bei vielen romantischen Erzählungen lautet die Grundfrage: wie wird aus einem Jüngling ein Mann - mit Ehefrau, Familie, Arbeit -, oder warum scheitert jemand an diesem Skript der Normalität, weicht ab, wird Künstler, Sonderling, Wahnsinniger, Besessener? Alles könnte so glatt gehen. Der Vater ist tot - ein entmachteter Rivale; Elis übernimmt den Beruf des Vaters (Seemann) und wird dessen Stellvertreter: "seine arme Mutter nährend und pflegend" (V, 201), "jubelt" Elis vor Lust, wenn er, von der See heimgekehrt, "dem Mütterchen die Dukaten in den Schoß geschüttet" (V, 202). Während seine Kameraden saufen und sich mit Prostituierten, die "sich leider böser Lust geopfert" (V, 200) haben, amüsieren. Nun da jedoch auch die Mutter gestorben ist, wird Elis Bergmann arbeitet fleißig, sauber, gewissenhaft - wer wollte mehr von einem strebsamen jungen Mann? Obendrein bietet ein Minenbesitzer ihm Tochter und reiche Aussichten auf die Zukunft: der Umriß des bürgerlich erfolgreichen Mannes erscheint - patriarchalischer Vorstand der Familie, aufgrund des christlichen Sozialethos allenthalben geachtet, ein Held der Arbeit und Moral. Daß daraus nichts wird, liegt am Bergbau. Dies muß verstanden werden, um zu erklären, warum Elis aus der patriarchalischen Logik ausschert und auch nicht eine technisch-ökonomische Einstellung zur Natur aufbringen kann. - Zurück zum Anfang. Der Tod der Mutter erschüttert das Gleichgewicht der ödipal bestimmten Lebenspraxis dieses Sohns als Quasi-Ehemann der Mutter. Und keine kulturelle Integration ohne progrediente Ödipalisierung des Mannes - so gilt es nicht nur für die romantische Literatur. "Der Tod der Mutter" jedoch, so erzählt Elis, "zerreiße ihm das Herz, er fühle sich von aller Welt verlassen, einsam, wie auf ein ödes Riff verschlagen, hilflos, elend." (V, 201) Elis, der Seemann, hat psychischen Schiffbruch erlitten; das Lebensschiff ist zerschellt. "Das Leben ekelt mich an" (V, 202), ja, es scheint ihm, er müsse der Mutter nachsterben: ihm ist, "als sprängen alle Adern in seiner Brust, und er müsse sich verbluten" (V, 201) Zeichen seiner Verschmelzung mit der Mutter. Dies war ihm unbewußt, weil er in der Übernahme der Vater-Rolle, als Seefahrer. den Anschein männlicher Autonomie gewahrt hatte; doch diese Pseudo-Identität bricht nun zusammen. "Wie ein irres zweckloses Treiben" (V, 201) erscheint ihm die männliche Seefahrt, eine "Arbeit, die mir nur ein mühseliges Treiben um nichts dünken würde" (V, 202). Der Tod der Mutter zwingt Elis, sein geheimes Begehren aufzugeben in gerade der Form, in der es lebbar schien: als Seemann vermochte er der kleine Ödipus seiner Mutter zu bleiben. Daß dies ihm unbewußt blieb, ist gerade das Normale. Es muß etwas geschehen. Folglich begegnet ihm der alte Bergmann Torbern, von dem man später erfährt, daß er ein Revenant ist, ein wiederkehrender Toter. Torbern ist vor mehr als hundert Jahren, 1687, verschüttet worden; ein besessener Bergmann, "der ohne Weib und Kind, ja, ohne eigentliches Obdach in Falun zu haben, beinahe niemals ans Tageslicht kam, sondern unauflhörlich in den Tiefen wühlte" (V, 214). Die Leute erzählen sich, "er stehe mit der geheimen Macht, die im Schoß der Erde waltet und die Metalle kocht, im Bunde" (ebd.). Leute-Meinung, denn hier geht es nicht um Teufelspakt. [94] Vielmehr um eine andere magisch-alchemistische Vorstellung. Alchemistisch ist zunächst der Gedanke, daß die Erde nicht nur einmal, bei ihrer Entstehung, Metalle ausgeboren habe, sondern diese weiter in ihrem "Schoß" wachsen lasse; Hoffmann betont sogar noch das Alchemistische, auf die Erdretorte anspielend: die Erde kocht Metalle. Als Montan-Alchemist ist Torbern sozial isoliert, ein in der Tagwelt Heimatloser, der sich jedoch auf die mütterliche Natur und ihre Geburten versteht, ein Liebhaber weiblicher Anatomie, Berg-Gynäkologe. Alten Montan-Wissens getreu warnt er hemmungslosem Raubbau an Erzen aus "gewinnsuchtiger Gier" (V, 214). Man weiß doch daß die Bergwerke zeitweise in Ruhe gelassen werden müssen damit der Erdschoß sich erholen kann. Torberns "tiefe Wissenschaft" beruht insofern auf "wahrer Liebe zum wunderbaren Gestein" (ebd.). Arkanwissen, Armut und Isolation, erotische Allianz mit dem Berg, Verbot rein instrumenteller Einteilung und ökonomischer Ausbeutung - dies verbindet Torbern mit dem alten Bergmann bei Novalis, aber auch mit Anwaltsreden der Götter für die Schonung der Terra im Iudicium Iovis von Niavis. Torbern Ist also kein böser Dämon, wie so oft Revenant-Figuren, sondern Inbegriff des Weisen und mit der weiblichen Natur Verbundenen. Die Bergbau-Entwicklung jedoch geht über ihn hinweg. Man beutet trotz seiner Warnungen die Minen rücksichtslos aus, bis der Berg zusammenstürzt und Tobern unter sich begräbt (ebd.). Torbern ist die von moderner Zweckrationalität überholte Figur der vorneuzeitlichen Montankunst, wie sie ihren letzten Höhepunkt in der Renaissance Alchemie hatte [siehe Abb. 18] Im Zeitalter der Aufklärung ist Torbern zur Legende degeneriert, eine Gestalt des Aberglaubens. Im Faluner Bergwerk herrscht eine rein technische und ökonomische Einstellung, christlich überwölbt. Torbern taucht in dieser Welt nur noch zu besonderen Momenten auf - wie jetzt bei Elis nach dem Tod der Mutter. Er hat hier die Funktion des Initiationslenkers, der den krisenhaften Übergang von einer psychosexuellen Konfiguration zu einer anderen begleitet. Beim Zusammenbruch nämlich der ödipalen Konfiguration stürzt Elis zurück auf eine ältere Stufe, die archaische Mutter-Kind-Dyade: und hier, wie sich zeigen wird, setzt Torbern ein, nicht um ihm herauszuhelfen, sondern genau dort zu fixieren: weil nämlich dies die psychische Stufe ist, die - ins Montane übersetzt - seinem vorneuzeitlichen Bergbau-Modell entspricht. Ähnlich wie bei Novalis entsteht die Erzählung durch Überblendung zweier scheinbar unverbundener Muster. Zum einen findet sich die Aufnahme traditioneller montankundlicher Motive. Diese werden eigenartig verbunden mit dem Motiv des Wahnsinns, des Unbewußten und der Sexualität. Und zwar so, daß Hoffmann in den alten Symbol-Feldern den um 1800 nicht begrifflich formulierbaren Zusammenhang erfaßt, nach welchem die normale heterosexuell-patriarchalische Codierung des Mannes scheitern kann, wenn bestimmte Bedingungen der Bildungsgeschichte ihn zur Rückkehr auf präödipale, "matrilineare" Positionen zwingen. Ideologisch ist dies zugleich der Rückfall aus dem Christentum auf eine heidnische, naturreligiöse Stufe. Nach der Begegnung mit Torbern fühlt Elis, daß "der Alte [ihm] eine neue unbekannte Welt erschlossen [habe, H.B.], in die er hineingehöre, und aller Zauber dieser Welt sei ihm schon zu frühester Knabenzeit in seltsamen geheimnisvollen Ahnungen aufgegangen" (V, 204). Das neue Unbekannte ist das Uralte der Kindheit: Freud um 1800. Die Bergbau-lnitiation durch Torbern erfolgt im Schema des Déjà-vu:der vom Mutterverlust zerrissene Elis visualisiert die vergessenen Ahnungen "frühester Knabenzeit". Hoffmann stellt damit eine symbolische Gleichung her zwischen der archaischen Welt des Erdinneren und dem Frühzustand des Subjekts. Er parallelisiert damit indirekt auch die progrediente Lösung des Ödipus-Konflikts mit der Möglichkeit zu affektneutralisierter Naturausbeutung. Von dieser Gleichung ausgehend, kann die Frage beantwortet werden, warum es gerade das Berginnere ist, das die Bildung männlicher Identität verhindert (Heterosexualität, Vater und Ehemann, Naturausbeuter). Nach der Begegnung mit Torbern schläft Elis ein und träumt. Er gerät auf die "Nachtseite der Wissenschaften" (G. H. Schubert) und die Nachtseite des bürgerlichen Subjekts zugleich. Elis träumt vom Meer, über dessen spiegelnder Fläche der dunkle Himmel sich wölbt: ein gehöhlter Raum. Die Phantasie verschiebt sich und das Meer verwandelt sich in einen "Kristallboden", über den sich ein "Gewölbe von flimmerndem Gestein" (V, 204) spannt. Wie bei Novalis folgt der Text einer Inversionslogik: der kosmische Himmelraum stülpt sich nach innen, wird zur Erdhöhle. Der Traum visualisiert damit die Aussage Torberns, daß in der "tiefsten Teufe", "in dem wunderbaren Gestein die Abspiegelung dessen zu erkennen" sei, "was oben über den Wolken verborgen" (V, 203). Bergbau ist, wie schon Heinrich durch den Einsiedler erfuhr, invertierte Astrologie: das folgt dem Prinzip "Was oben ist, das ist auch unten", das den Schriften des sagenhaften Hermes Trismegistos zugrundeliegt. Wieder findet man: das Unbewußte ist das Bildmedium montaner Traditionen der Renaissance. [95] Der Traum aktiviert alte Imagines des Mundus subterraneus (Athanasius Kircher, 1601-1680). [96] Elis entdeckt einen metallisch-kristallinen "Zaubergarten", wo arabeskenhaft verschlungene "Blumen und Pflanzen von blinkendem Metall", "wunderbare Metallblüten" emporwachsen. Die Grenzen organischer und anorganischer Welt verfließen. Elis bewegt sich träumend in der Welt, die in der hermetischen Tradition so oft beschrieben wurde: das Innere des Erdleibes mit seinen Metalladern, subterranen Flüssen, Gesteinszweigen, die sich zu einem riesigen, im Erdmittelpunkt wurzelnden Baum zusammenfügen, ästhetisches Zauberspiel der Mineralien, Kristalle, Metalle. Das Anorganische ist Urbild des Organischen; oder auch: das Anorganische lebt - Vulkanausbrüche sind Eruptionen gehemmter Körperflüsse, Ebbe und Flut das Atmen der Erdlunge, Felsen bilden das Erdskelett, unterirdische Flüsse das Adersystem, Edelmetalle die Früchte des anorganischen Gebärens. Durch eine winzige Verschiebung können diese alten Bilder an die Front der ästhetischen Reflexionen der Moderne rücken. Schon bei Novalis und Hoffmann sind die unterirdischen Metallgärten nicht nur Zitat des Vergangenen, sondern Inbegriff einer Ästhetik, die in der absoluten Künstlichkeit, in der Negation also des organischen Stroms des Lebens, ihr Ziel hat. Dazu gehört auch die künstliche Beleuchtung unter Tage, die metallischen und gläsern-kristallinen Materialien, aus denen die Industrie des 19. Jahrhunderts ihren ästhetischen Ausdruck erzeugen wird: Paläste, Passagen, Kunstwelten aus Glas und Eisen, die "künstlichen Paradiese", worin Baudelaire, in strikter Verneinung alles Organischenund Natürlichen, die Spuren der Moderne liest. [97] Nicht Pflanze, sondern Stein (so schon in Tiecks Runenberg), nicht Wasser und Luft, sondern Metall und Feuer, nicht organisches Wachstum, sondern kristalline Statik, nicht offene Landschaft, sondern die Metropole und ihre Unterwelten, nicht Haut und Körper, sondern Android und Automat, nicht natürliche Sonne, sondern "soleil noir" [98], das Kunstlicht des harten ästhetischen Blicks, nicht Erlebnissprache, sondern Zeichenlegierung. Der unterirdische, metallische Garten ist Allegorie der Kunst selbst, Kunstgarten, Gegennatur und zweite Schöpfung: am deutlichsten in Stefan Georges Algabal-Zyklus Im Unterreich, dessen Schlußgedicht die Kunst als einen mundus subterraneus entwirft, ohne Zeit und Jahreswechsel, ohne Farbe und Wärme, ohne Licht und Sonne - Welt der nigredo, und doch Stätte der Zeugung der Kunst: "dunkle grosse schwarze blume". [99] Dies ist - außer der technischen - die andere Zukunft der Bergwerke zu Falun. Noch aber und zuerst phantasiert Hoffmann die sexualisierte Welt des Erdleibes als Ahnung früher Kindheit. Elis sieht auf dem Grund des Erduterus die Metallpflanzen aus den Herzen "jungfräulicher Gestalten, die sich mit weißen glänzenden Armen umschlungen hielten" (V, 204), aufwachsen. [100] Dies ist ein Gegenbild zur männerbündischen Zeugung im Sandmann, gewissermaßen weibliche Parthenogenese. Dem Lächeln der Jungfrauen entsteigt Musik. Elis träumt sich in ein synästhetisches Paradies ineinanderfließender Sinneswahrnehmungen und leiblicher Wonne [102], die ihn erfüllen in dieser "Welt von Liebe, Sehnsucht brünstigem Verlangen" (V, 205): Träume im Venus-Berg, Kultort des paganen Sexus. Im Gefühl befreiter Schwere "schwebte er wie in schimmerndem Äther" - eine Vorstellung, die an die kosmischen Schwebe- und Flugphantasien Giordano Brunos erinnert. So wie Bruno im unendlichen All, schwebt Elis im Äther des Erduterus: Aviatik unter der Erde [siehe Abb. 19]. Doch an dieser Stelle schlägt der Traum um. Torbern taucht auf: "Riesengestalt, aus glühendem Erz gegossen". Und als Elis ihn erkennt, sieht er zugleich in der Tiefe "das ernste Antlitz einer mächtigen Frau", der Bergkönigin, aufleuchten. Das "Entzükken" verkehrt sich in "zermalmende Angst" vor diesem "starren Antlitz", angesichts dessen "sein Ich zerfloß in dem glänzenden Gestein" (ebd.). Im Traum finden wichtige Symbolverschiebungen statt. Es sind zuerst Erinnerungsspuren des nirwanischen Gleichgewichts in der Verschmelzung mit der omnipotenten Mutter, die hier das Bild des Erdleibes bzw. der Bergkönigin (domina mater) annimmt. Das Paradiesische dieser Wunschphantasie ist nicht zu halten: der Anblick des in glühendes Erz gegossenen Torbern, der völlig zum Teil der subterranen, metallurgischen Gebärarbeit wird und damit auch stirbt, verändert die Signatur des Erdleibes. Die erhaben und unheimlich schöne Bergkönigin weckt Todesangst "im Anblick des entsetzlichen Medusenhauptes" (V, 218). Festzuhalten ist die Bild-Spaltung: das Mütterliche zerspringt in einen paradiesischen und einen tödlich-zermalmenden Anteil. Beides sind Erzeugnisse der phantasierten Omnipotenz des Weiblichen, in die Elis sich ebenso einschmiegen möchte, wie er sich tödlich von ihr bedroht fühlt. Der Angstschub löst sofort eine Abwehrbewegung aus: Elis hört die "Stimme seiner [realen H. B.] Mutter", die aber die eines "holden, jungen Weibes" ist nämlich, wie sich später herausstellt, Stimme der Ulla Dahlsjö, die er heiraten soll: der Traum arbeitet in metonymischen Ketten. Die Frau, die ihm zugeteilt wird, repräsentiert das ödipale Erbe die rationale Naturbeziehung und Arbeitsmoral; sie soll ihn schützen vor der Regression auf die verlockenden und angsterregenden Frühzustände narzißtischer All-Einheit, vormoderner Natur-Mensch-Symbiose und synästhetischen Genusses. Bis zu seinem endgültigen Eingehen in den Schoß der Erde, den Ort des Todes der Zeitlosigkeit und der pränatalen Konservierung (Elis' Leichnam wird fünfzig Jahre nach seiner Verschüttung "in einer Teufe von dreihundert Ellen im Vitiolwasser" [V, 220] völlig konserviert wiedergefunden), bis zum Tode also wird die Geschichte des Elis: ein ständiges Pendeln zwischen antinomischen Gefühlszuständen sein. In diesem Pendeln verläuft der Kampf um das Selbst, um die Formen bürgerlicher Subjektverfassung, die in der Romantik in Krise geraten sind. Denn das verlockende Glück des Berges ist zugleich der Abgrund, der sich mitten in der absoluten ästhetischen Selbst-Setzung der romantischen Kunst öffnet. Ikarus in den Bergen. Die Antinomien der Kunst, die sich in der montanen Symbolwelt spiegeln, sind bei Hoffmann jedoch in helle psychologische Beleuchtung gesetzt. Er wußte bereits, was hundert Jahre später die Psychoanalyse mit Mühe zu fassen versuchte: Das Selbst um das hier gekämpft wird, ist in seinen ältesten Spuren das Gefühl vom eigenen Leib, der nicht Mutterleib ist. [102] Es gehört zu den genetischen Bedingungen der Subjektkonstitution, diese Trennung des eigenen Leibes zu vollziehen - ohne traumatische Angst; ohne ewig schmerzliche Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies der Symbiose; mit der Aussicht auf ein Überleben nicht allein, sondern auf ein glückendes Leben diesseits der Trennung vom mütterlichen All-Einen; versöhnt mit den Grenzen des Selbst, die offen genug sind, kommunikative Beziehungen aufzunehmen, durchlässig zu bleiben, ohne Zwang zur Verpanzerung, ohne Angst vor Ich-Auflösung in den Ekstasen der Liebe, des Begehrens, der Lust. Freilich ist dieser Weg für Elis verschlossen. Angstfreie Identitätsbildung gelingt nicht. Ulla Dahlsjö, der "leuchtende Engel" (V, 212), ist nicht, woran sein Begehren sich knüpfen kann: sie ist das desexualisierte Marienbild des Weiblichen, ein Derivat der entmachteten Mutter, Ausdruck des Mangels, der als Gesetz über Familie und Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft liegt. Die gesittete Ordnung über Tage, überglänzt vom engelhaften Gloriolenschein Ullas, läßt ihn kalt - so kalt, wie auch sein Gefühl von Natur ist, solange er musterhaft im Bergbaubetrieb arbeitet. "Hei!", ruft ihm Torbern zu, "des Pehrson Dahlsjö Tochter Ulla willst du zum Weibe gewinnen, darum arbeitest du hier ohne Lieb' und Gedanken." (V, 213) Im Kreis familialer und technischer Ökonomie erscheint denn auch Elis das Berginnere "wie eine Hölle voll trostloser Qual, trügerisch ausgeschmückt zur verderblichen Verlockung!" (V, 218) Aber noch in dieser Abwehr des Begehrens ist die Anstrengung erkennbar, die Elis aufbringt, um überhaupt sich auf das bürgerliche Skript der Selbst-Bildung einzulassen. "Er fühlte sich wie in zwei Hälften geteilt, es war ihm, als steige sein besseres, sein eigentliches Selbst hinab in den Mittelpunkt der Erdkugel und ruhe aus in den Armen der Königin, während er in Falun sein düsteres Lager suche. " (V. 218) Das Abwehrmuster der "Dämonisierung des Dämonischen" (Berginneres als Hölle, Torbern als Teufel) trägt nicht weit. Im Gegenteil, das Glücksversprechen der archaischen Mutter im subterranen Dunkel macht das Ehebett mit der lichten Ulla zum "düsteren Lager": die Umkehrung der Lichtverhältnisse zeigt, wohin sein Wunsch geht - fort von der zunehmend reizlosen Genitalität, hin zu einem leiblichen Gefühl, worin er die psychohistorische "kopernikanische Wende", nämlich die Überwindung der "ptolemäischen", primärnarzißtischen Ich Zentralität, wieder rückgängig macht: im "Mittelpunkt der Erde" ist Elis das Zentrum des Alls, Zentrum der mütterlichen Umarmung. Spricht Ulla von Liebe, so Elis von unterirdischen Schätzen. Es sind zwei unvereinbare Diskurse: die klare Rede über bürgerliches Glück im Schatten des väterlichen Gesetzes und die "wunderliche, unverständliche Rede" (V, 218) des Elis. Im Blick auf Natur gilt dasselbe. Wo andere nichts sehen oder nur "taubes Gestein", entziffert Elis die "geheimen Zeichen, die bedeutungsvolle Schrift die die Hand der Köngin selbst hineingrabe in das Steingeklüft" (V, 2I9). Zwei Sprachen, zwei Schriften, zwei Blicke. Elis, dessen "eigentliches Ich" in den Berg gehört, fällt zunehmend aus dem Diskurs konsensueller Bedeutungen heraus, er ist exkommuniziert aus dem Kontext eingespielter Symbolwelten - und das schließt ihn zunehmend ein in das, was seit der Aufklärung Wahnsinn genannt wird. In dieser Spaltung spiegelt sich mehr als ein individuelles Schicksal, nämlich das Verhältnis der romantischen Künstlergeneration zur aufgeklärten und prosaischen Welt, in der sie hätte Karriere machen sollen. Wahnsinn aber ist hier bei Hoffmann auch die Wiederkehr der Bedeutsamkeit der Natur, ihrer Chiffrenschrift, einer seltsamen Kommunikation, die vermittelt wird über objektive "Zeichen": Gesteine, Metalle, Wasser- und Erzadern, Kristalle, Höhlen, Schimmern und Glimmern des Lichts - "Partitur des Planeten" (T. Bjørnvig). Die lingua naturae ist zur Sprache der Kunst geworden, der sich zu verschreiben, Schrift-Steller zu werden, den Ausschluß aus der bürgerlichen Welt zur Folge hat. Gegenüber Novalis ist es modern, wenn Hoffmann den Blick, der die Chiffrenschrift der Natur entziffert, als Moment des Wahnsinns identifiziert. Im Gelände der Rationalität ist die Rede von der Bedeutsamkeit der Natur abgespaltene Privatsprache. Naturzeichen sind exkommunizierte Symbole, Klischees, an die sich unbegriffene Phantasmen knüpfen, die im öffentlichen Symbolgebrauch keinen Ort mehr haben. [103] "Bergmannsmärlein" sind für den aufgeklärten Dahlsjö das, wovon Elis redet. Er redet also irre. Der Wahnsinn, das Irre der Sprache aber repräsentiert das archaische Wunschpotential des Elis, das "glanzvolle Paradies" "das im tiefen Schoß der Erde aufleuchtet". Die romantischen Erzählungen verdeutlichen, daß die männlichen Phantasmen über die Symbiose mit dem mütterlichen Erdleib nahezu unausweichlich zurückführen in die historische Vorgeschichte des Subjekts, wo dieses sich noch nicht autonom setzte und die Natur noch nicht technisch zu beherrschen gelernt hat. Indem die Romantiker Geschichten erzählen von psychotischen Durchbrüchen, in denen die domina mater, die Venus-Bergköngin, wiederersteht, behaupten sie umgekehrt - und das ist ihre Kritik der Aufklärung -, daß die Bildung des Vernunftsubjekts in eins mit Strategien der Naturbeherrschung zu sehen ist. Ganz anders jedoch als Novalis will Hoffmann den Rekurs auf einen Mythos des Montanbaus, der im Einklang mit Natur erfolgt, nicht aufrechterhalten. Als Elis nach Falun kommt, packt ihn Grausen: der "ungeheure Höllenschlund" der Pinge, der "Anblick der fürchterlichen Zerstörung" - vielleicht hatte Hoffmann Abbildungen der außerordentlich großen und tiefen offenen Pinge in Falun gesehen [104] -, die schroffen Steingebilde, "manchmal riesenhaften versteinerten Tieren, manchmal menschlichen Kolossen ähnlich", der "Schwefeldunst" des Erdinneren, als würde dort "der Höllensud" (V, 207) gekocht: dies sind seine ersten Eindrücke in Falun, deutlich überlagert von den Angstphantasmen des Initiationstraumes. Die Fragmentierungsängste des Nathanael wiederholen sich bei Elis als Verschlingungsängste und Grausen vor Versteinerung. Sein eigener Traum vermischt sich mit dem kolportierten Traum eines Seemanns (V, 207/08), dem sich das Meer zu einem Abgrund öffnet mit "aufgesperrtem Rachen, zu Tode erstarrt", während "Polypenarme" den Seemann in die Tiefe ziehen wollen. Elis phantasiert die Pinge im mythischen Schema der Angst vor dem Medusenhaupt und der Erdvagina, ohne daß ihm Riten der Angstbewältigung zur Verfügung stünden. Hoffmann hat verstanden, daß die Phantasmen bedrohlicher Weiblichkeit erst "wild" werden, als sie durch die Aufklärung zu Aberglauben und Wahn erklärt wurden. Waren sie zuvor kulturelle Selbstverständlichkeiten, welche die Begegnung der Adepten mit der angsterregenden Potenz der weiblichen Natur institutionali sierten, so "verinnerlichen" sich diese Erfahrungen in der Zeit der Aufklärung. Die in Kulturpraktiken integrierten Ängste werden zu frei flottierender Angst im Inneren des Subjekts selbst. Gab es zuvor Riten der Angstbewältigung, so werden die Ängste, die die Aufklärung für irrational hält, dem Subjekt allein aufgebürdet. Nun kommt es nicht mehr auf die Kraft der Institutionen an sondern auf die Struktur der Sozialisation, ob es dem Subjekt gelingt, die Angstschübe zu bewältigen, die im Übergang von der Mutter-Kind-Dyade zur Phase der Separation notwendig auftreten. In der Romantik wird deutlich, daß die kleinfamiliale Sozialisation mit ihrer Zentrierung der Kinder auf die Mutter zu einer Vervielfachung seelischer Angst führt. Das Unbewußte füllt sich mit den Arsenalen mythischer Angst, bevölkert sich mit den Figuren grausig-verlockender Weiblichkeit - und gerade, weil es diese Enklave (die Höhle, das Bergwerk) im Subjekt ist, die die Erbschaft des Mythischen und des magischanimistischen Naturverhältnisses übernimmt, erscheinen die archaischen Figurationen nur noch als Pathologie des Subjekts, als Wahnsinn. Hoffmann steht mit der literarischen Wiederbelebung der Medusa, der verschlingenden Erdvagina, der Bergkönigin keineswegs allein. In Tiecks Runenberg warnt der Vater den im Bann der Venus stehenden Christian vor dem "Anblick des Gebirges" und sagt von der Runentafel, dem Geschenk der Göttin: "Sieh her, wie kalt sie funkeln, welche grausamen Blicke sie von sich geben, blutdürstig, wie das rote Auge des Tigers." [105] Von hier ist es nur ein Schritt zu Baudelaires Gedichten über die sphinxhaft gelassenen, von Kraft, Sexualität und Wissen bebenden Frauenkatzen, mit ihrem verschlingenden Blick und geschmeidigen Flanken. [106] Für den Vater des Christian versteht sich, daß der durch Venus bezauberte Sohn ein Herz "von kaltem Metall" habe. Und natürlich erfährt Christian den Anblick des Göttinnenleibs auf dem nächtlichen Berg, in dessen Sog er unaufhaltsam gerät, so daß der Vater glaubt, Christian sei "in alte gesammelte Wasser und Untiefen" des Berginneren versunken. [107] In Eichendorffs Erzählung Das Marmorbild ist die Venus ein Steinbild, dessen Anblick je nach Art der Animation entweder glücksverheißend oder tödlich wirkt. Im nächtlichen Fest verwandelt sich die erotische Szene um die Göttin in eine "Obszene" des "tödlichen Grauens": die Venus erstarrt und die sie umgebenden Blumen winden sich "wie buntgefleckte, bäumende Schlangen gräßlich durcheinander". [108] Metamorphose der Venus in Medusa. Hoffmann, der weniger als andere Romantiker Angst vor der sexuellen Bebilderung seiner Phantasie hat, faßt die Berg-Pinge in der Doppelbedeutung von Gesicht und weiblichem Genital: der "ungeheure Höllenschlund", der "aufgesperrte Rachen", die "schwarzen Höhlen", der "entsetzliche Höllenschlund", die "häßlichen Polypenarme": dies ist Erdschoß, Vagina, Frauenleib, Gesicht in einem. Mythengeschichtlich entspringt dieses Phantasma vorpatriarchalischen Traditionen. Freud, dem im Klima der Hochblüte grausiger Frauenbilder das Medusenhaupt nicht entging, deutet es als den Anblick des "kastrierten" mütterlichen Genitals. Die davon ausgelöste Angst sei die des Knaben vor der eigenen möglichen Kastration. Die Versteinerung durch den Medusenblick versteht Freud als Abwehrmechanismus: als phallisches Sich-Versteifen im Sinne der Selbstversicherung des Jünglings, der im Anblick weiblicher Kastriertheit zum phallischen Panzer wird. [109] Man sieht: Psychoanalyse ist auch Symbolauslegung im Dienst männlicher Selbsterhaltung. Bei den Romantikern ist das Symbolfeld noch durchlässiger für den mythengeschichtlichen Hintergrund. Hoffmann kombiniert - wie Tieck und Eichendorff - das Berginnere mit dem "trügerischen Meer" (V, 2I2), beides als Varianten der Verschlingungsangst. Medusa entstammt indirekt dem Meer. Ihre Mutter ist die Seeschlange Keto. Ihr Antlitz wird auch als Gesicht der Nacht, Luna, und des Wahnsinns geschildert. Als Perseus Medusa das Haupt abschlägt, entspringt der blutenden Wunde Pegasus, das Poetenleitbild. Meer, Nacht, Mond, Wahnsinn, archaische Weiblichkeit, Poesie sind also der Medusa nah Doch ist auch an die mythische Vorstellung der vagina dentata und der verschlingenden Erdvagina zu denken. Inmitten bürgerlicher Welt halten sich Erinnerungsspuren an die "Göttinnen des Draußen". Es sind die Poeten, die das Verdrängte erinnern. Wie Pegasus entspringt ihre Bildwelt dem Blut archaischer Schrecken in der Geschichte der Geschlechterbildung. [110] Bei Hoffmann ist das Medusen-Phantasma die Kontrafaktur zu den symbiotischen Entgrenzungszuständen, welche die "gute" Bergkönigin verspricht. "Unten liegt mein Schatz, mein Leben mein alles", ruft Elis. "Da will ich wühlen und bohren und arbeiten und das Licht des Tages fürder nicht mehr schauen!" (V, 216) Was wie eine Penetrationsphantasie aussieht, ist im Gegenteil Flucht vor dem genitalen Zwang in der Ehe über Tage. Im Berg lockt Verschmelzung: "Sie erfaßte ihn, zog ihn hinab, drückte ihn an ihre Brust, da durchzuckte ein glühender Strahl sein Inneres, und sein Bewußtsein war nur das Gefühl, als schwämme er in den Wogen eines blauen, durchsichtig funkelnden Nebels." (Ebd.) Diese Imagination spiegelt kein inzestuöses Begehren, sondern entstammt früheren Erfahrungen des instabilen Körper-Selbst im Umgang mit dem mütterlichen Leib. Diese Erfahrungen sind in den romantischen MontanDiskurs eingeschrieben, weil die Idee großer umschließender Einheiten der Natur den Menschen auf der Stufe beschreibt, wo er nicht von Natur abgegrenzt ist. Macht in ihrer doppelten Bedeutung - behütend-schützend und bedrohlich-verschlingend liegt allein bei der Natur, nicht beim Menschen. Dessen Stellung ist strukturell instabil - ähnlich dem Infans, ähnlich dem romantischen Jüngling. Unmittelbar abhängig davon, wie die Mutternatur erscheint, ist das Subjekt hin und hergeworfen zwischen Todesangst und Liebe. In die antinomischen Berg-Metaphern blendet Hoffmann seine Erfahrungen von der Spannung zwischen paradiesischem Glück und tödlichem Vergehen ein. Die Annäherung an diese archaische Spannung erfolgt im Schema der psychischen Regression. Es ist die "Seele", der alles aufgebürdet ist. Und wenn, wie bei Elis, die Integration in soziale Selbstbilder nicht gelingt, ja, die Norm-Identität gegenüber dem Wunsch nach "primärer Liebe" (M. Balint) als bloßer Mangel erscheint, muß die Regression auf archaische Zustände des Selbst oder der Natur in Psychose umschlagen. Für den Leser haben romantische Erzählungen wie diese oft den Klang der Sirenen, dessen glückversprechender Schöne man gern sich hingeben möchte. Hoffmann aber verdeutlicht, daß derlei Erfahrungen schon zu seiner Zeit so sehr aus der Gesellschaft ausgegrenzt sind, daß jeder, der dem Gesang der Sirenen oder der Lockung der Bergkönigin folgt, dem Wahnsinn verfällt. Für die Romantiker ist die Beschwörung des Berginneren oder der Venus-Mutter nicht phantasiertes Wunschland, Narkotikum des philiströsen Alltags, sondern Arbeit am Wahnsinn. Der Ort des absoluten Glücks im "Herzen der Königin im Mittelpunkt der Erde" (V, 220) ist the point of no return, ist der Tod, den Elis im Berg findet. Die Pointe der Geschichte des Elis, daß er als schöne Leiche von einer hutzligen Alten, dem ehemals "leuchtenden Engel" Ulla, in die Arme geschlossen wird -: das ist satirische Desillusionierung, schmerzliches Gelächter, in das der Prototyp der Hoffmannschen Künstlerfiguren, Johannes Kreisler, immer ausbricht, wenn sein poetischer Traum auf die Wirklichkeit stößt. In diesem Sinn ist Hoffmann kein Anti-Aufklärer, Phantast der Gegenbilder, Poet der Wunschräume jenseits der Prosa aufgeklärter Wirklichkeit. Im Gegenteil: unter den gesetzten Bedingungen der Aufklärung, einer restlos immanent gewordenen Welt, einer durch Verwissenschaftlichung verlorenen Bedeutsamkeit der Natur arbeitet Hoffmann sich ab am Schicksal des hierbei Verdrängten, Ausgegrenzten, Vergessenen. Seine Wahnsinnigen besiegeln den Sieg der Aufklärung wie sie diese zugleich kritisieren: denn im Wahnsinn erscheint der Mangel der Vernunft. Die verlorenen Bindungen an Natur, die zensierten narzißtischen Wünche, die alchemische Zeichensprache des Unbewußten bilden das Imaginäre im Vernunft-Subjekt, die "Partitur" des Anderen, die der Romantiker zum Klingen bringt, um nicht zu vergessen, was verdrängt werden mußte, um zu werden, was wir sind: aufgeklärt.
[ 1 ] [ 2 ] [ 3 ] [ 4 ] [ 5 ] [ 6 ] [ 7 ] [ 8 ] [ 9 ] [ 10 ] [ 11 ] [ 12 ] [ 13 ] [ 14 ] [ 15 ] [ 16 ] [ 17 ] [ 18 ] [ 19 ] [ 20 ] [ 21 ] [ 22 ] [ 23 ] [ 24 ] [ 25 ] [ 26 ] [ 27 ] [ 28 ] [ 29 ] [ 30 ] [ 31 ] [ 32 ] [ 33 ] [ 34 ] [ 35 ] [ 36 ] [ 37 ] [ 38 ] [ 39 ] [ 40 ] [ 41 ] [ 42 ] [ 43 ] [ 44 ] [ 45 ] [ 46 ] [ 47 ] [ 48 ] [ 49 ] [ 50 ] [ 51 ] [ 52 ] [ 53 ] [ 54 ] [ 55 ] [ 56 ] [ 57 ] [ 58 ] [ 59 ] [ 60 ] [ 61 ] [ 62 ] [ 63 ] [ 64 ] [ 65 ] [ 66 ] [ 67 ] [ 68 ] [ 69 ] [ 70 ] [ 71 ] [ 72 ] [ 73 ] [ 74 ] [ 75 ] [ 76 ] [ 77 ] [ 78 ] [ 79 ] [ 80 ] [ 81 ] [ 82 ] [ 83 ] [ 84 ] [ 85 ] [ 86 ] [ 87 ] [ 88 ] [ 89 ] [ 90 ] [ 91 ] [ 92 ] [ 93 ] [ 94 ] [ 95 ] [ 96 ] [ 97 ] [ 98 ] [ 99 ] [ 100 ] [ 101 ] [ 102 ] [ 103 ] [ 104 ] [ 105 ] [ 106 ] [ 107 ] [ 108 ] [ 109 ] [ 110 ]
|