Der sprechende Leib.Die Semiotiken des Körpers am Ende des l8. Jahrhunderts und ihre hermetische TraditionI. Vielleicht wurde im 18. Jahrhundert den Menschen zum ersten Mal nachdrücklich bewußt, daß jenes eigenartige Gebilde aus Fleisch, Knochen, Sehnen, Nerven, das sie bewohnten, alles andere als eine selbstverständliche Gegebenheit ist. Man hatte verwirrend viel gelernt. Die Anatomie hatte seit Vesalius systematisch den Körper diesseits der Haut erschlossen. Dies war ein befremdlicher und erregender Schritt: in die Raumtiefe des Körpers vorzustoßen Schicht für Schicht wie ein Archäologe abzuheben, ins immer Kleinere einzudringen, wie am Himmel das unendliche Große hier das unendlich Teilbare zu entdecken. Was zeigte sich nicht alles dem ärztlichen Blick: die Kreisläufe des Blutes (ähnelten sie nicht den Revolutionen der Sterne?); die Rätselspuren der Nerven, die auf geheimnisvolle Art das Gehirn mit der Peripherie des Körpers verbinden; die räumliche Verteilung der Organe, ihr funktioneller Zusammenhang; das Innere der Zeugungsstätten, die Schmelztiegel der Menschwerdung; das Pumpwerk des Herzens; die Hebelanlagen aus Muskeln und Sehnen; all die fein abgestimmten Mechaniken der Körperfabrik; die Druckpumpen des Atmungsapparats; die Irritabilität und Sensibilität von Muskeln, worin sich eine seltsam menschenfremde, vielleicht elektrische Kraft zeigt; die Verteilungen des vielgestaltigen Schmerzes; das Farben- und Formenspiel des geöffneten Leibs; die furchtbare Arbeit des Gewebefraßes, des Eiters, der Entzündungen, der Tumoren; das lustvolles Erschrecken auslösende Museum der Mißbildungen und Verstümmelungen; die eigentümlichen Verrichtungen von Säuren, die für sich genommen von gefährlicher Tödlichkeit sind, ein befremdendes inneres Feuer, das geradezu als Tätigkeit des Lebens angesehen werden muß; die ekelerregende Diffusität von schmierigen, schleimigen, glibberigen Substanzen, deren tiefe Notwendigkeit man begreifen lernte; die erschreckenden Gerüche, die aus diesem wundersamen inneren Mechanismus aufbrodeln; die opaken Verwicklungen und Windungen des Gehirns, worin alles Menschliche sich zu konzentrieren schien; die immer kühneren Operationen der Chirurgen am lebenden Körper: was für eine labyrinthische Ordnung, wieviel stupende Lösungen und wieviel unvorhergesehene Rätsel. Es war dies eine Expedition, deren Kühnheit in nichts der intellektuellen Eroberung des Weltalls und der Kolonialisierung fremder Kontinente nachstand. Dieser verdächtige Bruder tierischer Organismen sollte also der Raum sein, in welchem Gott sich ebenbildlich darstellte?! Dies sollte also die Bühne abgeben, auf der der Geist und die Seele ihre Dramen aufführten!? Doch gab es sie überhaupt? Wo denn hatten die Autoren und Regisseure dieser Schauspiele ihren Sitz? Und wenn man ihre Orte zu haben glaubte, z. B. das Gehirn, hatte man damit denn schon deren Bewohner, Seele und Geist? Ins immer Tiefere, Feinere, Kleinere verlegte man die Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem: ohne sie je zu finden. Hatte diese Grenze also überhaupt einen Sinn? Wurde nicht das, worin die Menschen ihr Selbstsein setzten, ja zu fühlen glaubten: wurden nicht Seele und Geist geradezu gespenstisch, unsicher, unglaubwürdig? Unauflhaltsam entglitt sich der Mensch in dem Maße, wie er seinen Körper öffnete, ins Innere vordrang und immer mehr von den corporalen Mechaniken begriff. Metaphysik und Mechanik des Körpers drifteten unheilbar auseinander. Fast hatte der alte Leib/Geist-Dualismus etwas Freundliches: man konnte damit leben, daß dieser Schnitt die Bedingung eines Dramas war, wodurch das Fleisch zum Schauplatz der dunklen Versuchungen der Sünde und der tätigen Reue des Geistes wurde, das Theater von Schuld und Sühne, Verfehlung und Gnade, Tod und Erlösung. Dieser Riß im Subjekt (sofern man von einem solchen überhaupt sprechen darf) war kommod im Vergleich zu den Zumutungen, die die anatomischen Enträtselungen dem Selbstbewußtsein stellten: Feuer, Elektrizität, Pumpen- und Hebelmaschinen, fürchterliche Versäuerungen, höllenmäßige alchemistische Transformationen trieben ihr ebenso klares wie im letzten rätselhaftes Spiel und keine Spur, darin den Schauplatz des Selbstbewußtseins, der Gefühle, des Geistes auffinden zu können. Der Körper, scheinbar vertrautes Gehäuse fühlbaren Lebens, wurde zur Schnittstelle des absolut Unpersönlichen, Fremden, des unvermittelbar Anderen der Natur. War die metaphysische Bühne durchs Theatrum Anatomicum abgelöst? Doch wenn dem so war, war dann der Körper überhaupt noch ein Mitspieler des Sinns, Repräsentant von Bedeutungen, Quelle und Durchgang kosmologischer Signifikanten? Und damit nicht genug. Öffnete sich der Körper nach innen in unabsehbare Tiefen des Wissens, so überhäuften sich auf seiner Oberfläche die kulturellen Stilisierungen und Attitüden. Es schien, als würde die Haut von immer neuen, schwer entzifferbaren Texten überzogen, von den komplizierten Semiotiken der Kleidung, den differenzierten Gestiken des Comments, den feinsten Spuren der Lebensgeschichte, den lasterhaften Verirrungen und tugendhaften Vorzügen in den Chiffren der Physiognomie. Elend und Glück, Verruchtheit und Anstand schrieben ihre Zeichen in den kleinsten Falten der Haut, im nuancierten Schimmer des Blicks, in den ungreifbaren Modulationen der Stimme. Die Gestalten von Schädel, Stirn, Augenhöhlung, Wange, Nase, Mund und Kinn verrieten dem Kundigen letzte Geheimnisse . Nichts war ohne Bedeutung, keine Körperhaltung, keine gestische oder mimische Gebärde, kein Ausdruck des Gesichts: sie alle wurden zu einem riesigen Gewebe von Zeichen verknüpft, in welchem ein geheimnisvoller Sinn über dem Abgrund zwischen Wesen und Erscheinung hin- und wiederspielte. Denn dies strahlte die Angst des bürgerlichen Jahrhunderts an: daß zwischen dem, was ein Mensch darstellt, zwischen seiner Erscheinung, und dem, was er ist, seinem Wesen, ein Riß klafft, der das Gefüge des intersubjektiven Handelns eigentümlich verunsichert. Aus der Beobachtung des Hofes mit seiner hochdifferenzierten Etikette hatte man die Strategien der Codierung verstehen gelernt: die edelste Geste, der vornehmste Ausdruck, der liebreizendste Blick sind die Fallen, in die man stürzt. Form ist bürgerlichem Bewußtsein allemal Finte, der man erliegt. Schnell ist man in der Gunst gefallen, hat guten Glaubens sein Vermögen verloren; die Unschuld der Tochter ist den Theatraliken der Galanterie zum Opfer gefallen; der Konkurrent, der in der Maske des Kompagnons mit einem kooperierte, hat längst Verrat begangen. Die Lüge hat das reizendste Gesicht, das Laster trägt das Kleid der Unschuld, die Intrige blüht am üppigsten als falsche Braut des Vertrauens, die Gemeinheit ziert sich mit Eleganz, die Gewalt larviert sich im sanften Augenausdruck. Aufs genaueste ist zu beachten, wer wen wie ansieht, an wen zuerst und an wen gar nicht das souveräne Wort gerichtet wird: ununterbrochen fließt duch die Körper ein Strom signifikatorischer Akte, in denen Geltungen zugeteilt und beansprucht werden, in denen das Spiel der Macht aufgeführt wird in nichts als dem zarten Medium der Zeichen und Codes. Was der Sprache eigentümlich schien, die Modalisierung der Sprechakte in den Gegensätzen von Wahrhaftigkeit und Unaufrichtigkeit, Wahrheit und Lüge, ergreift vom Körper, ja vom Menschen insgesamt Besitz. Die bürgerliche Unterscheidung von Rolle und Identität wurde zum Versuch, ein Authentisches - das subjektive Selbst - aus den Systemen der Körperzeichen und Verhaltenscodes auszuschneiden: unberührbarer, unverstellbarer Kern in den Schalen und Masken, die den Körper verhüllen und dem Gesicht aufgesetzt werden. Doch wie in der Anatomie die ständig entgleitende Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem eine unaufhaltsame Arbitrarität der Zeichen erzeugt, auf die doch das Wissen angewiesen bleibt, so stürzt auch das Deutungsmuster vom "inneren", "natürlichen" Selbst und seinen maskierenden Entäußerungen in ein analoges Dilemma: dieses Selbst ist unsichtbar, soll sich aber im Ausdruck zeigen. Wieder hat man nichts als die Unsicherheit der Zeichen, deren Beziehung zum Signifikat, dem "wahren Selbst" absolut ungewiß ist. Alles, was ist, muß sich ausdrücken, aber kein Ausdruck ist, was er sagt. Darum muß, am Hofe anders als im bürgerlichen Leben, eine Lesekunst entwickelt werden, die die geheimen und unwillkürlichen Zeichen am Körper zu dechiffrieren vermag, die die Scharaden und Maskierungen des Ich durchkreuzt, die die Codes der Szenen enträtselt und "aufklärt". Nicht nur spielen die Körper auf der Bühne ihre undurchsichtigen Rollen, sondern die Körper selbst werden zur Bühne, auf der die moralischen Signifikanten auftreten. Ja, der Körper wird zur via regia der Identifizierung des Subjekts. Wer das Lexikon, die Syntax und Pragmatik seiner Ausdrücke und Zeichen beherrscht, die Semiotik also von Kleidung, Physiognomien, Gestik und Mimik gelernt hat, dem wird die opake Fläche des Körperbildes zum Glas, hinter dem sich die verborgenen Antriebe und geheimen Formationen des Selbst beobachten lassen. Welch ein Betätigungsfeld für politische Ratgeber, Polizeitheoretiker, Pädagogen, philosophische Ärzte, Kaufleute und Ehemänner. Alles wird zur Simulation, um desto sicherer den darin verborgenen Sinn, die kaschierte Identität auszumachen. Die ars semiotica hat ihre Stunde. Und es schlug die Stunde der Liebe. Nichts genügte ihr, nicht die Geilheit, das Abenteuer, die Galanterie, die Verführung, das Geld. Im Meer der Verstellungen und Listen überfiel den Bürger die Sehnsucht nach der Insel des Authentischen. So wurde der reine Körper erfunden, der das Theater des unverdorbenen Herzens, des innigen Gefühls und der natürlichen Güte aufzuführen hatte, als sei's ein Stück ohne Dramaturgie. Privatheit sollte das Unmittelbare, die hüllenlose Wesenheit des Selbst zum Austausch bringen, ohne die irritierende Dazwischenkunft der Zeichen. Dafür bedurfte es eines Fetisches, der tabula rasa eines Körpers, dessen Haut aus nichts als Hymen bestand: die Jungfrau ohne Falsch, ein unbeschriebenes Blatt, auf das einzig der Griffel des Erwählten seine Schrift eingrub. Derart versicherte er sich des einzigen Ortes unmaskierter Wahrheit in der Welt, die Insel der Unschuld, das heimische Tahiti, auf dessen Strände die Königsstandarten des weißen Eroberers ihr Signum setzten: Spur der Macht im weißen Sand wie auf dem weißen Leib, Aneignung einer zu sich selbst unmittelbaren Natur in einer restlos von Zeichen vermittelten, durchseuchten Welt. Die bürgerliche Sehnsucht nach Natur, von Rousseau bis zu Georg Forsters Tahiti, von Emilia Galotti bis zu E.T. A. Hoffmanns Olimpia: darin wird die zeichenlose Unschuld einer Liebe gesucht, der zu begegnen nur um den Preis ihrer Zerstörung möglich ist. Erst Hoffmann durchschaut, daß dieser makellose Spiegel des Begehrens selbst das Produkt einer Codierung ist: der weiße Leib als Maschine der Liebe. Radikaler konnte die Sehnsucht nach Natur im Spiel der Liebe nicht widerlegt werden. Hoffmann zieht die Konsequenz aus den Hunderten von Dramen, die sich auf der makellosen Oberfläche des weiblichen Körpers abspielten. Er begriff, daß die Reinheit des Leibes als Inbegriff unmittelbarer Natur nicht etwa von den Masken des Begehrens befreit, sondern im Gegenteil deren innerster Signifikant ist: der unschuldige Leib bezeichnet die Integrität des Phallus, bildet also die Flucht aus der längst gemachten Erfahrung von der Kastration und der Zerstückelung des Körpers. Darin war dieser bis in die feinsten Verästelungen des Begehrens zum Schauplatz von semiotischen Codierungen geworden. Einen anderen als den fragmentierten, phantasmatischen Körper einer imaginären Zeichenschrift schien es nicht zu geben. Die sprachlose Sprache des Leibes wurde in der Vielheit der medizinischen, moralischen und anthropologischen Diskurse zum unvernehmbaren Gemurmel. Diätetiken, Physiognomiken, Pathognomik, "physische Semiotik" (Goethe), "Semiotik der Affekte" (Lichtenberg), "Semiotica moralis" (Chr. Wolff), eine "semiotica civilis" (Chr. Thomasius) entstehen. Sie sollen dazu befähigen, "das Verborgene des Herzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Konversation zu erkennen" [1] -: eine Art Ausspähungsdiagnostik. Dies ist der neue Ansatz neben den höfischen Etiketten und der beginnenden bürgerlichen Psychologie mit ihren "Seelenzeichenkunden" (K. Ph. Moritz). Mit Kant weiß man: "je zivilisierter, desto mehr Schauspieler" (Anthr. A 42). Man bedarf also des Arztes nicht nur, sondern auch des philosophischen Arztes, der eine Symptomatologie des sozialen Körpers entwirft wie der Mediziner eine semiotische Diagnostik des physischen Körpers. Je vielfältiger die Diskurse, um so wilder der Leib. Man setzt sich ihm auf die Spur, stellt ihm diskursive Fallen, die immer ins Leere schnappen, denn den natürlichen Leib, den man einkreiste, den gibt es nicht. Der tiefe Riß, der seit den strategischen Disziplinierungen des 17. Jahrhunderts den Körper von seinem Bewohner trennte, läßt sich nicht überbrücken. Die Fremdheit des Leibes verschwinden zu machen, setzt man die Strategien ein, die jene erst erzeugt hatten: Diskursivierung, Disziplinierung, Zivilisierung. Zwei Modelle gewinnen dabei fundamentale Bedeutung, die beide als Homogenisierung des Heterogenen des Leibes verstanden werden können: das Modell der Körpermaschine und das Modell der Moralisierung. Seit Descartes' Zeiten hatte sich die Maschine, das Uhrwerk als konstitutive Metapher des medizinischen Diskurses zu einem neuen Paradigma entwickelt, das die seit der Antike herrschende semiotische oder säftemedizinische Interpretation der Krankheit ablöste. Die irritierenden, unendlichen Verkettungen der Körpersymptome in ihrem kosmologischen Zusammenhang wurde abgelöst durch die plane Fläche homogener Objekte, die von der Blattlaus bis zum menschlichen Körper, von der Ballistik der Kanonen bis zu den Bahnen der Gestirne prinzipiell gleichen Gesetzen unterlagen. Die Anatomie, durch welche die Medizin sich zur Wissenschaft erhob, wurde ihrerseits zum Modell wissenschaftlicher Methodik: zerlegen, zergliedern, zusammensetzen sind Grundoperationen der Wissenschaft. Der lebendige Leib mit seinen rhizomartigen Verzweigungen in die Räume der Natur, seinen vagen Sympathien, Verwandtschaften und Analogien, hatte ausgedient. Wissen befestigte sich aus der Distanz zum operationablen Körperding, an dem die Symptome der Krankheiten und ihre endogenen Verknüpfungen interessierten, nicht aber das Subjekt der Krankheit. Dieser Ordnungsstrategie der Medizin korrespondiert die der Moral insofern, als auch diese die unübersichtliche Vielheit der Stimmen und Stimmungen des Leibes von sich wies und einer homogenisierenden Prozedur unterwarf: Moral ist die Produktion des berechenbaren Körpers, der am moralischsten dann ist, wenn seine Bahn ähnlich präzis ist wie die eines Sterns oder des Blutkreislaufs. Merkwürdigerweise wurde dies als Effekt des freien sittlichen Charakters verstanden: Freiheit ist, wenn der Körper die Stimmen der Vernunft so geradlinig zur Aufführung bringt wie ein Stein im Vakuum das Fallgesetz. Das moralische Laboratorium trat dem physikalischen und dem anatomischen Seziersaal an die Seite. Es gehört zur Dialektik der Aufklärung bereits im 18. Jahrhundert, daß solche Rationalisierungen des Leibes eine Fülle von sowohl ästhetischen wie medizinischen Kritiken und Alternativen hervortrieb, von denen hier ein Strang näher charakterisiert werden soll, nämlich die Leibkonzepte, die auf vormoderne Semiotiken des Körpers zurückgehen, auf hermetische medizinische Traditionen zumal. Kann man die mechanistische Medizin und moralische Disziplin als Strategien der "Entsemiotisierung" verstehen, so zeigen sich am Ende des Jahrhunderts und dann in der Romantik Spuren einer "Resemiotisierung" des Leibes. In heutiger Perspektive interessiert sie darum, weil, wie Thure von Uexküll vermutet, wir an die Grenze des naturwissenschaftlichen Paradigmas der Medizin gestoßen sind und uns in der Phase der Vorbereitung eines neuen, nämlich semiotischen Paradigmas befinden. [2] II. Empirische Analyse und Analogienzauber, experimentelle Beobachtung und Magie, chemische Rezeptur und astrologische Talismane, Erfahrung und Spekulation liegen bei Paracelsus eng zusammen. Der Ungeschiedenheit der Untersuchungs- und Operationsebenen der Heilkunst entspricht, daß der menschliche Körper nicht als Einzelding aus der Gesamtheit der Dinge herausgeschnitten und als derart isolierter zum Objekt des Wissens wird. Der Körper, um den es Paracelsus geht, hängt mit allem zusammen und: in ihm hängt alles zusammen. Das ist der erste Sinn davon, was Paracelsus den "kosmischen Leib" des Menschen nennt. Dieser Begriff enthält einen derart hohen Anspruch, was die komplexe Verwebung des menschlichen Körpers mit seiner nächsten und fernsten Umwelt angeht, daß damit die damalige Medizin und Naturwissenschaft überhaupt überfordert ist - sofern man damit die Möglichkeit meint, diesen Anspruch kausalanalytisch einzulösen (was bis heute nicht gelungen ist). Freilich geht es bei Paracelsus auch nicht um anatomische, mechanistische oder kausale Ätiologien und Therapien im neuzeitlichen Sinn. Kann man sagen, daß im 17. Jahrhundert der Kausalmechanismus zwar als Kraft entwickelt wird, die von endogenen Körperprozessen bis zur Bewegung der Sterne den Raum der Natur einheitlich durchdringt und strukturiert - um den Preis rigoroser Verkürzung des menschlichen Leibes -, so findet man bei Paracelsus einen Leibbegriff, der zwar keinerlei "Reduktion von Komplexität" im Sinne eines mechanistischen Systems enthält, dafür aber für das empirisch-analytische Selbstverständnis der Neuzeit unbefriedigend, rhapsodisch, voller magisch-religiöser Reste, unüberprüfbar und spekulativ erscheinen muß. Trotz seiner vielen Polemiken gegen scholastischen Dogmatismus und trotz seines Lobs der Erfahrung läßt sich mit Paracelsus keine neuzeitliche Erfahrungswissenschaft und keine Technik begründen. Sein naturwissenschaftlicher Grundansatz ist nicht materiellkausalistisch, sondern hermeneutisch. Die Krankheit muß in ihrem Sinn verstanden werden - erst dann hat man den Rahmen, materiell, etwa durch Salben und Mixturen, zu intervenieren. Die Körper- und Krankheitslehre des Paracelsus entspricht darum seinem prinzipiell semiotischen Ansatz in der Naturphilosophie. Gerade der Arzt bewegt sich im Universum der Zeichen: "Denn das muß ein jeglicher Arzt wissen, daß alle Kräfte, so in den natürlichen Dingen sind, durch die Zeichen erkannt werden, woraus dann folgt, daß die Physiognomie und Chiromantie der natürlichen Dinge durch einen jeglichen Arzt zum nächsten verstanden werden sollen." [3] Die semiologische Konzeption der Natur, des Leibes und der Krankheit ist der Hauptgrund dafür, daß Paracelsus mit der klassischen Humoralpathologie bricht. Diese versteht, obwohl auch sie symptomatologisch verfahren muß, Gesundheit und Krankheit als Verhältnisse der Säfteverteilung im Körper. Die Säfte stehen zwar im Zusammenhang mit den Elementen; sie bilden auch typische Mischungen, woraus sich die Temperamentenlehre ableitet; und die Temperamente wiederum haben Bezug zu astralen Konstellationen ö: dennoch ist die Humoralpathologie eine materiell fundierte Lehre. Die Säfte bilden endogene Aggregate, Kreisläufe und Balancen - ohne einen darin aufscheinenden "Sinn", der alles Materielle zu seinem Zeichen verwandelt. Eben dies aber ist bei Paracelsus das charakteristische. Er deutet den gesunden und kranken Körper als dynamisches Ereignis im Kraftfeld kosmologischer Zeichenprozesse - man beachte: Zeichen als Kraft! -, wodurch der Mensch eine "sprechende" Position in der Welt zugeteilt bekommt. Die Kräfte Dynamiken, Effekte im Reich der Natur folgen bei Paracelsus einer anderen Matrix als der der Naturwissenschaft, welche später in der Gravitation die gesetzliche Grundlage der dynamischen Vorgänge in der Welt findet. Effekte sind bei Paracelsus einer Art vis semiotica geschuldet. Leib, Dinge, Erde und Sterne bilden bedeutsame Proportionen und Konstellationen, die als solche Wirkungen durch den Raum hin haben. Darum hat Paracelsus auch nicht mit dem Problem der Fernwirkungen zu kämpfen, die für viele mittelalterliche Naturforscher ein unlösbares Problem darstellten. Die aemulatio - die Ähnlichkeit ohne Ortsgebundenheit - überspringt, wie Foucault zeigte [4] , weite Räume, impressioniert, inkliniert, vernetzt die Dinge ohne materielle Vermittlung (wie sie in der Kontaktkausalität vorausgesetzt wurde) durch den Effekt der Ähnlichkeit selbst. Analogien affizieren die Dinge, sie strahlen aus, teilen sich mit, rücken die Dinge in Korrespondenz, verketten sie miteinander und bringen sie damit in die Fluchtlinie einer beide gleichermaßen betreffenden Dynamik, eines "gemeinsamen Schicksals". Die semiologische Ordnung des Paracelsus ist nicht nur eine Form des Wissens, sondern die Mimesis der in den Zeichen wirksamen Lebendigkeit der Natur. Das Zeichen ist das Wesen der Dinge. Vom semiologischen Ansatz her ergibt sich eine im Vergleich zur cartesianischen Linie fremdartige Philosophie des Leibes und der Krankheit. Paracelsus unterscheidet grundsätzlich in einen Realkörper und einen siderischen Leib. Das klingt weniger mystisch, wenn man genauer hinsieht, was damit gemeint ist: Paracelsus erfaßt damit einmal das abgrenzbare Körperding, den in die Haut eingeschlossenen anatomischen Körper, zum anderen die nicht in geometrischen Lage- und Abstandsbeziehungen anzugebende, darum absolute Räumlichkeit des Leibes, der nicht materiell erzeugt, sondern durch semiotische Codes gebildet wird. Der Astralleib, auf den sich die Astralmedizin richtet, ist die Formel dafür, daß der menschliche Körper nicht in der "groben massa" Adams aufgeht. Vielmehr ist er aus einem "subtilen Fleisch" gebildet, dem Fleisch der Zeichen, durch welche der Mensch zum bedeutenden Schauplatz seiner Umwelten wird. Die paracelsische Rede folgt hier der alten Lehre von der Entsprechung des Mikro- und Makrokosmos. Doch erhält diese bei ihm einen medizinsemiotischen Akzent, der es erlaubt, Paracelsus als einen frühen Vorläufer einer Medizin zu erkennen, die den Körper als Ensemble komplexer Mensch-Umwelt-Interaktionen versteht. Der Körper steht mit der Natur nicht nur im materiellen Stoffwechsel (etwa durch Nahrung, über die Paracelsus übrigens eine interessante Theorie entwickelt [5] ), sondern auch in einem ständigen Zeichenaustauschprozeß. Dem trägt Paracelsus Rechnung durch die Bezeichnung des Leibes als "Auszug" und "Extrakt" des Kosmos, als "kleiner Welt" und "Mikrokosmos". Der Astralleib ist die (noch) magisch-astrologische Fassung der Einsicht, daß "der Mensch von viel tausend Vätern und so viel tausend Müttern gesetzt" ist (I, 529). Es gibt zwei Zeugungen, zwei Geburten: biologisch-materiell durch die Eltern und die "zweite" Geburt durch die bedeutsame Konstellation der Zeichen, in die jemand hineingeboren ist. Dies muß man nicht nur astrologisch verstehen. Denn der siderische Leib ist die semiotische Markierung des weitesten Rahmens und aller nur denkbaren Seinsebenen, innerhalb derer sich natürliche, historische, gesellschaftliche und schließlich kosmische und göttliche Vermittlungen am Körper des Menschen darstellen. In der Schrift Volumen Paramirum (vor 1531) entwickelt Paracelsus in ungefährer Ordnung die Ebenen, die bei der medizinischen Betrachtung des menschlichen Leibes zu berücksichtigen sind. Es sind (1) das ens astrale, (2) ens veneni, (3) ens naturale, (4) ens spirituale und (5) ens deale (I, 171-240). Die Sternenwelt (1) wirkt auf den Menschen nicht unmittelbar ursächlich, formiert auch nicht Wesen und Eigenschaften (dies ist gegen die Astrologie gesprochen), sondern gibt die Bedingungen der Lebenserhaltung von Körpern überhaupt an: Zeit, Klima, Wachstum durch (kosmische) Wärme und Kälte, "Lebenshauch" der Sterne. Die intrasomatische Ebene (2), das ens veneni, bestimmt den Leib als in sich vollkommenen, doch mit den Dingen in Gemeinschaft und Austausch stehenden. Wie es kosmische zu- und abträgliche Bedingungen des Lebenserhalts gibt, so auch "gute" und "böse" Stoffwechsel mit der natürlichen Umgebung. Letzteres ist vor allem am Nahrungskreislauf erkennbar, dessen Zentrum der Alchemist des Körpers, der Magen nämlich ist. Krankheiten sind hier vor allem "Stoffwechselkrankheiten". Die Ebene des ens naturale (3) bezeichnet den Mikrokosmos, das interne leibliche Firmament, den Lauf der inneren Planeten. Den inneren Organen sind folglich Planeten zugeordnet (Leber/Jupiter; Galle/Mars; Hirn/Mond; Milz/Saturn; Herz/Sonne; Lunge/Merkur; Niere/Venus). Hierbei geht es um "körperinnere" Zeiten, Rhythmen, Bahnen, Abläufe in Analogie zu den Sternen. Auf dieser Ebene spielen auch die vier Elemente ihre Rolle, die Complexionen bilden, nämlich die vier Temperamente. Das ens spirituale (4) bezeichnet die somatisierenden Wirkungen, die von Wille, Intention und Imagination ausgehen. Dies können sowohl Effekte im Subjekt wie zwischen Subjekten (zwischen "Geistern") sein; oder es geht um Krankheiten, die aus Konflikten zwischen körperlichen und spiritualen oder nur spiritualen Effekten erwachsen. Im Prinzip jedoch gilt, daß immer, wenn der spiritus leidet, auch der Leib leidet. Modern gesprochen, handelt es sich hier - im Gegensatz zur "Inneren Medizin" auf Ebene 2 und 3 ö um den Bereich der Psychosomatik. Die Ebene (5): ens deale ist keine Zone des Arztes, weil es hier z.B. um göttliches Strafhandeln geht, insofern es den Leib betrifft: worauf jedoch der Arzt keinen therapeutischen Einfluß nehmen kann (oder will). Diese verkürzte Darstellung zeigt, wie praxisbezogen Paracelsus das klassische Analogiemuster von Mikro- und Makrokosmus ausdifferenziert. Trotz gegenläufiger Textstellen, von denen es eine Reihe gibt, wird die Korrespondenz zwischen Leib und Umwelt jedoch nicht primär materiell, sondern semiotisch unterhalten. Es entspricht späteren Auffassungen vom Körper als Organmaschine, wenn man die analogische Vernetzung von Leib und Kosmos hier als metaphorische Projektion deutet. Bei Paracelsus ist es umgekehrt: materielle Ursachen sind der kleinste Ausschnitt im Kräftefeld des Universums; sie sind dessen kleine Bühne im Augenschein - der jedoch trügt; denn ihm erschließt sich nur ein Geringes vom komplexen Zeichenspiel der Natur. Das Sichtbare ist Erscheinung des Unsichtbaren oder weit Entfernten; das will sagen: die Dinge sind an Signaturen zu erkennen, die der vermittelnden Darstellung im Erscheinenden bedürfen. Der kosmische Leib ist von daher nicht Projektion des Körpers an den Himmel, sondern der physische Körper ist Metapher des (unsichtbaren) kosmo-semiotischen Leibs des Menschen. Dies gilt trotz der Elementenlehre, in deren Bahnen Paracelsus denkt. Die Genealogie des Leibes aus den Elementen ist zu verstehen aus dem Prinzip der Analogie, die den Kosmos durchwebt. Der elementische Leib, im welchem das Fleisch die Erde, das Blut dem Wasser, die Wärme dem Feuer und der Atem der Luft entspricht, ist ein per analogiam erzeugtes, kein empirisch-analytisches Faktum. Analogie enthält Identität und Differenz in einem: Identität der formalen Funktionen bei Verschiedenheit der Substanzen. Das (sichtbar) Materielle setzt die Differenz, während die (unsichtbaren) Formkräfte (Paracelsus nennt die archei) die Kor- respondenz oder die analogische Konfiguration erzeugen. Zum Beispiel: die Milz, als Körperorgan betrachtet, ist materiell verschieden vom Saturn, dem Stern. Doch hat die Milz im Körper die "Bedeutung", die "Funktion" des Saturns, was z. B. an der Melancholie zu erkennen ist: die Erkrankung des Organs "bedeutet", ins Zeichen des Saturns, des Sterns des Trockenen und Düsteren, Einsamen und Schwermütigen zu treten. Natürlich kann aber auch umgekehrt, wenn auch nur "gebrochen wie durch Glas", der Saturn im Körper des Menschen melancholiefördernd wirken. Die wechselseitige Influenz von Leib und Kosmos ist nicht kausal, sondern gewissermaßen kommunikativ: nämlich eine Korrespondenz (eine Art "Post") zwischen den signatoren, die die Dinge signieren oder signifizieren sowie miteinander vernetzen. Nehmen wir zum Beispiel die Korrespondenz von Wasser und Blut. Ihr archeus signator ist die Lebenskraft, der spiritus vitalis, der ein ganzes System "natürlicher Zeichen" erzeugt (signatura rerum naturalium, V, 101ff.). Das sagt: im Leib "bedeutet" das Blut, was das Wasser im Raum der Natur bedeutet. Dadurch bilden sich zwischen Blut und Wasser semantische Achsen, Verknüpfungen, Kombinationen, Verschiebungen, Übertragungen - Bezüge also, die wir heute leicht als linguistische erkennen. Blut und Wasser sind also zuerst als Paradigmen, als kombinierbare bedeutungstragende Einheiten charakterisiert. [6] Daraus können dann syntagmatische Verknüpfungen entstehen, gewissermaßen Narrationen, die zwischen Wasser und Blut analogisch verlaufen. Eine Erzählung etwa lautet: "Die Erde wird bei bestimmten kosmologischen Konstellationen von Wasser überflutet." Dies ist eine gleichsam klassische Erzählung, die von der biblischen Sintflut und den antiken Wasser-Mythologien (von denen Paracelsus viele kennt) bis zu den Wasser-Studien Leonardos reicht. Medizinisch läßt sich daraus die Narration bilden: "Bei bestimmten Konstellationen wird das Erdige im Leib vom Wasser überflutet", d. i. die Krankheit Wassersucht. Die paradigmatische Kombination von Wasser und Blut erzeugt zwei analog strukturierte Geschichten (die "Naturkatastrophe" und die "Krankengeschichte"). Aus dem naturgeschichtlichen Wissen, daß Überschwemmungen durch Verstärkung des Elements Feuer, der Qualität "Trocken" und des Gestirns Sonne, die beides enthält, zurückgehen, folgt krankengeschichtlich: der Arzt therapiert die Wassersucht durch Sulphur ("er dörret... aus, denn er ist die Sonne" unter den Stoffen) und durch Crocus (d.i. crocus martis bzw. veneris, Eisenfeilspäne bzw. Kupferoxyd): diesen eignet unter allen Metallen am stärksten die Qualität , "Trocken" (I, 67-73). Dieses gewiß seltsam anmutende Beispiel erklärt gleichwohl das Funktionieren der semiotischen Medizin des Paracelsus: der Arzt erkennt zuerst die (Un-)Ordnung des Körpers im Kosmos der Zeichen, um sie dann therapeutisch zu beeinflussen. Die Verabreichung von Mitteln ist wirksam vor allem, weil sie die Einführung ausbalancierender Zeichen ins gestörte kosmologische Szenarium der Körper-Signifikanten darstellen. Zuvörderst stellt der Arzt ein kosmologisches Lexikon und eine Grammatik her (das "Buch der Natur"). Diese erlauben ihm, die Krankheitssymptome als Störungen im semiotischen Leib des Menschen zu erkennen. Die Therapie ist in dem Sinn immer magisch, als die therapeutischen Mittel kraft ihrer Signatur wirken: sie verständigen den kranken Leib mit den wohltätigen Harmonien des natürlichen Universums. Hiermit wird Parcelsus zum ersten Theoretiker eines semiotischen Konzepts von Leib und Krankheit. Die "Kunst der signatur" (V, 192) ist die Primärkompetenz des Arztes. Der Arzt muß Zeichen- und Spurenleser sein, weil der menschliche Leib, insofern er Quintessenz der Elemente und Mikrokosmos ist, derjenige Ort im Universum ist, an welchem sich die kosmischen und irdischen Zeichenketten am engsten vernetzen. Die Sonderstellung des Menschen in der Natur besteht darin, daß er Verwandter aller Dinge ist und also die Signaturen des Kosmos inkorporiert. Der paracelsische Zeichenkörper realisiert, daß der Leib eine Einschreibefläche, ein Schriftraum von Kulturgeschichte und Naturgeschichte ist. Der Astralleib: das heißt mithin, den menschlichen Körper in der denkbar weitesten Verknüpfung mit den kosmischen und irdischen Bedingungen seiner Möglichkeit zu sehen. Die Struktur des Leibes erkennen heißt, die Signatur des Kosmos und der Rede in ihm zu erkennen. Der Leib offenbart sich als Analogon noch des Allerfernsten und Unmenschlichsten. Darin ist für Paracelsus der Leib ein subiectum, ein Unterworfener der Schrift, die durch ihn hindurchläuft und ihn porös gegenüber allen denkbaren Signifikationen macht. Doch ist der Mensch auch "irdischer König", weil er mit der "Kunst signata" (V, 126) ein Mittel hat, Schirm und Helfer des kranken Leibes zu werden. "Was der Himmel wirket, das müssen sie leiden und erdulden." (I, 160) Und wenn der Himmel zum "verrückten Himmel" wird, so verrückt die Ordnung des Leibes (ebd.): die Zeichen der Krankheit treten ins Sichtbare, bilden Symptome und Indizes, die der Arzt liest, um die heilsame Korrespondenz zwischen Körper und Welt wiederherzustellen. Im glücklichsten Fall kann der Arzt sich zum Mimeten der kosmischen Konfigurationen bilden, so daß "in seiner Hand wieder ein Himmel (ist), der den andern stillt und bestimmt" (I, 160). Bei Paracelsus deutet sich der Autonomie-Anspruch des Subiekts noch kaum an; er bewegt sich innerhalb der Grenzen von Natur, zu der jedermann qua Leib gehört. Wenn die Zeichen Momente eines in die Dinge versenkten Textes sind, so muß die Sprache des Menschen sich zur mimetischen Wiedergabe des unvordenklichen Zeichenuniversums der Natur bilden: im Verhältnis dazu ist die Bildung autonomer Subjektivität im Kontext historisch sich wandelnder Kommunikationsereignisse nicht denkbar. Der Mensch bei Paracelsus ist in den Horizont der Signaturen eingeschlossen; er versteht sie, aber er produziert sie nicht. Darin wirkt die Schöpfungstheologie fort: der Menschensprache geht die Sprache der Natur voraus. III. Hätte Paracelsus die sprachtheoretische Kontroverse des platonischen Dialogs "Kratylos" gekannt, er wäre zum vehementen Anwalt der physei-Auffassung des sprachlichen Zeichens geworden (im Zeichen ist das Wesen der Dinge gegenwärtig). [7] Sie kommt dem sprachtheologischen Konzept einer adamitischen Ursprache, in welcher die Zeichen Nachahmung der Dinge sind, am nächsten. Im mittelalterlichen Universalienstreit hätte Paracelsus die Position innegehabt, nach der die Zeichen in den Dingen verankert sind (universalia sunt in re). Nach Paracelsus wird diese Auffassung am nachdrücklichsten von Jakob Böhme (De signatura rerum, 1622) vertreten. [8] Dann versickert diese Tradition und wird zur Unterströmung sowohl einer rationalistischen Konzeption der Natur wie einer konventionalistischen Theorie der Sprache. Doch auch als Unterströmung behält die Natursprachenlehre einige Mächtigkeit; bis zu Benjamin und Adorno verliert sie sich nie ganz. Jedoch wird der Zusammenhang mit Naturforschung, worin vor allem sie bei Paracelsus ihren Platz hatte, zunehmend aufgegeben. Die Natursprachenlehre entfaltet Wirksamkeit am ehesten in der Physiognomik und in ästhetischen Konzepten der poetischen Sprache. [9] In diesem Prozeß ist der Königsberger Johann Georg Hamann (1730-88), der noch vor Herder auf die eklatante Vernachlässigung der Sprache in der Kantschen Erkenntnistheorie hinwies, eine wichtige Verbindungsfigur. Hamann löst die Theorie-Kontroverse über den physei- oder thesei-Charakter des Zeichens historisch auf, insofern er am Anfang der Geschichte eine ursprüngliche, im Wesen der Dinge gründende und von Gott in diese gravierte Natursprache sieht, die sich in ihrer metaphysischen Dignität jedoch durch die historisch zunehmende Arbitrarität des Zeichengebrauchs unter den Menschen verloren habe. "Reden ist übersetzen ö aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heist, Gedanken in Worte, - Sachen in Namen, - Bilder in Zeichen; die poetisch oder kyriologisch, - historisch oder hieroglyphisch - und philologisch oder charakteristisch seyn können." (HN II, 199) [10] Die Natur ist für Hamann ein Universum sich offenbarender, in Sprache nachgeahmter bzw. übersetzter Zeichen. Geschichte ist, im zitierten Schema, Differenzierung der Schrift in drei Stufen: die poetische Stufe ist die ursprünglichste; ihre Zeichenform ist das Ikon; der historischen Stufe entspricht die hermetische Bildschrift von Symbolen; auf der dritten, philosophischen Stufe ist der konventionalisierte Gebrauch von Lexemen herrschend. [11] Von der heutigen Semiotik aus könnte man dies als leidlich brauchbare Entwicklungslogik zu einer zunehmend autonomeren Signifikation bezeichnen. Hamann bewertet den Prozeß jedoch umgekehrt. Beruht die früheste Stufe der Signifikation auf einer prinzipiellen Verwandtschaft des Zeichens mit der Natur der Dinge selbst, welche im Zeichen konfigurativ oder onomatopoetisch nachgeahmt werden, so herrscht im gegenwärtigen philosophischen Zeitalter die "grobe Einteilung willkürlicher Zeichen" (HB I, 393), die am weitesten von der Sprache der Natur entfernt sind. Hamann hat an Kant gespürt, daß mit der Exklusion des "Dinges an sich" nicht nur die epistemologische Funktion der Sprache, sondern damit zugleich die mimetische Beziehung zwischen Dingen und Zeichen sich erübrigt hat. Ebenso weckt das Herdersche Konzept [12] , wonach der Mensch der Erfinder der Sprache kraft natürlicher Lernprozesse ist, sein Mißtrauen, weil darin der "Ursprung der Sprache" (HN III, 32) in der Wortförmigkeit der Natur zerstört zu sein scheint. Wenn aber "die Schöpfung eine Rede ist, deren Schnur von einem Ende des Himmels biß zum andern sich erstreckt" (HB I, 393), wenn "das Buch der Natur und der Geschichte ... nichts als Chyffern, verborgene Zeichen" (HN I, 308) darstellt, dann besteht die Kontinuität zwischen Mensch und Natur eben darin, daß die sprachlose Sprache der Dinge "sich der menschlichen Natur analogisch" (HN III, 27) äußert, Menschensprache also ein "Geschenk der alma mater Natur" ist (ebd.). Die Erkenntnisorganisation des Menschen ist kraft der unhintergehbaren Metaphorik der Sprache ein Analogon der Natur, "weil alle unsere Erkenntnis sinnlich, figürlich und der Verstand und die Vernunft die Bilder der äußerlichen Dinge allenthalben zu Allegorien und Zeichen abstracter, geistiger und höherer Begriffe macht" (HN I, 197f.). Die ikonologische Struktur der Natur korrespondiert der "Natur im Subjekt selbst", nämlich dem metaphorischen Vermögen des Menschen. Dieser Ansatz läßt Hamann zu zugespitzten Polemiken gegen die "Burg des philosophischen Glaubens unsers Jahrhunderts" (HN III, 47), gegen die Aufklärung und die profane Genealogie der Sprache à la Herder finden: Eure mordlügnerische Philosophie hat die Natur aus dem Wege geräumt, und warum fordert ihr, daß wir selbige nachahmen sollen? - Damit ihr das Vergnügen erneuren könnt, an den Schülern der Natur auch Mörder zu werden - (HN II, 206). Für Hamann hat die Aufklärung "den Text der Natur, gleich einer Sündfluth, überschwemmt" (HN II, 207). Dies zielt auf die Aufklärung und ihre gegen Natur autonom gesetzte Sprache, gegen Philosophie als Lehre vom Begriff: dies ist für Hamann nichts weniger als Mord an der Natur. [13] Diese bittere Spitze erklärt sich daraus, daß für Hamann mit dem Konzept des Menschen als "Erfinder der Sprache" (HN III, 46) und der Auffassung von der Konventionalität der Zeichen etwas Fundamentales zerstört wird: der naturwüchsige Zusammenhang der Sprachbildung. Sprache hat ihren Ursprung im Wirken der Natur durch "Sinne und Leidenschaften" (HN II, 206), also im Leib. Wer davon abstrahiert, "verstümmelt" (ebd.) nicht nur unsere Verwandtschaft mit Natur im Leib-Apriori der Sprache, sondern öffnet zugleich den Weg, die Natur selbst "durch Abstractionen. . .(zu)schinde(n)" (ebd.): "Ihr wollt herrschen über die Natur, und bindet euch selbst Hände und Füße" (HN II, 208). Eine Sprachauffassung, die von der "inneren Natur", vom Leib absieht, abstrahiert zugleich von der Bedeutsamkeit äußerer Natur. So erkennt Hamann als erster die Kolonisierung der inneren Natur als die Kehrseite der Beherrschung der äußeren Natur. Die Sprache der Auflklärung bildet für ihn einen Zusammenhang des Toten: Sprache als "Waffenträger des tödtenden Buchstabens" (HN II, 203), als Semiotik toter Natur wie getöteter Sinne und Leidenschaften. Das Sterben der Natur und des "Schwinden der Sinne" (Kamper/Wulf) ist der an Körpern und Dingen sich analog vollziehende Prozeß der Abstraktion der Schrift, besonders des Begriffs. Daher erklärt sich auch die Hochschätzung des Phonematischen, der Stimme als "Nahrungssaft und Lebensgeist der Sprache" (HN III, 37) [14] Unübersehbar geht dieser vernunftkritische Impuls auf hermetische Sprachtraditionen zurück. Was bei Paracelsus und Böhme jedoch als adamitische Namensprache ursprungsmythologisch gefaßt wird (und sich auch bei Hamann findet: der "hieroglyphische Adam", HN II, 200), erhält bei Hamann erstmals einen ästhetischen Akzent: der Zusammenhang von Leib, Natur und Sprache bildet bei ihm die Struktur der poetischen Sprache. Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkentniß und Glückseligkeit. Der erste Ausbruch der Schöpfung, und der erste Eindruck ihres Geschichtsschreibers; - die erste Erscheinung und der erste Genuß der Natur vereinigen sich in dem Worte: Es werde Licht! hiermit fängt sich die Empfindung von der Gegenwart der Dinge an.... Blinde Heyden haben die Unsichtigkeit erkannt, die der Mensch mit GOTT gemein hat. Die verhüllte Figur des Leibes, das Antlitz des Hauptes, und das Äußerste der Arme sind das sichtbare Schema, in dem wir einher gehn; doch eigentlich nichts als ein Zeigefinger des verborgenen Menschen in uns; - (HN II, 17). Dies ist der locus classicus des 18. Jahrhunderts für die Vermittlung des sprachmystischen Hermetismus mit der Suche nach einer poetischen Sprache; wie hier auch eine Wurzel des physiognomischen Denkens von Lavater bis zu Carus liegt. Die Frage nach der poetischen Sprache und Physiognomie des Leibes wendet sich, unter dem Eindruck vollzogener Entzauberung der Welt, in die Frage nach der möglichen Resurrektion der Natursprachenlehre: "Wodurch sollen wir aber die ausgestorbene Sprache der Natur von den Todten wieder auferwecken?" (HN II, 211). Bei Hamann wird man zur Antwort nur "poetische Fragmente zur Archäologie der Sprachgeschichte" (HN III, 48) finden. Eine solche Archäologie sucht die Fundamente, in denen Leib, Sprache und Natur zusammenhängen. Spuren davon lassen sich bei Hamann ausmachen. Der Mensch ist, wie bei Paracelsus, wesentlich unsichtbar, d. h., Leib und Sprache sind physiognomische und ikonographische Zeichen des "verborgenen Menschen" - analog wie Natur die Zeichenschrift des verborgenen Gottes ist. Gegen den Asketismus der Auflklärung rehabilitiert Hamann den leidenschaftlichen Leib als vorrationalen Ursprung der (poetischen) Sprache: auffällig häufen sich sexuelle und affektive Metaphern. [15] So liegen Ideen "im fruchtbaren Schooße der Leidenschaften vor unsern Sinnen vergraben" (HN II, 209); "Empfängnis und Geburt" (ebd.) sind Momente der Sprachbildung; "Leidenschaft allein giebt Abstractionen sowohl als Hypothesen Hände, Füße, Flügel" (HN II, 208). Wider die "Mönchengesetze" und die Selbstkastration der Rationalität erinnert Hamann ironisch an das genital-sexuelle Moment der Sprache (HN II, 208). Erkenntnis "in den Geschöpfen zu sehen und zu schmecken, zu beschauen und mit Händen zu greifen" (HN II, 207) ist möglich nur, wenn dem Leib eine fundierende Rolle in der Sprache der Erkenntnis reserviert wird. Nicht umsonst ruft Hamann Demeter und Dionysos an, die Göttin der Fruchtbarkeit und den Gott der Eleusinischen Mysterien, die Schutzgötter der "Sinne" und der "Leidenschaften", als "Pflegeeltern der schönen Natur" (HN II, 201). Denn nur, wo das Erkenntnissubjekt sich nicht der Natur und dem Leib als Nicht-Ich gegenübersetzt, wo in den grenzauflösenden Mysterien des orgiastischen Leibes sich die innere Natur physiognomisch zum Ausdruck bringt, wo also der Leib zum Zeichenkörper der inkorporierten Natur wird, sind wir der Sprache als "Gebährmutter der Begriffe" (HN III, 31) nahe. Die gynäkomorphen und sexuellen Metaphern der Zeichenproduktion bei Hamann erinnern deutlich an die Sprache der Alchemie. Es ist, als denke Hamann die Genese der Sprache analog zu den Transformationen des alchemistischen Prozesses; als sei der Leib der Schmelztiegel, die uterine Retorte der Sprache. Sinne, Leidenschaften, Begehren bilden als Stimmen der "Natur im Subjekt" den Glutstrom, der die Transformation der sprachlosen Ikonizität der Dinge in poetische Wortzeichen, in Bilder, Metaphern, Gleichnisse erst ermöglicht - aber auch in begriffliche Erkenntnis, die bei Hamann ihren Namen erst verdient, insoweit sie vom "unnatürlichen Gebrauch der Abstractionen" (HN II, 207) gereinigt ist und bildliche Konfigurationen zur Natur hervorbringt. Bedeutungen und Zeichen werden "unten in der Erde gebildet . . ., und (liegen) in den Eingeweiden, - in den Nieren der Sachen selbst - verborgen" (HN II, 200). Diese ebenso alchemistische wie corporale Metaphorik zielt auf eine Sprache als "Übersetzung" des Leibes. Es gibt für Hamann hinsichtlich der Sprache kein Außerhalb des Leibes. Sprache ist übersetzter Leib wie der Leib inkorporierte Natur ist. "Übersetzung" ist der Prozeß, aus welchem Hamann die Zeichen durch Metaphorisierung hervorgehen läßt: von der Signatur der Dinge über die Physiognomie des Leibes zur Bedeutung der Wörter. Jede dieser "Übersetzungen" ist ein ikonographischer Übertragungsvorgang, der den Zusammenhang zwischen Natur, Leib und Sprache nicht unterbricht. Wenn Hamann die Poesie als "Muttersprache des menschlichen Geschlechts" (HN II, I97) bezeichnet und in der Natur die "disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch" (HN II, 198/99) ausmacht, so ist dies nicht eine Remythologisierung des orphischen Mysteriums, sondern der Versuch, die "Historie des ganzen Geschlechts" (HN II, 200) als die Geschichte sich ausdifferenzierender Korrespondenzen von Natur, Leib und Sprache zu verstehen. Dies ist sein Gegenentwurf zur Autonomie des Subjekts in der Aufklärungsphilosophie, worin jenes zum "Tyrann oder Erdgott" (HN III, 44) aufgespreizt werde. Der Mensch ist nicht selbstherrlicher "Construkteur" der Leibmaschine, der machina mundi oder der Sprechmaschine [16] , sondern der "größte Pantomin" (HN III, 38) und Mimet: ein Lebewesen, das an eignem Leibe immer schon den Zeichenprozeß der Natur und den physiognomischen Ausdruck seiner Leidenschaften stumm aufführt. In der Sprache hat er das Medium der Übersetzung der Signaturen der Dinge und Chiffren des Leibes erhalten - als Analogon der Natur selbst. Poesie als Muttersprache ist im Zeitalter der Aufklärung das einzig verbliebene Residuum der physiognomischen und natursprachlichen Rede. IV. Das sprachliche Konzept des Leibes und das leibliche Konzept der Sprache werden, von Hamann und der paracelsischen Linie ausgehend, am Ende des 18. Jahrhunderts in mehreren Richtungen fruchtbar gemacht: in der Physiognomik; in der Naturästhetik und -forschung sowie in den fragmentarisch bleibenden Entwürfen einer poetischen Sprache. Nur hinsichtlich der ersten beiden Felder möchte ich hier Umrisse der Entwicklung skizzieren. Wer derjenige ist, der mir gegenübersteht, liegt nicht am Tage. Wie die meisten Gelehrten des 18. Jahrhunderts weiß dies auch Johann Caspar Lavater, an dessen vier Bände allzu humaner Physiognomische(r) Fragmente (1775-78) [17] sich die Lichtenbergische Satire entzündete - und nicht nur diese. Im Kern aber, konzediert auch Lichtenberg, geht es um eine ernste bürgerliche Forderung - nämlich natürlich und nicht larviert zu sein -; und um ein grundsätzliches Problem: die kommunikativen Irritationen, sobald bewußt wird, daß man auf Masken und Codes trifft, wenn man dem "Subjekt selbst" begegnen möchte. "Ich" ist eine Inszenierung. Und auch die Natur des Menschen - unter wieviel Schalen ist sie verborgen: "Stand, Gewohnheit, Besitzthümer, Kleider, alles modificirt, alles verhüllt ihn. Durch alle diese Hüllen bis auf sein Innerstes zu dringen, selbst in diesen fremden Bestimmungen feste Punkte zu finden, von denen sich auf sein Wesen sicher schlie ßen läßt" (Phys. Fragm. 24) - das ist Ziel der Physiognomik. Man erkennt die Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Erscheinung und Wesen, die schon bei Paracelsus das Zeichen bestimmt. Während bei Paracelsus die Signaturenlehre den Arzt über die Verkettung des Leibes mit der Umwelt belehren soll, dient bei Lavater die physiognomische Zeichenlehre zur Identifizierung des Subjekts. Die naturphilosophische Signaturenlehre hat sich zur bürgerlichen Problematik der Differenz von Rolle und Identität verschoben. Die Physiognomik ist damit im ersten Ansehen an den Subjektbegriff gekoppelt, den die paracelsische Leibmataphysik nicht kennt. Sie ist eine proto-psychologische Kunst im interaktiven Spiel handelnder und sich verständigender Bürger. Diese müssen, im Interesse der Selbsterhaltung und bei Strafe des Untergangs, wechselnde Rolleninszenierungen auf ihre wahren Strategien hin entziffern können, während sie sich in der Privatsphäre zu gegenseitig authentischem Ausdruck ihrer "Innerlichkeit" verpflichten. Lavater löste mit seiner physiognomischen Lesekunst in den siebziger Jahren zweifelsohne eine Art Fieber aus. Doch Kant stellt schon 20 Jahre später fest, daß Physiognomik "als Ausspähungskunst des Inneren im Menschen vermittels gewisser äußerer unwillkürlich gegebener Zeichen, ganz aus der Nachfrage gekommen" sei (Anthr. A 275) Wissenschaft könne, so Kant und vor ihm schon Lichtenberg, die Physiognomik ohnehin nicht werden - was Lavater noch programmatisch erklärte (Phys. Fragm. 40ff.). Freilich räumt Kant ein, daß sie im intersubjektiven Verkehr eine Art "Naturtrieb" (Anthr. A. 274) zur Selbstvergewisserung und zur Beurteilung ("Zensur") des Anderen sei. "Charakter" jedoch ist für Kant nicht, "was Natur aus dem Menschen sondern was dieser aus sich selbst macht" (Anthr. A 267). Und die "Gründung eines Charakters" als "absolute Einheit des inneren Prinzips des Lebenswandels überhaupt" ist eine Art Selbstzeugung (Anthr. A 270/71), die ohnehin nicht an "Zeichen" ablesbar ist, sondern der prinzipiell außerkörperlichen Sphäre der Sittlichkeit angehört. So bleibt der Physiognomik nur das ephemere Spiel der sozialen und körperlichen Erscheinungen. Die Identität des Subjekts residiert, ohne jeden physiognomischen Ausdruck, in der unsichtbaren Veste seiner Sittlichkeit. Diese Spaltung des Subjekts, womit die Bedeutungslosigkeit des leiblichen Ausdrucks besiegelt wird (Schiller wehrt sich dagegen), hatte Lavater keinesfalls ziehen wollen. Sosehr er Physiognomik als Kompetenz im sozialen Handlungsspiel faßt, wird bei ihm die "Renaissance-Linie" (Bloch) der Leib- und Naturphilosophie nicht gebrochen. So wendet sich Lavater gegen die cartesianisch beeinflußte Wolffsche Auffassung von der Unkörperlichkeit der Seele, wenn er schreibt: . . . mein denkendes Ich ist im Kopfe, mein empfindsames, begehrendes, wollendes, oder moralisches Ich imHerzen; meinwirkendes Ich im ganzen Körper, besonderes im Munde und in der Hand; mithin ist das, was man meine Seele, den unsichtbaren, herrschenden, belebenden Theil meiner Natur nennt - im ganzen Körper. (Phys. Fragm. 27) Diese Verleiblichung der Seele wahrt ebenso eine paracelsische Spur wie spekulative Fragen folgender Art: Ist nicht die ganze Natur Physiognomie? Oberfläche und Inhalt? Leib und Geist? Aeußere Wirkung und innere Kraft? Unsichtbarer Anfang; sichtbare Endung? (Phys. Fragm. 36) Die Lavatersche Körperlehre hält den Kontakt zum "tausendbuchstäbigen Alphabet zur Entzieferung der unwillkürlichen Natursprache im Antlitze, und dem ganzen Aeußerlichen des Menschen" (Phys. Fragm. 10), zur Signaturenlehre des Körpers wie zur sprachtheologischen Tradition, die in der ars semiotica den "Schlüssel der ganzen Natur und Offenbarung" (Phys . Fragm. 88) erkennt. Die hermetische, von niemandem außer von Goethe bemerkte Tradition der Lavaterschen Zeichenlehre ist, wie Ernst Benz [18] gezeigt hat, über den "Geisterseher" Emmanuel Swedenborg (1688-1772) vermittelt. Es macht den geheimen Sinn der Lavaterschen Physiognomik aus, daß sie einen eingeweihten, von "Herzen zu Herzen" unmittelbar geknüpften Freundeskreis bilden soll (Phys. Fragm. 96). Die Entzifferung des physiognomischen Ausdrucks zielt auf die absolute, "panoptische" Transparenz des kommunikativen und leiblichen Verhaltens. Man höre den für das 18. Jahrhundert so charakteristischen Schwärmer-Ton, der den affektiven Impuls des Physiognomisten enthüllt: Nur er versteht die schönste, beredteste, richtigste, unwillkührlichste und bedeutungsvolleste aller Sprachen, die Natursprache des moralischen und intellectuellen Genies; die Natursprache der Weisheit und Tugend. Er versteht sie im Gesichte derjenigen, die selbst nicht wissen, daß sie dieselbe sprechen. Er kennet die Tugend, so versteckt sie immer seyn mag. Mit geheimer Entzückung durchdringt der menschenfreundliche Physiognomist das Innere eines Menschen, und erblickt da die erhabensten Anlagen, die sich vielleicht erst in der zukünftigen Welt entwickeln werden. Er trennt das Feste in dem Character von dem Habituellen, das Habituelle von dem Zufälligen. Mithin beurtheilt er den Menschen richtiger: er beurtheilt ihn blos nach sich selbst. (Phys. Fragm. 96) Was hier im Gewande des Studiums einer sittlichen Zeichenlehre erscheint, ist die eine Seite. Die andere Seite bezeichnet sich nicht allein durch den Verweis auf die Natursprachenlehre, sondern vor allem durch die wahrhaft ungeheure Erhöhung des Physiognomisten in die erhabene Position dessen, dem der Mitmensch so unverhüllt vor Augen liegt - wie der Mensch vor Gott. In der Tat ist die Physiognomik insgeheim aufs Jüngste Gericht bezogen: dem Auge des Physiognomikers erscheint der Mensch in der "Unverborgenheit", in der Wahrheit "der zukünftigen Welt". Das Jüngste Gericht ist das physiognomische Enthüllungsdrama par excellence: Leib und inneres Selbst fallen hier in nackter Unmittel- barkeit zusammen. Die Natursprache des Körpers erhält einen unheimlichen Akzent: Folglich ist keine Falte, kein Wärzchen, kein Häärchen am menschlichen Cörper, welches nicht jetzt schon (= hier auf der Erde, H.B.) physiognomisch - nicht izt schon Sprache - untriegliche Sprache für ein offenes Aug ist. (...) Jeder Punkt unsers verklärten Cörpers wird lauter, allbedeutender und allverständlicher Ausdruck und Wahrheitssprache sein. [19] Die irdische Szene der physiognomischen Entzifferung ist teleologisch auf die himmlische Entschleierung des wahren Selbst des Menschen bezogen. Der Leib ist "eine allbedeutsame Sprache für die Augen" des Physiognomikers, der, gleich einem metaphysischen Anatom, jedes "Glied", jeden "Nerv", jeden "Muskel" als "Modification" des unsichtbaren Selbst durchschaut. Das physiognomische Auge wird zum Röntgen-Schirm für die leiblichen und habituellen Maskierungen der personalen Identität. Indem Lavater den Körper zum absoluten Ausdruck des Selbst stilisiert, wird dem enträtselten Auge der Leib zu Glas. Obwohl Lavater die Physiognomik als "Spiegel der Naturforscher und Weltweisen" von der Pathognomik (= "Wissenschaft der Zeichen der Leidenschaften") als "Spiegel der Hof- und Weltleute" (Phys. Fragm. 275f.) trennt, herrscht in beiden ein identisches Enthüllungsinteresse. Zielt der Physiognomist auf das im Körper verborgene Kernselbst des Menschen (in der Idealperspektive des Gerichts), so der Pathognomiker auf die Ausspähung der sozialen Verhüllungsstrategien (in der Idealperspektive der allwissenden Polizei). Ahnungslos formuliert Lavater zum ersten Mal, in frommer Gutgläubigkeit und unbewußtem Größenwahn, das Ideal des gläsernen Menschen. [20] Die Semiotik des Gesichts und des Körpers, von Physiognomie, Mimik und Gestik wird zur esoterischen Lehre - sei's einer göttlichen oder polizeiförmigen Geheimwissenschaft. [21] Freilich zeigt der Bezug auf Swedenborg eine weitere Dimension, die man als Sehnsucht nach Unmittelbarkeit des Körpers und der Kommunikation inmitten der zeichenvermittelten Welt des sozialen Verkehrs ansprechen kann. Darin ist Lavater eher Exponent des "Sturm und Drangs", der im Zeichen der Natürlichkeit auf den unvermittelten Zusammenschluß sympathetisch verbundener Subjektivitäten zielte. Bei Lavater ist der hermetische Kern dieses Ideologems der Natürlichkeit noch greifbar. Swedenborg hatte das Konzept einer "Sprache der Engel" [22] entwickelt, in der das Wort nicht, wie im konventionellen Gebrauch, strategisches Moment eines Täuschungsmanövers ist; sondern Stimme und Ton, das Phonematische stellt eine absolute Ausdrucksgebärde dar. Diese physiognomische Sprache, in welcher Laut, Wort und Bedeutung identisch werden, entspricht bei Swedenborg der Kommunikation der Engel: denn diese können sich nicht verstellen. "Engel" ist, kann man sagen, die Chiffre des unverborgenen Kernselbst des Menschen. Verstellung aber kennzeichnet die korrumpierte Kommunikation in der Menschengesellschaft. Die Engelsprache erhält also einen ähnlichen Status wie die adamitische Namensprache bei Paracelsus und Jacob Böhme: die absolute Gegenwart des Subjekts im Wort, das dessen vollkommener Ausdruck ist. Eine solche Sprache ist bei Swedenborg das idealisierte Umkehrbild der entfremdeten Kommunikation am Hofe und in der bürgerlichen Gesellschaft: hier ist die Sprache Maske des Sprechers, Instrument seiner Intrigen und Täuschungsmanöver, seiner Listen und Lüste, seiner Inszenierungen und verborgenen Absichten. Swedenborgs "Sprache der Engel" verwendet dagegen einen Zeichenbegriff, nach welchem das Zeichen die Gegenwart dessen ist, was es sagt. Die Sprachmystik Swedenborgs will vom Leiden an der verlorenen Unmittelbarkeit (= Fall aus dem Paradies) und vom gesellschaftlichen Zwang zum Rollenspiel erlösen. Engel sind nicht personae, sondern maskenlose Wesen, während das sozialisierte Subjekt durch Maskierung sich konstituiert. Die Maske ist die Metapher für die Differenz zwischen Intention und Ausdruck, Signifikant und Signifikat. Swedenborg denkt eine ideale Kommunikationsgemeinschaft - etwa auf dem Jupiter - derart, daß die Wesen dort der Vermittlung durch Sprache nicht bedürfen, weil ihr Körper der geheimnislose Ausdruck der emotiven und gedanklichen Prozesse ist. [23] Korrespondenz besteht im wörtlichen Sinn: jede Regung ist immer schon am Körper sichtbar, wie jedes Wort die vollendete Gebärde des Sinns ist, so daß zwischen den Jupiterbewohnern ein grenzenloser Strom von physiognomisierten Bedeutungen ohne Bruch ohne Reibungsverlust, ohne Übersetzungsfehler, ohne Dunkel, ohne Ufer fließt. Die profane irdische Gesellschaft dagegen ist eine Hölle "stockfinsterer Körper", die "dort an der Stelle der Weltsonne" stehen. Eine opake Welt versteckter Kämpfe und heimlicher Listen zur Überwindung der anderen, eine Wolfswelt gegenseitiger "Zerfleischungen, wo jeder für sein Falsches (kämpft) und nennt es Wahrheit". [24] Der physiognomische Ausdruck dieser Welt, die sich wie eine ins Höllische gesteigerte Phantasie des struggle of life liest, ist das "Zähneknirschen" - man kann sagen, der verbissene, angestrengte, verkrampfte, gegen jede Transparenz abgeschirmte aggressive Körperpanzer. Welch eine Vision der Sprache und des Körpers ! Während auf der Erde in den Salons und Residenzen die Schminke und die Kunstgerüche, die Perücken und der Puder, die Reifröcke und gestickten Roben den Körper Schicht für Schicht in Codes und Etiketten einschalen; während die Oberfläche der Haut durch immer perfektere Larvierungen zu einem undurchsichtigen Gefüge sozialer Zeichen vervielfacht wird; während der nackte "Körper der Wahrheit" in den artifiziellen Ritualen der Tänze und gravitätischen Haltungen zur bedeutungslosen Leerstelle wird, träumen Swedenborg und Lavater den Traum des esoterischen Lichtkörpers und einer vollkommenen Ausdruckssprache, die völlig kongruent sich aufeinander abbilden lassen. Körper ist Sprache und Sprache ist Körper: in den ver-rückten Diskursen sprachtheologischer Mystik und paracelsischer Signaturenlehre spricht sich ein Begehren aus, das die bürgerliche Gesellschaft fortan begleitet. Das Begehren, von dem seit dem "Sturm und Drang" die Poesie lebt: das absolute Wort und den absoluten Leib zu finden, goldenes Zeitalter der Menschen, die - im Dreiklang von Natur, Körper und Sprache - die Wahrheit des nackten Wortes und des sprechenden Leibes träumend leben. Die Zeichenlehre Lavaters hat also zwei Seiten: die exoterische, auf der er im Gewande des Förderers der Menschenliebe in Familie und Gesellschaft sein physiognomisches Alphabet zum öffentlichen Gebrauch anbietet; und die esoterische, auf der die Physiognomik zur hermetischen Szenerie wird, in welcher unter dem Blickpunkt der finalen Wahrheit bereits auf Erden der panoptische Körper und die vollkommene Plastizität des Ausdrucks vor eingeweihten Freunden enthüllt wird. Lavaters Apotheose des Genies zielt in eben diese Richtung (Phys. Fragm. 292ff.). Die "Stürmer und Dränger", die ihren Protest gegen die Konventionalität der Sprache, die Etikettierung des Verhaltens und gegen das Zerreißen von Leib und Vernunft richteten, haben dies wohl verstanden. Am nächsten jedoch kam den hermetischen Tendenzen Lavaters -: Goethe. So wenig die Zeitgenossen die esoterische Emphase Lavaters verstanden und statt dessen seine biedersinnige Außenseite satirisierten, so wenig wurden auch die Goetheschen Beiträge zur Physiognomik in ihrem Hermetismus durchschaut. Erst heute, mit den Studien R. Chr. Zimmermanns [25] , werden die physiognomischen Studien Goethes geradezu als Kabinettstücke esoterischer Rede durchsichtig. Goethe spricht hier die Lehre vom Leib als der mikrokosmischen Spiegelung der Welt aus, ebenso wie er unter der Hand die Physiognomik zur Lesekunst der geheimen Chiffrenschrift des im Leib sich ausdrückenden Archeus Signator stilisiert. Die Physiognomik deckt bei Goethe ferner die polare Struktur des Lebendigen auf, die Expansion und die Kontraktion die Repulsion und die Attraktion, das Ein- und Ausatmen: Polaritäten, auf die Goethe seine späteren Naturforschungen gründen wird. Das Gesicht Homers wird zur himmlischen Landschaft stilisiert: das poetische Genie verkörpert das Geheimnis des Makrokosmos. Dies bleibt bis in die spätesten Jahre der geheimste und beherrschendste Punkt der Goetheschen Kunstreflexion. V. Wie Goethe hat auch Novalis [26] den hermetischen Kern der Physiognomik verstanden: Es giebt nur einen Tempel in der Welt und das ist der menschliche Körper. Nichts ist heiliger, als diese hohe Gestalt. (. . .) Man berührt den Himmel wenn man einen Menschenleib betastet. (. . .) Religiositaet der Physiognomik. Heilige, unerschöpfliche Hyeroglyphe jeder Menschengestalt. (III, 565/66) Neue Ansicht der Physiognomik - als Metrik des Inneren und seiner Verhältnisse. (III, 639) Novalis hat die Metaphysik des Körpers in seiner Naturphilosophie und philosophischen Medizin explizit aus der paracelsischen und Böhmischen Natursprachenlehre entwickelt. Der fließende Übergang von natürlichen, sprachlichen und ästhetischen Zeichen basiert bei Novalis auf einer Sprachauffassung, die alles Dasein mit Sprachfähigkeit belehnt. Diese Idee ist der philosophische und ästhetische Grundgedanke der gesamten Romantik: "Der Mensch spricht nicht allein - auch das Universum spricht - alles spricht - unendliche Sprachen. / Lehre von den Signaturen." (III, 267/68) Diese Semiotik des Leibes und der Dinge entspricht dem paracelsischen Konzept des Körpers als Mikrokosmos: "Die Idee des Microcosmos. / Cosmometer sind wir ebenfalls" (II, 594). Die Lehre von den kosmischen Korrespondenzen stellt Novalis hier bereits in jenes rätselhafte Licht, in das Goethe in den Wanderjahren sein seltsamstes Mythologem taucht: die Figur der Makarie, die "nicht sowohl das ganze Sonnensystem in sich trägt, sondern... sich vielmehr als ein integrierender Teil darin" bewegt (HA VII, 126). Makarie - als "lebendige Armillarsphäre" (HA VII, 451) - ist die esoterische Figuration des naturwissenschaftlichen Grundprinzips Goethes, nach welchem der menschliche Leib und seine Sinne "der größte und genaueste physikalische Apparat (ist), den es geben kann" (HA VIII, 473). Eben dies meint: der Körper als Cosmometer. Das Goethesche Konzept einer Wissenschaft vom Leibe her und die romantischen Phantasien eines Novalis über den kosmischen Leib als einer "Analogienquelle für das Weltall" (II, 610) rücken nahe zusammen, wenn man sie aus ihrer gemeinsamen Frontstellung gegen die Newtonsche Wissenschaft und die Kantsche Transzendentalfassung des Erkenntnissubjekts versteht. Die paracelsische Semiotik, auf unterirdischen Traditionswegen ins 18. Jahrhundert geschleust, erhält in Goethes Naturforschung und in der romantischen Naturphilosophie eine überraschende Aktualisierung: die Semiotik des Leibes und der Natur ist der konzeptionelle Rückhalt einer wesentlich ästhetischen Opposition gegen den Ausschluß des Körpers und der Natur aus der experimentellen Wissenschaft, allgemeiner: aus dem subjektivistischen Typ der Aufklärungsphilosophie. Selbst Kant hatte den Riß zwischen Vernunftsubjekt und Körper (in der Moralphilosophie) und zwischen Erkenntnissubjekt und Natur (in der Erkenntnistheorie) offenbar als so schmerzlich empfunden, daß er, freilich vergeblich, in der Kritik der Urteilskraft nach einer Versöhnung dessen suchte, was er selbst unheilbar auseinandergerissen hatte. Löst man die teleologischen Spekulationen Kants aus dem Klammervorbehalt des "Als ob" ("gleichsam als ob Natur zu uns spräche"), so ist man Novalis bereits sehr nah. Für diesen ist es nicht eine Metapher, daß Natur "figürlich" zu uns spricht, sondern die Sprache der Natur ist "figürlich", d. h. tropisch und metaphorisch: "Die Welt ist ein UNIVERSALTROPUS des Geistes - Ein symbolisches Bild desselben." (II, 600) "Geist - das heißt hier: archeus signator. Die Welt als Signatur. MAGIE. (mystische Sprachl{ehre}). Sympathie des Zeichens mit dem Bezeichneten. (Eine der Grundideen der Kabbalistik.)... Wechselrepräsentationslehre des Universums." (III, 266) Diese sympathetische Konvenienz von Signifikant und Signifikat begründet in der Romantik zum letzten Mal eine "Poesie der Natur" (III, 628), die nicht als metaphorische Projektion der Einbildungskraft (oder der Urteilskraft aus Vernunftinteresse) augeklärt werden will. Der Anspruch zielt darauf, daß die ästhetische Sprache mit der Struktur der Welt konvergiert. Die ästhetische Signaturenlehre des Novalis auch nur in den Lehrlingen zu Sais hier darzustellen, ist nicht möglich. Wie schwierig dies ist, mag zeigen, daß in diesem Text ein Dutzend verschiedener Ansichten der Natur, auf unterschiedlichen Zeitebenen und von verschiedenen Sprechern, entwickelt werden, von denen keine "Recht" erhält. Sondern das Gewebe aller zusammen, ihre assoziative Verknüpfung, analogische Entfaltung, kontrapunktische Entgegensetzung, currente Variation, ihr ständiges Verschieben und ihr Spielen zwischen diskursiven und poetischen Sprechweisen, ihre "wunderlichen Zusammenziehungen und Figurationen" (I, 96) bilden als Ganzes erst, was die Natursprachenlehre des Novalis meint -: die "große Chiffernschrift" (I, 79) ist in keine Theorie zu fassen, sondern findet Darstellung in der Sprache der Kunst. Diese Nicht-Trennung von Gegenstands- und Sprachebene - ein Skandalon jeder Wissenschaft - wird im Text auf ihre Formel gebracht, wenn von der "Selbstabbildung . . . der irdischen Natur" in den "Gedanken unsrer Altväter" (I, 83) gesprochen wird. Diese einer verlorenen "goldenen Zeit" (I, 95/96) unterstellte Kongruenz von Natur und Sprache - wir erinnern die adamitische Namensprache - ist das utopische Programm einer Ästhetik der Natur und der Natursprache der Kunst. Bestimmt werden kann hier allein der Ort des Leibes in diesem Konzept. Novalis sucht eine "neue Art von Wahrnehmungen" (I, 1O4), die er "schaffende Betrachtung" (I, 101) nennt, welche die Momente des "Hervorbringens" (Kreativität, Produktion), des "Wissens" (Diskursivität) und der "Beschauung" ("innere Selbstempfängnis") vereinigen soll. Hieraus wächst eine Sprache, die die "Erzeugungsgeschichte der Natur" (I, 101) darzustellen, d.h. nachzubilden und hervorzubringen vermag. Der Leib hat dabei eine konstitutive Rolle inne; frontal gegen Kant gerichtet führt Novalis aus: Der Inbegriff dessen, was uns rührt, nennt man die Natur, und also steht die Natur in einer unmittelbaren Beziehung auf die Gliedmaßen unsers Körpers, die wir Sinne nennen. Unbekannte und geheimnißvolle Beziehungen unsers Körpers lassen unbekannte und geheimnißvolle Verhältnisse der Natur vermuthen, und so ist die Natur jene wunderbare Gemeinschaft, in die unser Körper uns einführt, und die wir nach dem Maaße seiner Einrichtungen und Fähigkeiten kennen lernen . . . Man sieht wohl, daß diese innern Verhältnisse und Einrichtungen unsers Körpers vor allen Dingen erforscht werden müssen, ehe wir in die Natur der Dinge zu dringen hoffen können. (I, 97/98) Unschwer ist hier der kosmische Leib des Paracelsus mit seinen Verzweigungen in die Reiche der Natur zu erkennen. Der Leib als "Einführung" der Naturwissenschaft -: das ist in der Tat die Rücknahme der Verwissenschaftlichung, bei welcher der Körper des Wissenschaftlers auf den disziplinierten Einsatz in der Experimentaltechnik eingeschränkt wurde. Nur so ließ sich das Buch der Natur, die "kunst signata" umschreiben in das Galileische Buch, das in "Dreiecken und Quadraten, in Kreisen und Kugeln, in Kegeln und Pyramiden verfaßt und geschrieben ist". [27] Die allein mathematisch-physikalische Form der Natur konnte erst entwickelt werden durch die Verdrängung des Körpers aus dem Erkenntnisprozeß. Dadurch verschwindet aus dem Verhältnis von Mensch und Natur, woran der Leib unaufhörlich erinnert: die wechselvollen Beziehungen von "Sympathien und Antipathien" (I, 97), von "Verwandtschaft" (I, 103/05), Empathie (I, 105), Ähnlichkeit (I, 100/01), Konvenienz ("Nachbarschaft", I, 105) und Mimesis (I, 102). Das corporale Ich ist keine gegen Natur abgegrenzte "Insel" (I, 87), sondern wird zum "elastischen Medium" (I, 97). Der Subjektbegriff wird von Novalis aufgegeben, wenn er mit der Idee des "Urflüssigen" und des "Wassers" das Medium einführt, in welchem sich am reinsten eine erotische Erkenntnisform realisiert. Rausch und Verausgabung, "Mischung" und Verschmelzung, "Wonne des Flüssigen", Sinken und Steigen, "Liebe und Wollust", "Zeugungslust" und "zarte Befreundung" (I, I04-06) sind colloidale Aggregate des Körpers, in denen "die arme Persönlichkeit in den überschlagenden Wogen der Lust sich verzehrt" (I, 104). Auf dem Grund der Naturästhetik des Novalis erscheint eine Desubjektivierung, die sich derjenigen der Naturwissenschaft strikt entgegensetzt. Während in dieser durch methodische Disziplin und Entledigung von allen affektiven Beimischungen ein rationaler Habitus erreicht wird, der das Erkenntnissubjekt zum transpersonalen Abstraktum stilisiert, phantasiert Novalis eine erotische Naturwissenschaft in "inniger Verwandtschaft mit allen Körpern" (I, 105). Hierin löst sich das solipsistische, zum "Herrn der Welt" (I, 90) aufgespreizte Subjekt in einem zarten Spiel des Lösens und Bindens auf. Medium dieses Spiels ist die poetische Sprache, die das "Leben des Universums" als "ein tausendstimmiges Gespräch" (I, 107), als Sprechen der Natur wiederzugewinnen trachtet: Anbruch der "goldnen Zeit". Ästhetik der Natur meint das Spiel einer "objektiven Phantasie" (Bloch), "Naturgedanken hervorzubringen und Naturkompositionen zu entwerfen" (I, 98), sich darin in ein kommunikatives wie produktives Verhältnis zur Natur zu setzen und "nun erst in der Welt zu Hause" (I, 97) zu sein. Zum anderen gilt es ein ästhetisches Spiel in der uns nächsten "Zone", dem Leib (III, 370), zu entfalten, das diesen nicht nur zum Konsonanten der Seele, sondern auch der ihm verwandten Natur macht. Der "anthropologische Dualismus" (H. Schmitz) zwischen Körper und Geist soll ebenso aufgehoben werden wie die kriegerische Opposition zwischen Körper und verwilderter Natur (I, 89/90). Dann, so glaubt Novalis, wäre ein Zustand denkbar, in welchem jeder "sich ein vollständiges, sichres und genaues Gefühl seines Körpers erwerben können wird" (II, 583). Spielerisch würde man mit dem Leib umgehen können bis zu der Grenzidee, daß man "verlorne Glieder" plastisch ersetzen oder "sich blos durch seinen Willen tödten" (ebd.) vermöchte: Ideen, die Kleist in seinem Werk umsetzen wird. Ästhetische Souveränität - das ist kein naturfrommes Gefühl sondern die phantastische Form einer sprachlich-ästhetisch bestimmten "Technik", in welcher die Natur uns ebenso willig entgegenkommt wie unser Körper ö ist als höhere Magie (s. III, 297, Nr. 322). Macht und Freiheit fielen dann zusammen (I, 97); der Mensch hätte die Natur, ihrer eigenen Sprache gemäß, vollkommen ästhetisch durchgebildet. Eine solche ästhetische Theodizee ist freilich schon um 1800 soweit von den Realverhältnissen verrückt, daß ihre Idee nur noch in der Gebärde der wehmütigen Erinnerung erscheint. Die zum Sprechen erweckten Dinge trauern über die tyrannischen Trennungen und Dissonanzen, die der Mensch willkürlich in die Naturordnung eingeführt habe. Über den Menschen, der "einen langsamen, wohldurchdachten Zerstörungskrieg mit dieser Natur" (I, 89) führt, klagen die Dinge: Seine Begierde, Gott zu werden, hat ihn von uns getrennt, er sucht, was wir nicht wissen und ahnden können, und seitdem ist er keine begleitende Stimme, keine Mitbewegung mehr. (I, 95/96) "Mitbewegung", "begleitende Stimme" zu werden, wird zur Blochschen Hoffnung einer möglichen "Allianztechnik", in der der Mensch sich mit der Natur versöhnend zusammenschließt. Vielleicht ist dies ein Traum nicht von dieser Welt. Anmerkungen [ 1 ] [ 2 ] [ 3 ] [ 4 ] [ 5 ] [ 6 ] [ 7 ] [ 8 ] [ 9 ] [ 10 ] [ 11 ] [ 12 ] [ 13 ] [ 14 ] [ 15 ] [ 16 ] [ 17 ] [ 18 ] [ 19 ] [ 20 ] [ 21 ] [ 22 ] [ 23 ] [ 24 ] [ 25 ] [ 26 ] [ 27 ] |